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Da standen wir zu dritt, am Fuß der kleinen Anhöhe, auf der sich die Villa meines Onkels befand (ich nannte sie Julian gegenüber weiterhin »Villa Mystica«, um noch etwas in unserem gemeinsamen Abenteuer mit Agent C zu bleiben). Vor uns breitete sich ein hügeliges Mosaik aus Weinbergen, Wäldchen und vereinzelten Flecken Ackerland aus, dazwischen immer mal wieder ein Dorf mit Kirche.
Valerie hob die Hand an die Stirn, um ihre Augen vor der blendenden Sonne zu schützen. Wie sie so dastand in ihrem enganliegenden schwarzen Sommerkleid mit den bunten Blumen, die Füße mit den rotlackierten Zehennägeln in filigranen hautfarbenen Sandalen, wirkte sie ein bisschen wie eine Japanerin. Das Haar trug sie zu einem strengen Pferdeschwanz zusammengebunden, eine Strähne jedoch hatte sich gelöst und bewegte sich nun in der leichten Brise.
Sie sah wunderschön aus im rötlichen
Abendlicht. Sie betrachtete die Landschaft, und ich betrachtete sie, wie sie die Landschaft betrachtete. »Was für ein traumhafter Blick«, sagte sie.
»Ja«, bestätigte ich lächelnd und sah sie weiterhin an, was sie schließlich bemerkte, und dann lächelte auch sie, wie nur sie lächeln konnte. Sie schüttelte den Kopf, strich sich mit ihrem schmalen Zeigefinger die Strähne aus dem Gesicht und sagte: »Du …«
Ihr Gesicht wurde plötzlich ernst. »Auch wenn es nicht leicht für dich ist«, begann sie, brach aber gleich wieder ab, nahm einen neuen Anlauf und meinte: »Ich wünschte mir, die Umstände wären schöner, aber ich freue mich trotzdem auf diese Tage mit dir.«
Ich wusste nicht so recht, was ich darauf antworten sollte, und checkte reflexartig mein Handy. Ich sah gleich, dass sich zu viele Nachrichten angesammelt hatten, um mich augenblicklich darum kümmern zu können. Im Übrigen hatte ich ohnehin keinen Empfang hier draußen. Ich steckte das Handy weg.
Valerie hatte sich wieder der Aussicht zugewandt. Vor uns stand die Sonne nun tief am Horizont wie eine leuchtende Orange. Es musste schon ziemlich spät sein, trotzdem war es noch subtropisch warm.
Ich stellte mich dichter neben meine Frau und war versucht, meinen Arm um sie zu legen, aber ich war dermaßen verschwitzt, dass ich zögerte, und so blieb eine Lücke zwischen uns, die auch Valerie nicht schloss.
»Mama, ich hab Hunger …«
»Ja, komm«, sagte ich. »Lasst uns reingehen.«
Valerie sah zum schmiedeeisernen Tor hinüber. »Kommen wir überhaupt hinein?«
Ich folgte ihrem Blick. »Wenn er die Schlösser nicht ausgewechselt hat …«
Wir gingen über die rötlich-braune, staubige Erde auf das Tor zu. Ich hatte den Schlüsselbund bereits aus der Tasche gezogen. Aber das Tor war gar nicht abgeschlossen. Es quietschte in den Angeln, als ich es aufdrückte.
»Papa, guck mal!«, rief Julian aufgeregt. »Ein Trampolin!«
Das war erst später hinzugekommen. Mein Onkel hatte es für die Nachbarskinder gekauft. Ich hatte mich oft mit einem Buch daraufgelegt oder einfach bloß in den blauen Himmel geschaut …
Ich rannte hinter Julian her, der schon dabei war, auf das Trampolin zu klettern. Ich prüfte, ob das alte blauschwarze Ding noch sicher war. Es wippte nach wie vor einwandfrei, nur die Federn waren ein wenig verrostet.
»Papa, guck!«, rief Julian immer wieder. »Guck!«
»Ja, toll, Julian.« Ich lächelte ihm zu.
Eine Weile beobachtete ich selbstvergessen meinen hüpfenden Jungen. Dann sah ich umher.
Mich hatte jenes seltsame Gefühl erfasst, das ich von jedem einzelnen Besuch hier kannte, doch war ich inzwischen so lange nicht mehr da gewesen, dass ich es vergessen hatte. Sobald man das schmiedeeiserne Tor passiert hatte, war die Welt jenseits der hohen Steinmauer, die das Grundstück umgab, wie ausgeblendet. Was nicht lediglich daran lag, dass man hinter dieser Mauer und inmitten des dichten Pflanzenwuchses – bunte Blumen, Sträucher, Platanen, Apfelbäume, einige sehr hohe Tannen – nichts mehr von der Straße und der Außenwelt sah. Nein, auch sämtliche Geräusche, das Knirschen des Kieses, das Quietschen des Trampolins oder das Zwitschern der Vögel, schienen ausschließlich aus dem Garten zu kommen. Als wäre der Garten meines Onkels eine Welt für sich.
Valerie war auf dem Kiesweg zur Villa stehen geblieben und sah sich ebenfalls erstaunt um. »Wow«, sagte sie, als sähe sie das Grundstück zum ersten Mal. Ich lief ihr nach, und gemeinsam gingen wir auf das Haus zu.
Die Weinlandschaft, das Licht, der Duft von Blumen und Tannennadeln und Wald, dazu die
ungewöhnliche Wärme – ich hatte das Gefühl, als würde ein altes Ich in mir geweckt. Als würde mein Gehirn, um mit Valeries Science
-Artikel zu sprechen, in einen anderen Aktivitätsmodus übergehen, und ein früheres, jüngeres Selbst erwachte in mir, weil mein Gehirn wieder in jene Umgebung zurückversetzt worden war, in der es einst dieses Selbst hatte sein dürfen.
Ich betrachtete das Haus. Es wirkte heruntergekommen. Risse in den Wänden, überall blätterte der hellblaue Putz ab, und der gesamte untere Bereich des Herrenhauses war so stark von wildem Wein überwachsen, dass es den Eindruck erweckte, als sei die alte Villa ein weiterer lebender Organismus, der aus dem Garten emporwuchs.
Etwas in mir fragte sich, wo mein Onkel bloß blieb. Unter normalen Umständen wäre er mir oder uns längst entgegengeeilt, um diese Uhrzeit zweifellos mit einem Glas Wein oder Champagner in der Hand. Er hätte mich schon am Tor begrüßt und umarmt, wie eben ein Onkel seinen geliebten Neffen umarmt, der ihn viel zu selten besucht und auch schon bald wieder gehen muss. Seine kräftigen Arme hatten sich stets angefühlt, als würden sie mich für immer festhalten wollen. Und diese Arme und sein Blick und seine ungeteilte Zuwendung hatten mir immer das Gefühl gegeben,
für ihn der wichtigste Mensch auf der Welt zu sein.
Wo war er? Warum kam er nicht? Hilflos stand ich da und schwitzte vor mich hin. »Scheiße«, murmelte ich. Ich senkte den Blick und fuhr mir durchs Haar. Eigentlich wollte ich gar nichts sagen, trotzdem hörte ich mich murmeln: »Scheiße, Valentin. Wo bist du?«
Da spürte ich, wie Valerie meine Hand ergriff.