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Nachdem ich ein Dutzend Nachrichten und E-Mails beantwortet hatte, wanderte ich ziellos in der Villa umher, mal hierhin, mal dorthin, das Handy in der einen, das Weinglas in der anderen Hand. Von der Küche ging ich nach nebenan in den Vorratsraum, der bis auf ein paar auf dem Boden stehende Champagnerflaschen nahezu vollständig leergeräumt war.
Vom Vorratsraum gelangte man wiederum direkt in die Garage. Als ich die Tür öffnete, schlug mir sofort der penetrante Geruch von Motoröl entgegen. Ich knipste das Licht an, und laut knatternd flackerten die Neonröhren auf.
Vor mir stand Valentins schwarzer Porsche.
Die Fahrertür gab ihr vertrautes, helles Klacken von sich, und ich setzte mich einen Moment auf den schwarzen, stark verkratzten Ledersitz.
Seufzend stieg ich aus, warf die Wagentür zu und kehrte ins Herrenhaus zurück.
Hinten links im Wohnzimmer gab es eine
französische Flügeltür, die zum Türmchen mit Valentins kleiner Bibliothek führte. Ich musste kurz nach dem Lichtschalter suchen, und als ich ihn gefunden hatte, fiel mein Blick als Allererstes auf den antiken Ohrensessel mit grünem Samtbezug. Es war der Lieblingssessel meines Vaters gewesen, mein Onkel hatte ihn geerbt. Auf dem Boden daneben türmten sich Bücherstapel, von denen manche bis zur Armlehne des Sessels hochreichten, und ich fragte mich, welches Buch mein Onkel wohl zuletzt gelesen hatte, obwohl er meist mehrere parallel las.
Ich sah umher, auf die Bücher ringsum. Dann machte ich ein paar Schritte und stellte mich vor jenes Buchregal, auf dem Valentin sein eigenes Werk versammelt hatte, an die dreißig Bände.
Ich zog einen der Christopher
-Bände heraus und schlug ihn aufs Geratewohl auf. Steckte meine Nase hinein, sog mit geschlossenen Augen den Duft ein. Ein eher staubiges Bouquet, aber gut.
Als ich weiterblätterte, stieß ich plötzlich auf ein vergilbtes Foto: Überrascht erkannte ich Bruno, Valentins geliebten Irish-Terrier-Mischling mit dem kurzen cognacfarbenen Fell, dazu diese typische stolz-freche Terrierschnauze.
Ach, Bruno … Ich hatte nie mehr an ihn gedacht, auch nicht, als ich zur Tür hereingekommen war.
Mit dem Foto in der Hand setzte ich mich in den Ohrensessel, in dem einst mein Vater mit so manchem Buch seines Bruders gesessen und gelesen hatte.
Ich blickte auf das Bild von Bruno und merkte, wie ich bei dem Gedanken an ihn lächeln musste.
Dabei hatten wir nicht gerade einen guten Start gehabt, Bruno und ich … Ich weiß noch, wie ich einmal stundenlang mit ihm in den Weinfeldern unterwegs war. Ich musste noch Student gewesen sein, Anfang zwanzig, und Bruno sprang immer weit voraus und hörte überhaupt nicht auf mich. Ständig war ich ihm hinterhergerannt, um ihn an die Leine zu nehmen, doch wich er mir immer wieder aus, und er war natürlich viel schneller als ich. Es war zum Verzweifeln!
Als wir wieder zurück im Garten waren und er immer noch nicht auf mich hörte, packte mich plötzlich ein solcher Zorn, dass ich mich auf ihn stürzte, ihn am Nackenfell griff und zu Boden drückte. Es war erbärmlich von mir, klar. Ich hatte damals keine Ahnung, wie man mit Hunden umgeht, und als mein Onkel mich sah, wie ich da auf dem armen, hilflosen Hund hockte, kam er auf uns zu und sagte:
»Komm, ich übernehme ihn mal.«
Obwohl Bruno auch ihm nicht gehorchte,
schien das meinen Onkel überhaupt nicht zu stören. Er nahm Bruno einfach mit und verschwand mit ihm ins Haus.
