10
»Nicolas? Guten Morgen …« Ich hätte gar nicht sagen können, wann Valerie mich zuletzt geweckt hatte. Normalerweise war ich immer vor ihr auf. »Na, Langschläfer, kann es sein, dass gestern Abend jemand ein Glas Rosé zu viel hatte?«
Valerie stand lächelnd in einem gelbweiß gestreif‌ten Sommerkleid mit tiefem V-Ausschnitt vor meiner Matratze. Ihr Haar war nass, ihr Körper duftete nach ihrem Parfum. Dann ging sie aus dem Zimmer.
Eine Weile danach – ich musste noch einmal weggedöst sein – stürmte Julian herein:
»Papa! Es ist schon ganz spät!«
»Was? Wirklich?«, murmelte ich schlaf‌trunken, mit maximal einer Hirnhälfte.
Julian, Jeans, blaues Dino-T-Shirt, war auf meine Matratze gehüpft und begann nun, darauf herumzuspringen. »Ja, du hast den ganzen Morgen geschlafen. Mama und ich haben schon Pfannkuchen gemacht, und ich habe sie alle aufgegessen. Mit ganz viel Apfelmus. Mama hat gesagt, ich darf so viel Apfelmus essen, wie ich will.«
»Julian, bitte«, stöhnte ich. »Das ist doch kein Trampolin hier.«
Julian hüpf‌te von der Matratze herunter und rannte aus dem Zimmer.
Ich versuchte aufzustehen, aber mein Körper fühlte sich so schwer und träge an, dass ich doch noch einen Moment liegen blieb. Hatte ich wirklich so viel getrunken? Oder warum fühlte ich mich so gerädert?
Dann, mit einem Mal, tauchten die Bilder der Nacht in mir auf, Bilder von der Bibliothek und dem flackernden Kerzenlicht, von dem schwarzglänzenden Flügel und den Champagnerschalen, und mir war, als könnte ich Christophers Stimme hören …
Benommen wankte ich hinaus auf den Flur, wo Julian mit seinem Rucksack herumtobte. »Papa, du musst dich anziehen, wir machen einen Ausflug!« Und er flitzte die Treppe hinunter.
»Ich komm ja schon«, murmelte ich ihm hinterher.
Ich tappte den Flur entlang, und immer noch nicht ganz wach ging ich durch den Durchgang hinüber in den Scheunenanbau, wo ich die Wände inspizierte, auf der Suche nach jener Stelle, an der ich in die verborgene Bibliothek eingetreten sein musste.
Da war nichts!
Ich öffnete sogar eine Tür, von der ich genau wusste, dass sich dahinter nichts weiter als eine Rumpelkammer verbarg.
Ich kam mir reichlich bescheuert vor. Ich schüttelte den Kopf. Ich stand da in T-Shirt und Boxershorts und hätte über mich selbst lachen können, wäre es nicht so peinlich gewesen.
*
Unten in der Küche brühte ich mir einen starken Kaffee. Julian wartete schon ungeduldig darauf, mir meine »Vitamine« zu verabreichen. Ich nahm morgens immer einen kleinen Cocktail diverser Substanzen zu mir, die sich hoffentlich günstig auf den Alterungsprozess auswirkten (im Grunde genommen waren es die Substanzen, die wir bei unserem Methusalem-Projekt zu einer einzigen Pille zusammengefügt hatten). Mit seinen kleinen Fingern pulte Julian die sieben weißen Tabletten aus ihren Blistern. »Genau sieben, Papa.«
Ich ging in die Knie, öffnete den Mund, und Julian warf die Pillen hinein, ein bisschen, wie ein Basketballspieler seinen Ball in den Korb wirft, es machte ihm sichtlich Spaß. »Julian«, nuschelte ich mit pillengefülltem Mund, »nicht so wild.«
Er kicherte und rannte nach getaner Arbeit in den Garten.
Ich rieb mir mit Daumen und Zeigefinger über die Stirn.
»Hast du Kopfschmerzen?« Valerie war in die Küche gekommen und fing an, Obst in kleine Stücke zu schneiden, die sie in eine Plastikbox füllte.
»Ich … ich hatte einen merkwürdigen Traum.« Und ja, ich hatte tatsächlich Kopfschmerzen.
