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»Junge, pass auf, wie wär’s, wenn wir ein bisschen Rechnen üben«, schlug ich vor.
Keine Antwort.
Also versuchte ich es mit einer Geschichte über einen Priester Maximus, der im Mittelalter lebte und der Ritter Julian den Schwertkampf, das Reiten sowie das Rechnen beibringen würde.
»Priester Maximus?«
»Ganz genau.«
»Und der lebt in einer Burg?«
»Einer riesigen.«
»Und wie kommen wir dahin, Papa?«
»Wir steigen in unsere Zeitmaschine.«
»Wirklich?«
»Klar«, sagte ich.
Auf diese Weise verwandelte sich die Villa kurzerhand in eine mittelalterliche Burg, in deren Innenhof wir uns aus Stöcken zwei Holzschwerter bastelten, und dann verbrachten wir den Vormittag zunächst mit Schwertkampf.
Dieser Teil der Ausbildung kam bei Julian gut an.
Der Reiten-Teil auch, vor allem, als ich das Pferd spielte. Julian feuerte mich an, jagte sein Ross durch die Burg, die geschwungene Treppe hinauf und durch den Flur, hinüber in den alten Scheunenanbau, vorbei an schnarchenden Drachen und Schlossgeistern. Dann von dort die geheime Wendeltreppe hinab zur Vorratskammer, im Galopp weiter zur Küche und über die Eingangshalle hinaus in den Zauberwald – bis das Pferd außer Atem war und eine Trinkpause brauchte …
»Papa, das ist doch kein Wasser, das ist Wein!«, protestierte Julian kurz darauf. Wir standen in der Küche.
»Na und, den gab’s doch auch im Mittelalter.«
»Wirklich?«
»Wirklich.«
Erst als wir zum Rechnen-Teil kamen, war für Julian die Luft aus dem Spiel: »Papa … Darf ich einen Film gucken?«
»Einen Film? Im Mittelalter?«
»Nein, ich meine jetzt wirklich, Papa.«
»Junge, schau mal, Rechnen ist schon auch wichtig, weißt du? Das wirst du später mal gut brauchen können. Also, pass auf, Ritter Julian, wir machen ein, zwei kleine Übungen, dann darfst du deinen Film gucken, okay?«
»Papa, ich bin nicht Ritter Julian!«
»Was? Wer bist du denn dann?«
»Julian, einfach nur Julian. Und du bist mein Vater, nicht Priester Maximus, Papa …«
Er ließ sich zwar nur widerwillig überzeugen, sich mit mir an den Esstisch zu setzen, mit dem lockenden Film im Kopf aber klappte es, und so machten wir noch ein paar Rechenübungen. Bis Valerie vorbeikam und mir ins Ohr flüsterte: »Nicolas, jetzt lass doch mal gut sein. Genieß doch einfach mal das bisschen Zeit, das du mit ihm hast …«
*
Später am Tag – ich hatte in der Zwischenzeit einen mehrstündigen Termin mit dem Bestattungsunternehmen hinter mich gebracht – ging ich mit Julian zu Valerie in den Garten. Sie lag mit ihrem Laptop auf einer Decke im Gras. Julian stellte ihr einen Latte Macchiato hin, den wir zusammen gemacht hatten und über den sie sich sichtlich freute. Mit dem neu erworbenen Märchenbuch setzte ich mich im Schneidersitz neben sie, legte das Buch in meinen Schoß, und Julian kuschelte sich zu seiner Mutter auf der Decke. Ich las vor.
Vom wunschlos unglücklichen Manne
Es war einmal ein Mann, der besuchte einen Jahrmarkt. Dort entdeckte er ein dunkles Zelt. Davor stand ein Holzschild mit folgender Aufschrift:
ZELT DER WÜNSCHE
TRETEN SIE EIN
Von außen konnte man nicht sehen, was sich im Innern des Zeltes verbarg, das lediglich einen Spaltbreit offenstand. Ganz geheuer war es dem Manne nicht, aber von Neugierde getrieben, trat er hinein.
