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Alles war still, als ich nach dem Aufwachen nach unten ging. Die Sommersonne schien blendend hell durch die französischen Fenster ins Wohnzimmer und brach sich in Myriaden von Staubteilchen, so dass man den Eindruck hatte, die Lichtstrahlen geradezu greifen zu können.
Ich blickte auf den Esstisch, und etwas in mir wollte nicht wahrhaben, dass Valentin nicht wie üblich da am Kopfende saß und auf seine Schreibmaschine einhämmerte. Kein Tastenklacken, kein »Guten Morgen, mein Lieber, setz dich doch zu mir und hilf mir ein bisschen, ich könnte etwas Inspiration gebrauchen. Hab dir auch einen Kaffee gemacht …«
Von oben hörte ich Stimmen, und ich rief die Treppe hinauf: »Ich geh einkaufen! Irgendwelche besonderen Wünsche?«
Die Antwort war Fußgetrappel, dann Julian: »Warte, Papa, ich komm mit!«
»Nein, Junge, das geht doch viel schneller, wenn
ich das allein mache«, sagte ich und ging in die Küche auf der Suche nach dem Autoschlüssel.
Während ich in den Schubladen kramte, schlangen sich plötzlich die Arme meiner Frau von hinten um mich, und ich schloss die Augen und genoss ihren Duft, diesen herrlichen Valerie-Duft. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, küsste mich und sagte leise: »Lass ihn doch mitgehen, es macht ihm doch Spaß …«
Als ich mich umdrehte und etwas antworten wollte, kam Julian auch schon in die Küche gerannt, und nachdem ich den Schlüssel endlich gefunden hatte, zogen wir zusammen los, Julian mit seinem kleinen grünen Dinosaurier-Rucksack (»für die Einkäufe«). Unser Junge sah schon ziemlich süß aus, und in dem Moment fragte ich mich, warum ich mich eigentlich dagegen gewehrt hatte, ihn mitzunehmen. Wer oder was hetzte mich eigentlich? Woher kam dieser Drang, jeden Moment bloß so schnell wie möglich hinter mich bringen zu müssen, nur, um zum nächsten Moment zu eilen, als würde dieser das große Glück für mich bereithalten? Was natürlich eine Illusion war, denn in diesem nächsten Augenblick würde ich ja wiederum nur – statt ihn auszukosten – den übernächsten herbeisehnen …
Wirklich, manchmal war ich so genervt von mir selber!
*
Es war ein strahlender Sommermorgen, der Himmel über uns war von einem magischen Blau wie das Blau des Herrenhauses. Wir fuhren durch die hügelige Weinlandschaft. Hin und wieder waren Sprinkleranlagen im Einsatz, die die Reben großzügig bewässerten. Julian saß auf einer kleinen Kindersitzerhöhung neben mir, auf seinem Schoß sein Rucksack, auf dem Rucksack seine Hände.
»Papa?«
»Hm?«
»Liest du mir mal eine Geschichte von Onkel Valentin vor?«
»Klar.«
»Hat er auch Detektivgeschichten geschrieben?«
»Detektivgeschichten? Glaub ich nicht. Obwohl er eigentlich lauter unterschiedliche Sachen geschrieben hat. Aber nur eins seiner Buchprojekte war wirklich erfolgreich.«
»Was für eins?«
»Eine Serie, mit immer derselben Hauptfigur.«
»Dann kannst du mir doch die Serie vorlesen! Ich mag Serien …«
»Ich weiß, du bist ein Serienspezialist.«
Julian lächelte selbstzufrieden.
»Jedenfalls«, erzählte ich weiter, »die Hauptfigur von Onkel Valentins Serie heißt Christopher.«
»Christopher? Und was macht er, Papa?«
»Gute Frage. In erster Linie ist er vor allem weise.« Pause. »Weißt du, was ein Weiser ist?«
»Mhm.«
»Wirklich? Was denn?«
»Na, jemand, der sich gut auskennt.«
»Das stimmt. Ein Weiser ist jemand, der klug ist. Klug, was das Leben betrifft.«
»Ich bin auch ziemlich klug.«
Ich sah zu ihm hinüber und lächelte. Ja, das bist du, lieber Junge, das bist du.