»Hm, vermutlich vom Wein beflügelt«, lächelte Valerie. »Was hast du denn Wildes geträumt?«
Ich zögerte. »Ja, wenn ich das so genau wüsste …«
Ich traute mich nicht, ihr von Christopher und der Bibliothek zu erzählen. Vielleicht weil mir alles so unheimlich real vorgekommen war.
*
Wir fuhren durch die Weindörfer der Umgebung. Auf Julians wiederholte Bitten hin hatten wir Valentins Porsche genommen, inzwischen ein Oldtimer. Der alte Wagen lief noch überraschend rund. Mit seinem Ölgestank (Valerie rümpf‌te die Nase) kam er mir allerdings vor wie ein Relikt aus einer anderen Zeit.
Dennoch, irgendwann, als wir so dahinfuhren, merkte ich, wie ich grinste, und manchmal sah ich mich selbst, wie ich damals mit meinem Onkel diese erste Fahrt zur Villa gemacht hatte. Wie ich wegen dieser Katharina gelitten hatte, an die ich mich heute kaum noch erinnerte. Und einmal mehr war mir mein Onkel so nah. Seltsamerweise fühlte es sich für mich immer noch so an, als gäbe es ihn irgendwo, als wäre er bei mir, als müsste ich bloß zurück zum Grundstück fahren, und da wäre er dann …
Wir fuhren von Weindorf zu Weindorf.
Am Ende hatten wir ein halbes Dutzend Dörfer abgeklappert. Valerie und Julian machten sich einen Spaß daraus, in jedem Dorf ein riesiges Eis zu essen. Das Obst in der Box hingegen musste zu keinem Zeitpunkt befürchten, von Julian auch nur angerührt zu werden, und so pickte halt ich irgendwann ein paar Stückchen heraus.
»Sag mal, Julian, wird dir nicht langsam schlecht von dem ganzen Eis?«, fragte ich irritiert, während ich an einem Apfelschnitz kaute.
Er sah mich an, als hätte ich die dämlichste Frage der Welt gestellt. »Nö, davon wird mir gut!«, sagte er und grinste mit schokoladenverschmiertem Mund. Und schleckte summend weiter.
Später schlenderten wir durch die Gassen eines weiteren hübschen Weindorfs und landeten in einem kleinen Antiquariat, in dem sich die Bücher vom Boden bis zur Decke stapelten.
Julian blätterte in einem Bilderbuch und fragte plötzlich, ob es hier auch Bücher von Onkel Valentin gäbe. Der Antiquar sah für uns im Computer nach:
Weynbach, Valentin  – kein Buch da. Ließe sich aber bestellen.
»Wir wollen ein Buch mit Christopher!«, rief Julian begeistert.
»Nein, die haben wir doch alle zu Hause, Julian«, sagte ich und sah den Antiquar entschuldigend an.
Wir zogen schließlich mit einem alten Märchenbuch ab, das Julian ausgesucht hatte, weil auf dem Umschlag eine schlossartige Zaubervilla abgebildet war, die es ihm angetan hatte. »Ein bisschen wie die Villa Mystica, aber nicht ganz«, sagte er. »Die Villa Mystica gefällt mir noch besser.«
Valerie hatte sich in ein Geschäft für Kinderbekleidung verabschiedet. Ich ließ Julian bei ihr und stahl mich davon, um auf meinem Handy wenigstens ein paar Mails zu beantworten. Anschließend telefonierte ich nochmals mit dem Bestattungsunternehmen und mit dem Notar, der Valentins Nachlass regelte.
*
Auf dem Rückweg, alle erschöpft vom Nichtstun, war Julian hinten im Wagen eingeschlafen.
»Valerie?«
»Hm?«
Ich stockte. Nach einer Weile fragte ich: »Was ist für dich das Wichtigste im Leben?«
»Für mich?« Sie musste keinen Augenblick überlegen. »Familie«, sagte sie.
»Familie.«
»Ja, Familie. Das Glück mit den Menschen, die ich liebe.« Pause. »Und für dich?«
Ich überlegte.
»Wie kommst du überhaupt auf die Frage?«
»Ach, nur so«, antwortete ich ausweichend. »Wegen Valentin und so.«
»Hm.«
»Ich meine, wenn man später im Leben zurückblickt und sich fragt, womit man gerne mehr Zeit verbracht hätte – was wäre das dann?«
»Mehr Zeit wie diese, Nicolas. Mehr gemeinsame Zeit.« Wieder schien sie keine Minute nachdenken zu müssen. »Mehr Zeit wie heute.«
Ich sah zu ihr hinüber. Wir hatten das Targa-Dach heruntergenommen, und der warme Fahrtwind wehte durch ihr dunkelblondes Haar.