»Ah, ein Kunde. Willkommen«, hörte er eine Stimme sagen, die wie das Kratzen einer Gabel auf Glas klang. Als sich seine Augen an das Dunkel im Zelt gewöhnt hatten, erkannte der Mann eine Gestalt. Deren Gesicht war fast vollständig unter einer großen schwarzen Kapuze verborgen. »Was führt Sie zu mir, gnädiger Herr? Womit kann ich dienen?«
»Worin besteht denn Ihr Geschäft?«
»Mein Geschäft liegt in der Erfüllung von Wünschen.«
»Wie darf ich das verstehen?«
»Haben Sie etwa keine Wünsche, gnädiger Herr? Sind Sie wunschlos glücklich?«
Der Mann überlegte kurz. »O doch, sicher, ich habe durchaus Wünsche …«
»Ob mir der werte Herr wohl einen davon verraten würde?«
Wieder dachte der Mann einen Augenblick nach. »Wenn ich’s mir überlege, etwas mehr Geld wäre mir recht.«
»Geld? Das dürfte kein Problem sein. Ich kann Sie so reich machen wie den König von Frankreich. Dafür verlange ich auch nicht mehr als, sagen wir, Ihr Lächeln.«
Der Mann meinte, sich verhört zu haben. »Mein Lächeln?«
»Nun, ich bin Händler. Ich biete Ihnen unermesslichen Reichtum zum geringen Preis Ihres Lächelns.«
»Mein Lächeln …«
»Ganz richtig, der Herr. So hat jeder seine Wünsche. Sie sehnen sich nach Reichtum, ich sehne mich nach der Fähigkeit zu lächeln. Es ist das, was mir fehlt.«
Merkwürdig, dachte der Mann. Aber gut – warum nicht? Im Tausch gegen unermesslichen Reichtum würde er wohl auf sein Lächeln verzichten können. Einen Augenblick
zögerte der Mann noch, dann sagte er beherzt: »Also gut!«
Und so geschah’s, und der Mann verließ das Zelt und den Jahrmarkt und kehrte – nunmehr ohne Lächeln auf dem Gesicht – nach Hause zurück.
Nicht ohne Staunen stellte er fest, dass sich sein bescheidenes Heim in eine prachtvolle Villa verwandelt hatte. Und darin gab es Dutzende von Truhen voller Goldstücke, und der Keller war mit erlesenem Wein gefüllt. Und der Mann erfreute sich seines Reichtums, auch wenn ihm dieser freilich kein Lächeln mehr auf die Lippen zu zaubern vermochte.
So wunderte sich denn auch so manch neidischer Besucher, beeindruckt von dem unverhofften Geldsegen, und man fragte ihn: »Ja, freust du dich denn gar nicht ob deines Reichtums und des köstlichen Weins?« Und der Mann antwortete: »Gewiss doch.« Hielt jedoch sogleich inne, denn das geheimnisvolle Zelt mit der geheimnisvollen Gestalt, die ihm jeden Wunsch erfüllen konnte, sollte sein wohlgehütetes Geheimnis bleiben: Was wäre sein Gold noch wert, wäre es für jedermann zu haben, billig wie Staub und Stein?
Ein Jahr verging, der Mann gewöhnte sich an seinen Reichtum und spürte allmählich eine neue Unzufriedenheit in sich aufkeimen. Und so trieb es ihn, als der Jahrmarkt wieder in die Stadt kam, ein zweites Mal in das Zelt des wunderlichen Händlers.
»Ah, willkommen, gnädiger Herr. Was führt Sie diesmal zu mir? Gehe ich recht in der Annahme, dass es sich um einen neuen Wunsch handelt?«
»Nun ja«, erwiderte der Mann. »Eine Prachtvilla mit Goldschätzen und Wein habe ich bereits. Doch fehlt mir die Gesellschaft, mit der ich dieses Glück teilen könnte. Mir fehlt eine Frau an meiner Seite. Wahrlich, eine Gemahlin würde mein Glück vollenden!«
»Aber sicher doch, der Herr, kein Problem. Für Ihren Augenglanz erhalten Sie die schönste Gemahlin, die die Welt je erblickt hat.«
»Für meinen Augenglanz?« Konnte das etwa ernst gemeint sein?
Der Händler jedoch meinte es freilich todernst: »Ich sehe es oft in den Augen der Menschen, allen voran der Kinder. In den besten Augenblicken fangen sie an zu funkeln und zu glänzen, und das ist es, was mir fehlt.«
Also gut, dachte der Mann, wohlan! Und diesmal wurde der Pakt mit Handschlag besiegelt. Der Mann zuckte zurück, als die hagere Hand des Händlers die seine ergriff, denn jene war von einer Eiseskälte, wie er sie noch nicht gespürt hatte.