Wo war bloß der Supermarkt, zu dem Valentin und ich immer gefahren waren? Dort, wo ich ihn vermutet hatte, war nun jedenfalls eine Autowerkstatt, und so fuhren wir weiter.
»Papa, wenn ich groß bin, dann schreibe ich auch Bücher, mit lauter Geschichten. Die male ich dann auch. Oder ich male sie, und du schreibst sie auf.«
»Ganz genau. So machen wir das.«
»Wirklich, Papa?«
»Klar.«
»Papa, warum schreibst du eigentlich keine Geschichten?«
»Ich?« Ich schwieg und dachte nach, während
ich weiter nach einem Supermarkt Ausschau hielt. »Weißt du, früher habe ich mal versucht, ein Buch zu schreiben, aber … Na ja, wie es halt so ist. Dann habe ich die Firma von deinem Opa übernommen. Vom Geschichtenschreiben kann man ja auch nicht leben.«
»Aber Onkel Valentin schon.«
»Ja, der war eine Ausnahme.«
»Aber du erfindest doch auch immer Geschichten für mich. Damit könnte man doch bestimmt viel Geld verdienen! Papa, stimmt’s, wenn ich meine Geschichten schreibe und du deine, dann haben wir zusammen ganz viel Geld, oder?«
Ich lächelte.
Wir überholten einen Traktor, den Julian bestaunte.
Später: »Papa, weißt du, was? Ich finde, Geschichtenerfinden ist viel spannender als deine Arbeit. Die finde ich langweilig.«
»Langweilig? Wieso das denn?«
»Mamas Arbeit ist auch langweilig. Aber nicht so langweilig wie deine.«
»Hm.«
»Ja, weil in den Science
-Heften sind auch immer Bilder von Tieren drin …«
»Und wieso ist meine Arbeit so langweilig?«
Julian sah konzentriert aus dem Fenster. »Weil
du dann nie Zeit für mich hast«, sagte er und zuckte mit den kleinen Schultern. »Weil du dann nie mit mir spielen kannst. Und du hast mir schon so lange keine Quatschgeschichte mehr vorm Einschlafen erzählt.« Und wieder zuckte er mit seinen Schultern.
Ich schwieg.
Irgendwann sagte ich: »Wenn du willst, können wir uns ja jetzt eine Geschichte ausdenken.«
»Jetzt gleich?«
»Warum nicht?«
Und von da an waren wir nicht mehr Vater und Sohn, die im Wagen nach einem Supermarkt suchten, sondern wurden zu Kapitän Einauge und seinem Kumpel Barbarossa, zwei gefürchteten Piraten, die Proviant klauen mussten für eine Schiffsreise zu einer sagenumwobenen Schatzinsel irgendwo im Südpazifik …
Wir fanden dann zwar keinen Supermarkt – stießen aber irgendwann unverhofft auf einen Hofladen mit herrlichen lokalen Delikatessen im Innenhof, die von Kürbissen, Johannisbeergelee über marinierte Auberginen bis hin zu frittierten Zucchiniblüten reichten.
Als wir mit der Besitzerin des Ladens ins Gespräch kamen, stellte sich heraus, dass auch mein Onkel hier ein und aus gegangen war, und wir
bekamen eine Tüte Aprikosen geschenkt. Zum Abschied drückte mir die Besitzerin noch ein kleines Glas selbstgemachten Lavendelhonig in die Hand und sagte, mein Onkel hätte diesen Honig geliebt und sei manchmal nur deswegen vorbeigekommen, und ich bedankte mich mehrfach.
(Manchmal der Gedanke: Es gibt Menschen, die so herzensgut sind, dass es mich rührt. Oder täuschte ich mich da? Täuschte ich mich, wie die ältere Dame im Flugzeug sich womöglich in mir getäuscht hatte? Hatte am Ende vielleicht jeder noch so gut wirkende Mensch seine Abgründe?)
