12
Wenige Nächte später. Ich hatte die Begegnung mit Christopher inzwischen als schönen Traum abgetan – da hörte ich plötzlich wieder die sanfte Klaviermelodie in der Ferne. Oder täuschte ich mich? Nein, ich täuschte mich nicht, ich hörte sie definitiv.
Aufgeregt stieg ich aus dem Bett und folgte der Melodie den Flur entlang, bis zu jener Tür, die es gab und nicht gab.
»Nicolas, ich hatte dich schon erwartet«, empfing mich Christopher, und erneut spürte ich die angenehme Vertrautheit inmitten der alten Bücher und in Christophers Gegenwart. Wie beim ersten Mal saß er, ganz in Schwarz gekleidet, an seinem Flügel, auf dem diesmal zwei bereits gefüllte Champagnerschalen standen.
Ich setzte mich auf den Hocker und beobachtete Christophers Hände beim Spielen. »Freut mich sehr, dich wiederzusehen«, sagte ich. »Ehrlich gesagt, hatte ich nicht damit gerechnet.«
»Manchmal kann es nicht schaden, die Gedanken ein bisschen atmen zu lassen, stimmt’s? Wie bei einem guten Wein.«
Ich stutzte einen Moment, denn fast klang es, als wäre nicht ich zu ihm in die Bibliothek, sondern als wären er und die Bibliothek zu mir gekommen. Ob er überhaupt wusste, wie oft ich über unser Gespräch nachgedacht hatte?
»Und? Schon einen Spaziergang zum Friedhof unternommen?«, fragte er.
»Nein«, gab ich zu. »Ich habe das Gefühl, dass ich gerade auch so schon genug über den Tod nachdenke.«
»Tatsächlich?«
»Ich fürchte, ja.«
»Was gibt es da zu fürchten? Hatten wir letztes Mal nicht festgestellt, dass man sich umso lebendiger fühlt, je bewusster man sich seiner eigenen Endlichkeit ist?«
»Tja, ich weiß nicht. Irgendwie finde ich den Gedanken an den Tod nicht so aufbauend. Eher deprimierend.«
»Mein Lieber, was soll daran deprimierend sein? Was wäre ein Augenblick wert, würde das Leben ewig währen? Entspringt die Kostbarkeit des Lebens nicht unmittelbar aus seiner Endlichkeit?«
Ich überlegte. »Ich finde es merkwürdig, weißt
du? Ich habe damit ja ziemlich oft zu tun, wenn ich über den Ansatz unserer Firma nachdenke oder mit Menschen über unsere Projekte spreche. Wenn ich den Leuten berichte, woran wir arbeiten. Ich merke dann, wie mir fast so etwas wie Verachtung entgegenschlägt, weil wir versuchen, den Alterungsprozess zu verzögern. Ich verstehe das nicht. Ich frage mich dann, was die Leute so toll am Tod finden. Ich empfinde den Tod als Beleidigung. Ich meine, ich will sehen, wie mein Sohn heranwächst. Du sagst, die Endlichkeit macht das Leben kostbar. Aber ich will das Altern aufhalten, gerade weil das Leben so kostbar ist.«
Christopher nahm eine nachdenkliche Haltung ein. Er nippte ein paarmal an seiner Schale. Er legte eine dieser Pausen ein, die er mochte, als würde er die Gedanken, die ihm durch den Kopf gingen, genau so genießen wie seinen Champagner. »Ich würde dir da sogar recht geben. Ich würde es lediglich für einen Fehler halten, das Altern gewissermaßen als Krankheit zu betrachten, die es zu heilen gilt. Sobald man das tut, weist man doch einen Teil, der zu unserem Leben gehört, kurzerhand zurück. Und warum tut man das? Warum fällt es uns so schwer loszulassen? Das ist doch die eigentliche Frage, oder? Und die Antwort verrät uns vielleicht etwas Wertvolles. Warum können wir nicht
loslassen, sei es uns selbst, sei es unseren Nachwuchs? Ist es, weil wir das, was wir hätten tun sollen, noch nicht getan haben? So oder so sprechen wir von etwas Unausweichlichem, und da dies so ist, erscheint es mir klug, den Tod von Anfang an mit in den Lebensentwurf einzubinden. Statt ihn als Feind zu sehen und zu bekämpfen.«
Wir hatten noch gar nicht miteinander angestoßen, was wir jetzt nachholten.