Als der Mann diesmal nach Hause zurückkehrte, öffnete ihm wie durch ein Wunder eine bildschöne Frau die Tür. Und er lebte mit ihr und betete sie an. Allerdings war ihm dabei, als würde seine Gemahlin ihn nicht ganz so vergöttern wie er umgekehrt sie. Lag es daran, dass er nicht so gutaussehend war wie sie? Sobald sie ihm in die Augen blickte, wandte sie sich gleich wieder von ihm ab wie von einem hässlichen Ungeheuer.
Ein Jahr musste er die Ungewissheit darüber ertragen, bis erneut Jahrmarkt in der Stadt war. Diesmal äußerte der Mann seinen Wunsch sofort:
»Machen Sie mich schön! Bitte, sagen Sie mir, was soll es kosten?«
»Ich gebe dir Schönheit für deine Fähigkeit zuzuhören.«
»Wie bitte?«
»Sei unbesorgt. Deine Ohren werden weiterhin jeden Ton vernehmen können – nur das
Zuhören wird dir fortan verwehrt bleiben. Das nämlich ist eine Fähigkeit, die mir fehlt.«
»Meinetwegen, meinetwegen!«
Und abermals kehrte der Mann nach Hause zurück, ein großer, kräftiger, ein umwerfend gutaussehender Mann, der alle Blicke auf sich zog. Bis er mit den Menschen ins Gespräch kam und diese sich erschrocken von ihm abwandten, da ihr Gegenüber niemals lächelte. Und wenn sie in seine stumpfen Augen blickten, dann spiegelten diese nie auch nur einen Funken Begeisterung, dabei war es doch das, wonach sich die Menschen sehnten. Außerdem konnte dieser merkwürdige Mann noch nicht einmal zuhören!
Und so hatte er alles, der wohlbetuchte Mann, und ringsum bewunderte man ihn für seine prächtige Villa und seine bildschöne Frau. Aber Bewunderung und Zuneigung sind zweierlei. Und so hatte der Mann alles, und doch fehlte ihm das Entscheidende. Dies ist das Ende der Geschichte vom wunschlos unglücklichen Manne.
»Was? Das war’s?«, fragte Valerie ungläubig.
»Hä?«, sagte Julian.
Da saßen wir nun und konnten nicht fassen,
dass das »Märchen« so trostlos endete. Zu allem Überfluss hatte der Autor am Schluss noch eine Ermahnung an den Leser hinzugefügt: »Sei immer vorsichtig mit deinen Wünschen, denn sie könnten in Erfüllung gehen.«
Ich saß immer noch im Schneidersitz im Gras, das Märchenbuch aufgeklappt auf den Knien, Valerie lag auf der Decke, Julian hüpfte umher. Wir begannen, uns unser eigenes Alternativende für das Märchen auszudenken.
»Ich weiß es!«, rief Julian plötzlich. »Er kann doch einfach noch mal ins Zelt gehen und sich alles zurückwünschen? Dann ist alles wieder wie früher. Ganz einfach.«
Ich war mir nicht sicher, ob der Händler sich darauf einlassen würde.
»Warum nicht? Ist doch ganz einfach …«
Und während wir, Julian und ich, darüber diskutierten, ob dies überhaupt den stillschweigenden Spielregeln des Märchens entsprechen würde, unterbrach uns Valerie: »Der Mann stürmt mit einem Dolch ins Zelt, und in seiner Wut rammt er der Teufelsgestalt mit der schwarzen Kapuze den Dolch in die Brust. Der Clou dabei ist: Als der Teufel stirbt, sackt auch der Mann leblos zusammen. Der Teufel, der ihm all diese Wünsche um den Preis seiner Seele erfüllte, steckt in dem Mann selbst.«
»Nicht schlecht, Valerie«, sagte ich. »Es gefällt mir, wie du im Handumdrehen ein echt süßes Kindermärchen daraus gemacht hast.«
Valerie schmunzelte.
»Gar nicht süß«, murmelte Julian ernst und dass der Mann nicht sterben dürfe und überhaupt: Sein Ende sei viel besser.
Ich sah Valerie an. Mag sein, es war nicht gerade ein Happy End, aber ich fand es trotzdem ziemlich stark.