*
Den Rest des Tages verbrachte ich am Telefon, ließ mich von Michael auf den neuesten Stand bringen, überarbeitete noch einmal das Review (es war eine Art Überblick über die aktuellen pharmakologischen Strategien, den Alterungsprozess aufzuhalten) und schickte es ihm, woraufhin von ihm keine halbe Stunde später eine begeisterte Mail zurückkam, verbunden mit der Bitte um eine Telefonkonferenz mit unserem Labormanager Markus.
Erst als wir zu Ende konferiert hatten, biss ich endlich in den sauren Apfel und begann, Valentins Beerdigung zu organisieren.
Anschließend suchte ich noch ein paar Telefonnummern von örtlichen Maklern heraus, um eine Preiseinschätzung für die Villa einzuholen. Ich hielt es einfach für vernünftig, sie zu verkaufen. Nachdem dann allerdings keiner der Makler es für nötig zu halten schien, ans Telefon zu gehen, gab ich es für den Moment auf und zog mich eine Weile mit einem Kaffee in Valentins Arbeitszimmer zurück.
Dort setzte ich mich an seinen Schreibtisch und blätterte ein wenig in seinen Notizen. Biegsame, kleine rote Hefte, in die er ständig hineingekritzelt hatte. Ideen, Sätze, manchmal ganze Absätze oder Seiten, die ich so noch nie gelesen hatte und die mir doch vertraut vorkamen. Ich las an willkürlichen Stellen hinein, mit seiner Stimme im Ohr, und hatte mich bald festgelesen …
Es war wirklich fast, als wäre er bei mir.
*
»Nicolas, warum sind wir nicht öfter hierhergekommen?«, fragte Valerie, als wir abends zu zweit noch im Garten saßen. Sie war zu mir gekommen, hatte meinen Laptop zugeklappt, meinen halbherzigen Protest mit ihrer schmalen Hand weggewedelt. Gemeinsam hatten wir draußen einen kleinen
Metalltisch hinüber vor die alte Scheune getragen. Valerie hatte einen Lappen geholt, um die verdreckten Stühle abzuwischen, und ich eine Flasche Rosé in Valentins Champagnerkühler mit herausgebracht. Und dann saßen wir einfach da, in Valentins Garten, wo im Gebüsch die Grillen zirpten.
»Wie oft hat Julian deinen Onkel eigentlich gesehen?«
»Ich weiß nicht. Ein paar Mal. Oder?«
»Er erinnert sich kaum an ihn. Er erinnert sich auch nicht an diesen Ort.«
Ich nickte.
»Ihr hättet so einen Spaß gehabt mit euren Geschichten. Du und dein Onkel und Julian.«
Ich leerte mein Glas und schenkte mir nach. Valerie nippte nur, ihr Glas war noch fast voll. Sie sah nach oben in den Sternenhimmel, und ich sah im Licht der Sterne auf ihren Hals. Dann schüttelte sie langsam den Kopf und sagte leise: »Ich kann es immer noch nicht glauben …«
Das konnte ich auch nicht. Es war dunkel geworden, Fledermäuse kreisten über uns durch die warme Nachtluft. In der Küche brannte Licht, und ich fühlte mich auf seltsame Weise geborgen. Valentin konnte nicht tot sein. Nein, bestimmt würde er gleich aus der Tür treten, würde mit einer weiteren Flasche Wein und einer Käseplatte über
den Kies auf uns zukommen, und ich könnte einfach aufstehen und ihm Flasche und Platte abnehmen und das nachholen, was ich die letzten Jahre versäumt hatte. Ich würde ihm in die Augen sehen und sagen können, wie sehr ich mich freute, nach so langer Zeit wieder hier zu sein. Ich könnte ihn umarmen und ihm sagen, dass ich von nun an öfter kommen würde, sooft es eben ging, mit meiner Frau und meinem kleinen Jungen, weil er weiterhin zu den wichtigsten Menschen in meinem Leben gehörte.