Ich nahm einen Schluck und grübelte über Christophers Worte nach, als er plötzlich sagte: »Ich meine, war das nicht auch das, was deinen Onkel auszeichnete? Oder warum hat er dich so beeindruckt? War es nicht, weil er das für sich Wesentliche erkannt hatte? Weil er das Leben vom Ende her sah, das Leben mit Blick aufs Ende? Verlor er sich deshalb nicht in Nebensächlichkeiten? Ruhte er nicht gerade deshalb so in sich? Und nicht dieses vergebliche, panische Strampeln …«
»Strampeln?«
»Ja, schau dir die Menschen doch an! Was sind sie rastlos … Andauernd in Eile, andauernd beschäftigt. Hetzen von Tätigkeit zu Tätigkeit, bis zur heillosen Überforderung – und finden doch das Glück nicht. Ich weiß ja nicht, wie du das siehst, aber weißt du, was mein Eindruck ist?«
»Was denn?«
»Sie sind so rastlos, eben weil sie das Glück nicht finden. Weil sie es an den falschen Stellen suchen. Als suchten sie das Glück dort, wo es nicht ist. Man würde ihnen am liebsten eine Prise Valentin verordnen!«
Ich lächelte.
»Ist doch so. Sie haben scheinbar alles: ein Dach über dem Kopf, einen Job, vielleicht sogar eine gute Beziehung oder liebenswerte Familie. Dennoch bleibt diese ewige Unruhe, diese nagende Unzufriedenheit. Als hätte das Leben noch gar nicht richtig begonnen. Als fehle immer noch etwas. Als läge das entscheidende Ereignis chronisch in der Zukunft. Als sei das Leben eine Reise mit irgendeinem erlösenden Ziel, aber dieses Ziel verschiebt sich kontinuierlich nach hinten. Sollte man das Leben nicht eher als Komposition auffassen? Und wenn das Orchester seine Symphonie doppelt so schnell spielt, klingt sie dann doppelt so schön?«
Ich spürte, wie ich innerlich in die Verteidigung ging, denn so ganz unbekannt war mir das von ihm beschriebene Gefühl nicht. »Letztlich scheint mir das eine individuelle Angelegenheit zu sein«, sagte ich.
»Die allgemeine Unzufriedenheit, meinst du?«
»Ja, ich meine, manche haben vielleicht
wirklich ein Lebensziel nicht erreicht, das sie gerne erreichen wollten, und sind deshalb unzufrieden. Andere haben schlicht und einfach Pech: Etwas Schlimmes passiert, wirft sie aus der Bahn, und das Leben nimmt einen Verlauf, den man so nicht vorhergesehen und gewollt hat …«
»Hattest du etwa so ein Riesenpech im Leben?«
»Ich? Nein … nein«, stotterte ich. »Das kann man so nicht sagen.«
»Also ist die Unzufriedenheit, über die wir hier sprechen, nicht unbedingt ein Resultat von Pech.«
Moment, ging es jetzt um mich?
»Natürlich hast du recht, Nicolas. Natürlich gibt es Glück und Pech und Zufälle, und es gibt Schicksalsschläge. Aber kommt es darauf an, was uns passiert? Oder darauf, wie wir mit dem umgehen, was uns passiert? Jedem von uns passiert dauernd irgendetwas. Jeder muss mit Schicksalsschlägen fertig werden, oder etwa nicht? Jeder muss mit Verlusten und Niederlagen umzugehen lernen.«
Ich schwieg.
»Mir geht es darum, dass der Wahnsinn mitunter Methode hat. Wenn jemand von einem Schicksalsschlag heimgesucht wird – sagen wir, er wird krank oder ein geliebter Mensch stirbt –, dann ist das schrecklich, klar. Doch was ist, wenn wir uns selbst
an unserem Unglück beteiligen? Läge darin
nicht eine ganz andere, vielleicht sogar die eigentliche Tragik?«
»Selbst an unserem Unglück beteiligen?« Ich sah Christopher fragend an.