»Gut, aber, wenn ich zum Beispiel in der Firma bin, dann ist das ja in gewisser Weise auch Zeit für die Familie.«
»Wie bitte?« Valerie strich sich eine Strähne aus dem Gesicht.
»Man kann doch das Leben nur genießen, wenn man finanziell abgesichert ist«, sagte ich.
»Ach, Nicolas, du betonst das immer so, aber glaubst du das wirklich?«
»Was?«
»Als würdest du nur für uns den ganzen Tag in der Firma verbringen. Als würden wir von dir erwarten, dass du sechzig Stunden die Woche arbeitest. Glaubst du das tatsächlich? Ich verdiene doch auch mein Geld. Es muss irgendein komisches Männerding sein, ich verstehe es jedenfalls nicht …«
Sie war offenbar irritiert.
»Ich weiß ja auch, dass du es gut meinst. Trotzdem frage ich mich manchmal, woher diese fixe Idee kommt.«
»Fixe Idee, was soll das heißen?«
»Uns versorgen zu müssen. Keiner verlangt das von dir, Nicolas. Im Gegenteil, ich denke oft, wir hätten alle drei mehr davon, wenn du einfach nur etwas mehr Zeit für uns hättest und nicht immer diesen Stress und Ärger mit der Firma. Du verpasst so viel, und du merkst es gar nicht.«
Ich erschrak, nicht über das, was sie sagte, sondern weil ihre Stimme plötzlich eigenartig brüchig klang. Es versetzte mir einen Stich, als ich zu ihr hinüberblickte und Tränen in ihren Augen schimmern sah.
»Valerie …«, sagte ich leise und sah immer wieder zu ihr hinüber. Hilf‌los legte ich meine Hand auf ihre schmale Schulter. »Es tut mir leid. Ich will dich nicht traurig machen. Das ist das Letzte, was ich will.«
»Das weiß ich doch«, flüsterte sie.
Eine Weile war es still im Auto, abgesehen vom Röhren des Boxermotors.
Etwas später sagte Valerie: »Übrigens wollte ich neulich nicht so unfreundlich sein, als du mich auf meinen Artikel angesprochen hast. Aber … weißt du, es geht bei dir immer nur um die Firma. Um Michael und die Methusalem-Studie, immer nur um das. Darum, dass du arbeiten musst, um die Firma zu sichern. Damit wir ›versorgt‹ sind. Als hätte ich gar keine Arbeit. Es ist, als würdest du meine Arbeit gar nicht wahrnehmen! Nein, deine Arbeit, immer bloß deine Arbeit, das ist alles, was zählt …« Sie wischte sich entschlossen die Tränen aus dem Gesicht.
Nach einer längeren Pause fragte sie schniefend: »Und? Was ist denn nun für dich das Wichtigste im Leben?«
Dass ich darauf nicht sofort eine Antwort wusste, war für sie Antwort genug, und so schwiegen wir für den Rest der Fahrt.
*
An diesem Abend war ich für meine Verhältnisse ungewöhnlich früh bettreif. Zunächst hatte ich mich wieder alleine auf meine Matratze gelegt, war dann aber doch noch einmal aufgestanden und hatte mich leise in Valeries und Julians Zimmer geschlichen.
Zu meiner Überraschung waren die beiden noch wach. Ich legte mich zu ihnen, und dann erzählten wir zu dritt eine Geschichte, das heißt, ich sollte eine Quatschgeschichte erzählen.
Julian hatte eine Hand in Valeries, die andere in meine Hand gelegt, und er spielte mit meinen Fingern, während ich erzählte.
»Papa«, fragte er, als ich fertig war. »Liest du mir morgen aus dem Märchenbuch vor?« Ich versprach es, wenn er jetzt die Augen schließen und schlafen würde.
Ich lag dann doch noch länger wach. Im Kopf ging ich das Gespräch mit Valerie nochmals durch, wobei es mich natürlich frustrierte, dass sie unzufrieden mit mir war. Am meisten aber frustrierte mich, dass sie wahrscheinlich sogar recht hatte …
Warum war ich so, wie ich war?
Wie war ich bloß so geworden?