Einige Gläser Rosé später sagte ich zu Valerie: »Julian meinte heute, er fände meine Arbeit langweilig. Ich solle lieber Geschichten erfinden wie Valentin.«
Valerie lachte. »Das tust du doch eh andauernd. Wenn du nicht gerade gestresst bist.« Dann sagte sie: »Erzähl mir doch eine.«
»Was? Eine Geschichte? Jetzt?« Ich überlegte. Grübelte eine Weile vor mich hin. Da fiel mir etwas ein, was ich am Nachmittag in einem von Valentins Notizbüchern entdeckt hatte. Es war eine Plot-Idee für einen Roman, und so begann ich zu erzählen:
Die Geschichte – ich schmückte sie ein bisschen aus – handelte von einem ehrgeizigen jungen Mann, der Schriftsteller werden wollte. Nach dem
Abitur gab er sich selbst ein Jahr. Wenn es nicht hinhauen würde, könnte er danach immer noch studieren. Er wohnte billig, lebte billig und nahm ausschließlich Jobs an, die ihm genügend Zeit fürs Schreiben ließen. Sogar auf eine Freundin verzichtete er, um sich nicht von seiner Aufgabe ablenken zu lassen.
Und er lernte immer besser, immer eleganter zu formulieren. Das Problem war bloß: Er wusste nicht, worüber er überhaupt schreiben sollte. Zuerst irritiert, dann zunehmend verzweifelt stellte er fest, dass es ihm an »Stoff« fehlte, an prägenden Erlebnissen, die sich verwerten ließen. Er schrieb und schrieb, aber was er schrieb, hatte keine Tiefe. Er ging in sich: Gab es denn da nichts, was ihm unter den Nägeln brannte? Verbissen schrieb er weiter, scheiterte jedoch stets aufs Neue, und irgendwann war das Jahr, das er sich gegeben hatte, um.
Also gab er seinen Traum auf. Enttäuscht. Überzeugt, dass er für die Schriftstellerei zu wenig Talent hatte. Nach dem Studium ergriff er einen Brotberuf, gründete eine Familie, hatte Frau und Kind. Zuweilen dachte er noch an seine Schreibversuche und an seinen unverwirklichten Traum, und er stellte sich jenes andere Leben vor, das er hätte leben können, wäre er nur etwas talentierter gewesen …
Immer öfter blitzte nun der Gedanke in ihm auf, ob er nicht doch noch einen Versuch wagen sollte. Einen letzten noch. Aber wie? Die äußeren Umstände für ein unsicheres Schriftstellerdasein waren denkbar schlecht. Er blickte auf einen ständig übervollen Terminkalender, die vielen Verpflichtungen, ein zweites Kind war bereits unterwegs. Und wie es sein großes Vorbild einmal formuliert hatte: Geschichten lassen sich nicht braten!
Gelegentlich träumte er auch von einer großen Villa, und dann war ihm, als könne er gar nicht genug verdienen. Dann empfand er es als seine Aufgabe als Ehemann und Vater, als seine »männliche Pflicht«, der Familie »etwas zu bieten«. Es war lächerlich, zumal die Familie nichts dergleichen von ihm erwartete. Das Einzige, was sie erwartete, war, dass er etwas mehr anwesend wäre. Zum Spielen, für Momente der Zärtlichkeit, Momente, in denen man einfach als Familie zusammen ist.