»Stell dir vor, man würde sein Ich verpassen und das falsche Leben wählen. Wäre das nicht ein Rezept für dauerhafte Unzufriedenheit, selbst wenn es uns sonst an nichts fehlen würde?«
»Klar. Obwohl ich mir nicht sicher bin, ob ich verstehe, was genau du meinst. Was soll das heißen, ›das falsche Leben‹?«
»Stell dir ein Leben vor, in dem ein Mensch nicht zu seinem Ich findet. Dieser Mensch wird also nicht eins mit sich selbst. Ein gelungenes Leben wäre aus dieser Sicht umgekehrt eines, in dem der Mensch zu demjenigen wird, der er vom Kern seines Wesens her ist. Warum scheitern so viele von uns an dieser Aufgabe, die doch offensichtlich zu den wichtigsten im Leben gehört? Was hindert uns daran, zu werden, wer wir sind? Man könnte meinen, es geschehe von ganz allein, nicht? Dass ein Mensch zu demjenigen wird, der er ist. Es klingt fast selbstverständlich. Warum ist es das nicht? Nein, warum ist es sogar alles andere als selbstverständlich?«
»Ich weiß es nicht. Aber könnte es nicht daran liegen, dass einem nicht immer klar ist, wer oder was man ist?«
»Genau! Und sollte uns das nicht bereits zu denken geben? Wie kommt es denn, dass uns nicht einmal klar ist, wer wir selbst sind? Wie ist es möglich, dass wir so wenig Zugang zu unserem inneren Kern haben? Ist das nicht merkwürdig? Warum stehen wir nicht in engerem Kontakt mit uns selbst?« Christopher strich sich über seinen kurzen Bart. »Neulich zum Beispiel habe ich einen Vater mit seinem Sohn beobachtet. Der kleine Junge war gestürzt und schluchzte – der arme Kerl konnte sich gar nicht beruhigen. Und was tat der Vater? Er sagte: Komm, Kleiner, warum weinst du denn? Ist doch nix passiert!«
Ich musste lächeln. »Das kommt mir bekannt vor.« So bekannt, dass ich mich fragte, ob Christopher schon wieder auf mich zielte: War ich der Vater, von dem er erzählte?
»Gut, aber was lernt das Kind aus der Situation?«, fuhr Christopher fort. »Ich habe mich so erschrocken und mein aufgeschürftes Knie tut wahnsinnig weh – der allwissende, allmächtige Riese jedoch, den ich Papa nenne, behauptet, es sei nix passiert. Mit anderen Worten, ich sollte meinen eigenen Sinnen bloß nicht über den Weg trauen. Was ich fühle, gilt nicht.«
Ich fragte mich, ob Christopher damit nicht ein wenig übertrieb. Wie wörtlich nahm ein Kind
solche Sätze überhaupt? Waren sie nicht einfach als Trost gedacht? Mein Vater hatte mir jedenfalls auch nie etwas anderes gesagt.
Und doch, obwohl ich skeptisch blieb, Christophers Grundargumentation erschien mir nicht ganz unschlüssig.
Schließlich sagte ich: »Okay, aber ist das nicht bloß ein Beispiel? Ein winziger Ausschnitt aus dem Alltag eines Kindes, das ja letztlich von unzähligen Erfahrungen geprägt wird?«
»Ja, das wäre die Frage, nicht wahr? Ist es wirklich nur ein Beispiel? Oder setzt sich diese Erfahrung im späteren Leben fort? Geht es etwa in der Schule darum, unser eigentliches Ich zu entdecken? Ist es nicht eher so, dass wir dort unsere innersten Neigungen zugunsten eines weitgehend starren, vorgefertigten Lehrplans, mit dem wir im Dreiviertelstundentakt traktiert werden, unterdrücken müssen? Interessiert sich das Schulsystem für unser Ich? Setzt es alles daran, dieses zur maximalen Entfaltung zu bringen?« Christopher war nun wieder so richtig in Fahrt gekommen. »Dann werden wir Teil der Arbeitswelt, werden zu einem funktionierenden Rädchen im System. – Kümmert sich unser Arbeitgeber darum, dass wir zu unserem wahren Ich finden? Will die riesige Maschinerie da draußen, dass wir werden, wer wir sind? Oder will
sie, dass wir werden, wie sie uns am besten brauchen kann?« Christopher machte eine Pause. Er seufzte. »Vielleicht ist es ja kein allzu großes Wunder, wenn wir uns irgendwann nicht mehr so richtig wahrnehmen. Nein, irgendwann haben wir uns vor lauter Anpassung an die Welt da draußen von uns selbst entfremdet. Das aber scheint mir ein Rezept für chronische Unzufriedenheit zu sein.«
»Hm«, entgegnete ich. »Und was schlägst du vor, sollte man dagegen tun?«
»Wenn ich das wüsste! Aber ein erster Schritt könnte doch darin bestehen, eine Weile aus dem System auszusteigen und sich Zeit für sich selbst zu nehmen. Es für einen Moment ruhig werden zu lassen, um einmal in sich hineinzuhorchen, sich selbst wieder zu hören … Verwende ich meine Zeit so, wie ich sie verwenden will? Ständig haben wir vermeintlich Wichtigeres zu tun, als einmal in uns zu gehen und uns diese einfache und doch nicht ganz unwichtige Frage zu stellen. Erst wenn man mal aus dem Alltagstrott aussteigt und einen Augenblick innehält, taucht die Frage auf.«