Etwas später kamen sie zurück, Bruno mit einem Knochen im Maul. Nach einer Weile – Bruno hatte sich ein schattiges Plätzchen unter einer Platane gesucht und knabberte selig an seinem Knochen – sagte mein Onkel: »Weißt du, aus dem wird nie ein Polizei-Schäferhund.« Dann erzählte er, wie er Bruno in einem Hundeheim entdeckt hatte, wo er in einem tristen, verrosteten Käfig hockte, mit einem Blick, als hätte man ihm die Seele gebrochen. »Natürlich könnten wir versuchen, ihm sein Wesen auszutreiben wie seine früheren Besitzer, und ein bisschen was würden wir sicher auch erreichen. Nur, was hätten wir davon? Am Ende bliebe etwas Entstelltes übrig, von uns zurechtgestutzt und zurechtgeprügelt. Viel von uns, wenig von ihm. Wollen wir das? Bedeutet Liebe nicht gerade, jemanden so anzunehmen, wie er vom Kern seines Wesens her ist?«
Ich saß im Gras und schämte mich für mein Verhalten. Trotzdem meinte ich, dass man ihn doch irgendwie erziehen müsse.
Woraufhin mein Onkel mit einer kleinen Geschichte antwortete.
Kürzlich hätte er für eine Lesung eine längere
Zugfahrt gemacht, und neben ihm hätte ein kleiner Junge mit seinen Eltern gesessen. »Die Fahrt ging über Stunden. Der Junge gab in der ganzen Zeit kaum einen Mucks von sich. Als wir ankamen, hielt ihm seine Mutter ein paar Gummibärchen hin. Die hätte er sich redlich verdient, weil er doch die ganze Fahrt über so ›brav‹ gewesen wäre. Da habe ich mich gefragt, was es eigentlich heißt, wenn ein Kind ›brav‹ ist. Heißt das, dass es uns nicht stört? Heißt ›brav‹ sein vor allem, dass wir unsere Ruhe haben können? Aber warum hat die Natur Kinder dann überhaupt erst so lebhaft und wenig ›brav‹ gemacht? Warum kommen wir dann nicht alle gleich als Erwachsene zur Welt, brav und vernünftig?«
Ich dachte über Valentins Worte nach. Und bald wurden wir dann doch noch Freunde, Bruno und ich. Schließlich übernachtete er sogar bei mir im Zimmer. Manchmal nahm er vor dem Einschlafen meine Hand sanft in sein feuchtes Maul und war binnen Sekunden weggedöst, meine Finger zwischen den Zähnen …
Obwohl Bruno mit den Jahren etwas ruhiger wurde – ein fügsamer Hund wurde er nie, und ironischerweise liebte ich gerade diesen frechen Zug an ihm, den er jedem gegenüber an den Tag legte. Ich wusste einfach: Bruno würde sich nie
unterbuttern lassen, niemals, von niemandem. Er würde klarkommen, was immer das Leben ihm auch zumutete, und ich liebte ihn, als der, der er war, für seine Stärke, seinen Eigensinn, für sein – wie mein Onkel immer sagte – »großes Herz«.
Als Bruno starb, war ich auf irgendeiner Wissenschaftskonferenz, weit weg, am anderen Ende der Welt.
*
Im Wohnzimmer holte ich meinen Laptop hervor, stellte ihn auf den langen Esstisch und versuchte, noch etwas zu arbeiten, kam aber nicht so richtig voran. Lustlos beantwortete ich weitere Mails, klappte jedoch bald den Laptop wieder zu und streifte erneut in der Villa umher.
Kein Laut war zu hören, außer dem Ticken einer Wanduhr und von weiter weg, kaum vernehmbar, dem Surren des Kühlschranks.