Schließlich jedoch, ziemlich unerwartet, inmitten der Rushhour seines Lebens, mit Beruf und Familie und Finanzsorgen, entwickelte sich in ihm – er spürte es – dann doch so etwas wie ein »Stoff«. Zum ersten Mal in seinem Leben war da etwas Mitteilungswürdiges, etwas von Bedeutung, das es wert war, festgehalten zu werden. Valentin hatte an der Stelle in seinem Notizbuch Goethe
zitiert: »Es bildet ein Talent sich in der Stille, sich ein Charakter in dem Strom der Welt.«
Und so setzte unser Held sich eines Nachts, als alle schliefen – mit einem mulmigen Gefühl, als täte er etwas Verbotenes – doch noch einmal hin. Setzte sich an seinen Laptop, und seine Finger fingen an zu tippen. Fortan verbrachte er jede Nacht mit dem Tippen von Sätzen, und bald stellte er fest, dass er sein Handwerk nicht verlernt hatte …
Woher rührte eigentlich dieser hartnäckige Drang zum Schreiben? Warum genügte ihm der Brotberuf nicht? Er gestand es sich selbst nicht gerne ein, doch schrieb er in erster Linie, weil er es seinem Vater beweisen wollte. Seinem Vater, der selbst gern Romancier geworden wäre, dem aber ebenfalls »das Leben« dazwischengekommen war.
Und natürlich hatte er seinem Vater als junger Mann seine Entwürfe gezeigt. Jedes Mal hatte er dabei die Enttäuschung des Vaters gespürt, nur schlecht kaschiert durch die eine oder andere Ermutigung.
Jetzt aber gelang es ihm tatsächlich. Die Worte strömten aus ihm heraus, und er schrieb unter Hochdruck seine Geschichte. Denn der Vater war inzwischen alt und vergesslich geworden, und die Vergesslichkeit schritt unerbittlich voran. Auf diese Weise schrieb sich der Held in Valentins
Notizbuch die Finger wund, mit der tickenden Uhr im Nacken …
Nach monatelanger Nachtarbeit war es so weit, und er ging voller Stolz und Begeisterung zu seinem Vater. Nach all den Jahren, nachdem er die Sache schon aufgegeben hatte, nachdem er sich schon damit abgefunden hatte, dass es ihm – wie seinem Vater – nicht gegeben war, sich seinen Lebenstraum zu erfüllen, war ihm das Unwahrscheinliche doch noch gelungen. Ihm war, als würde ihm eine generationenschwere Last von den Schultern fallen.
Der Vater sah abwechselnd auf den Sohn, dann wieder auf den Papierstapel in seinen faltigen Händen, verwirrt, entgeistert. Die Leere in seinen Augen war unverkennbar: Der Mann, dessen Respekt und Liebe sich unser Held hatte herbeischreiben wollen, war nicht mehr da. Die Demenz hatte sein Ich zerfressen.
Zunächst war dies ein harter Schlag für den Sohn. Mit der Zeit jedoch änderte sich etwas, und schließlich fand er sogar seinen Frieden damit: Es war, als wäre der Vater ein Teil von ihm geworden, womit dieser auch das Glück, das er doch noch gefunden hatte, irgendwie fühlen und mit ihm teilen konnte.
Der Mann erlebte nun auch, wie sein eigener Sohn heranwuchs, und erfuhr, was es hieß, Vater zu sein. Und obwohl es für ihn selbstverständlich ein
großes Glück gewesen wäre, miterleben zu dürfen, wie sich sein Sohn den eigenen Lebenstraum erfüllte, wurde ihm klar, dass es darauf nicht ankam. Nein, für ihn als Vater kam es darauf an, seinen Sohn mit jenem Rüstzeug auszustatten, das dieser brauchte, um eines Tages seinen eigenen Traum zu realisieren und zu jenem Menschen zu werden, der er vom Kern seines Wesens her war – mit oder ohne den Vater als stolzen Zeugen.
Ich sah vorsichtig zu Valerie hinüber. Ich hatte sehr lange gesprochen und blickte sie fragend an.
Überrascht stellte ich fest, dass sie lächelte. Irgendwie schien sie ganz gerührt zu sein. »Nicolas, das ist ja eine echte Sommernachtsgeschichte«, sagte sie.
»Findest du?«
»Ja, finde ich.«
Ich sah in Valeries lächelndes Gesicht, und dann kam mir ein Satz aus einem alten Film namens True Romance
in den Sinn, den wir einmal gemeinsam in einem kleinen Kino gesehen hatten – in unserem früheren Leben, kurz nachdem wir zusammengezogen waren und bevor Julian auf die Welt kam: »You’re so cool, you’re so cool …« Die Schauspielerin Patricia Arquette wiederholt den Satz in der ultimativ kitschigen Schlussszene des Films immer wieder, während sie am Pazifik entlang dem Sonnenuntergang
Mexikos und mit großer Hoffnung im Herzen einem neuen, besseren Leben entgegenfährt … You’re so cool: Es war der perfekte Ausdruck meiner Verliebtheit gewesen, und ich hatte ihn eine Zeitlang immer und immer wieder zu Valerie gesagt.
Wann und warum nur hatte ich damit aufgehört?
Irgendwann fragte Valerie: »Hat dein Onkel nie ein Buch aus der Geschichte gemacht?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Warum schreibst du die Geschichte nicht?«
Ich lachte.
»Du lachst. Wieso lachst du? Wer könnte es, wenn nicht du, Nicolas?«
»Ja, klar«, winkte ich ab.
»Es ist ja schon ein bisschen unheimlich«, sagte sie dann.
»Unheimlich? Wieso?«
»Weil dein Vater doch an Alzheimer gestorben ist, und so klingt es fast, als hätte Valentin es seinem großen Bruder beweisen wollen. Oder?«
»Nein, aber mein Großvater hatte auch Demenz.«
»Wirklich?«
»Hm, ebenfalls Alzheimer, wie man vermutet. Deshalb ist mein Vater überhaupt erst in diese Richtung gegangen mit der Firma.«
»Was? Und dein Großvater war dann auch der verhinderte Schriftsteller?«
Ich nickte.
»Damit hätte dein Großvater das Leben seiner beiden Söhne ja ganz schön geprägt.«
»Hm«, entgegnete ich nachdenklich. So hatte ich es noch gar nicht betrachtet, aber es stimmte natürlich: Mein Vater war seinetwegen in die Alzheimer-Forschung gegangen, mein Onkel war seinetwegen Schriftsteller geworden.
»Auch irgendwie unheimlich, oder?«
»Unheimlich? Was meinst du damit?«
»Einfach, wie viel Macht andere Menschen über uns haben. Wie sie unsere Gefühle bestimmen können. Wie sie unser ganzes Leben prägen und beeinflussen, was aus uns wird.«
Ich grübelte über ihre Worte nach.
Nach einer Weile nahm Valerie ihren leichten beigen Schal von der Stuhllehne und stand auf. »Tja, ich geh dann mal schlafen«, sagte sie unvermittelt und sah mich einen Moment fragend an, bevor sie sich abwandte.
In dem Augenblick war es, als hätte sie sämtliche Sterne über uns ausgeknipst. Die Magie der Sommernacht war dahin.
Vielleicht wollte ich diese Magie noch einen Moment festhalten, womöglich erhoffte ich mir auch,
vom Gespräch ermutigt, vom Rosé beflügelt, mehr von dieser Nacht. Oder ich fürchtete schlicht die Rückkehr in jene Routine, die sich zwischen uns eingenistet hatte, jedenfalls rief ich ihr nach:
Ȇbrigens, coole Geschichte in Science
.«
Da drehte sie sich noch einmal um.
»Der Artikel über die Träume, meine ich. Wirklich gut.«
»Ach, den hast du gesehen, ja?«, sagte sie leise und ging langsam und ohne ein weiteres Wort ins Haus.
Und ich hatte wieder mal keine Ahnung, was ich falsch gemacht hatte.
Später ging ich dann auch hinein, legte mich auf meine Matratze im vorderen Gästezimmer, wo ich noch länger lag und vor mich hin brütete. Lauter wirres Zeugs ging mir durch den Kopf, bis ich endlich einschlief.
Mitten in der Nacht weckte mich jedoch erneut ein Geräusch – ein fernes, unregelmäßiges Klappern, das mich zunehmend nervte.