Unentschlossen ging ich zur Haustür, öffnete sie und setzte mich auf die oberste Treppenstufe, die immer noch warm war. Von da aus starrte ich in den dunklen Garten hinaus, in Gedanken wieder bei Bruno, als mir plötzlich eine merkwürdige Geschichte in den Sinn kam.
Sie handelte von einem Wolf, der ein Herrchen
hatte, weil dieser ihn aus unerfindlichen Gründen für einen Hund hielt. Tag für Tag verbrachte der Wolf eingesperrt in einer engen Wohnung. Seine scharfen, nervösen Sinne registrierten jedes Ticken, jedes Knistern, und wenn irgendwo im Gebäude ein Nachbar in seinen vier Wänden hin und her ging, drehten sich seine Ohren unwillkürlich zur Geräuschquelle – ein vollkommen nutzloser Reflex.
Jeden Tag dieses Warten, bis sein Herrchen nach Hause kam. Manchmal jagte der Wolf vor lauter Langeweile eine Spinne. Dann wieder schlich er vor den bodentiefen Fenstern auf und ab, unter sich ein Häusermeer und endlose Autoschlangen. Das Treiben einer Großstadt, das ein Wolf nicht verstand. Oder er umkreiste den Esstisch, Runde um Runde, bis er blind für das Umrundete wurde.
Endlich vertraute Schritte im Flur, die Tür öffnete sich, zwei Hände, die ihn an die Leine nahmen. Frische Luft, ein Spaziergang durch laute Straßen, über öde Bürgersteige und harten Asphalt.
Zurück in der Wohnung gab es dann, ohne Jagd und ohne Anstrengung, stets mehr als genug Futter.
Dem Wolf fehlte es scheinbar an nichts, innerlich jedoch fühlte er sich wie ausgehöhlt. Und so
drängte sich ihm mehr und mehr diese Frage auf: Sollte er bleiben, wo er aufgewachsen und beschützt war, sich aber ewig leer und fremd fühlen würde? Ließ er sich weiter in der allzu warmen Wohnung einsperren? Oder wagte er sich hinaus, irgendwohin in einen feucht-kühlen Wald, in die unbekannte freie Natur, die sein Lebensraum war, von dem er aber nicht wusste, ob er sich darin überhaupt zurechtfinden würde?
Ich stellte mir den Wolf vor wie Bruno, stolz und kräftig und irgendwie unkaputtbar …
Keine Ahnung, wie mein Kopf auf diesen Unsinn kam – statt dass ich die Ruhe nutzte, um zu arbeiten!
Ich stand auf und ging zurück ins Haus, die geschwungene Holztreppe hoch in den ersten Stock. Um Valerie und Julian nicht zu wecken, die sich links hinten in eins der Gästezimmer gelegt hatten, bezog ich das vordere Gästezimmer, in dem ich früher immer in den Semesterferien geschlafen hatte und wo »meine« alte Matratze an einen alten, bemalten Bauernschrank gelehnt stand. Als Nachttischlampe diente eine Art-déco-Schreibtischlampe, die ich liebte – groß, mit verchromtem Metallgestänge und einem geriffelten, matten Metallschirm. Früher hatte ich in ihrem Licht meine Seminararbeiten geschrieben, später dann auch die
eine oder andere misslungene Kurzgeschichte oder den Entwurf für einen Roman.
Ich las noch ein wenig in dem Christopher
-Band, den ich mir mitgenommen hatte, doch schon nach ein paar Seiten glitten meine Augen nur noch geistesabwesend über die Zeilen, und so knipste ich das Licht aus.
Zum Glück schlief ich bald ein.
Ich schlief ungewöhnlich tief und fest. Obwohl, ein- oder zweimal wachte ich kurz auf: Ich meinte, von irgendwoher Klaviermusik zu hören. Aber vielleicht hatte ich das auch bloß geträumt.