»So einfach?«
»Nein, ich wünschte, es wäre so einfach. Das ist es ja gerade nicht. Schließlich müssen wir uns bei diesem Blick nach innen durch das Dickicht all jener Ideale kämpfen, die sich im Laufe des Lebens
in uns eingenistet haben. Wir müssen uns gewissermaßen durch die Ideale in unserem Kopf hindurcharbeiten, um bis zu unserem wahren Kern vorzudringen.«
»Moment mal. Was für Ideale?«
»Wo soll ich anfangen?« Christopher sah erneut in der Bibliothek umher. »Ich nenne dir ein Beispiel: Einer meiner Bekannten ist Hochschulprofessor. Dabei ist er vor allem deshalb Professor geworden, weil seine Familie das für einen gesellschaftlich angesehenen Beruf hielt. Als Jugendlicher hatte er alte Fahrräder aufgekauft, um sie anschließend gewinnbringend weiterzuverkaufen. Ich versteh zwar nicht, warum, ihm aber gab das den ultimativen Kick. Er ist einfach ein begnadeter Händler. Aber das zu seinem Beruf machen? Nein, das war unter seinem Niveau. Das entsprach nicht dem familiären Ideal, das ja wiederum stark von der Gesellschaft geprägt war. Also, was tat er? Er verriet sein Talent. Er verriet sein Ich zugunsten eines Ideals, das nicht seinen eigentlichen Neigungen entsprach …«
»Verrat ist vielleicht etwas hart ausgedrückt. Aber ich denke, ich verstehe, was du meinst. Für mich wirft das allerdings eine wichtige Frage auf: Gerade in jungen Jahren lassen sich doch eigene und fremde Ideale schwer voneinander
unterscheiden. Soll man sich da gegen die gängige Meinung wenden? Gegen Gesellschaft und Familie? Ist das
nicht ein Rezept für Unglück?«
»Es geht doch nicht darum, absichtlich ein Rebell zu sein, einzig und allein, um zu rebellieren. Man sollte geschmeidig bleiben. Es geht darum, du zu sein, du zu werden, und wenn die andern dir vorwerfen, das, wovon du träumst, sei unrealistisch oder reine Spinnerei, dann könnte man sich fragen, warum sie das tun. Haben sie legitime Gründe vorzuweisen? Sagen sie es, weil sie selbst etwas Ähnliches verfolgt und nicht erreicht haben? Haben sie Angst? Woher wissen sie eigentlich so genau Bescheid? Warum hat die Gesellschaft oder die Familie bestimmte Ideale? Sind das auch meine
Ideale? Am Ende müssen ja nicht die andern dein Leben leben, sondern du. Und so musst auch du die volle Verantwortung und damit zugleich das volle Risiko für deine Träume und dein Leben übernehmen.«
Christopher stand auf, nahm die Champagnerflasche aus dem Kühler und füllte unsere Schalen noch einmal nach. »Ein alter Freund von mir handelt gerne an der Börse, hört bei jeder größeren Investition aber immer nur auf seinen Bankberater. Warum wohl?«
»Weil der Fachmann besser Bescheid weiß?«
»Das ist der vorgeschobene Grund. Der Berater hat aber auch keine Glaskugel, mit der er in die Zukunft blicken könnte. Und das weiß mein Freund auch. Auf diese Weise jedoch ist er zumindest nicht selber schuld, wenn die Sache schiefgeht. Zu verlieren und auch noch selbst schuld zu sein – das wäre zu viel.«
Ich sah zu, wie Christopher die Schalen füllte, und erinnerte mich plötzlich dunkel an eine Freundin meiner Frau, und ich sagte: »Ich musste gerade an eine Bekannte denken.« Christopher reichte mir schweigend meine Schale. »Es hat nichts mit dem Beruf zu tun, passt aber vielleicht dennoch zu dem, was du sagst.«
Christopher setzte sich wieder an den Flügel und nickte mir aufmunternd zu.
»Also sie, diese Bekannte, bekam von ihrem Vater immer gepredigt, sie solle sich bloß nie auf ein Kind einlassen. Vielleicht hatte er selbst keines gewollt, ich kenne die Hintergründe nicht. ›Nimm dir lieber einen Hund‹, sagte er ihr immer.«
Christopher lachte.
»Unglaublich, oder? Noch unglaublicher ist, dass sie sich tatsächlich einen Hund anschaffte. Ihr Mann wäre gern Vater geworden, aber sie wollte nicht. Sie glaubte, sie wüsste nicht so recht, es wäre vielleicht nicht das Richtige für sie …«
Christopher sah mich erwartungsvoll an. »Wie ging es weiter?«
»Einige ihrer Freundinnen wurden schwanger, und irgendwann verspürte auch sie den Wunsch nach einem Kind. Zuerst wollte sie es nicht wahrhaben, traute ihren Gefühlen nicht. Das ging so lange, bis sie in ein Alter kam, in dem das mit dem Kinderkriegen nicht mehr so selbstverständlich klappt. Erst da, aus einer Torschlusspanik heraus, entschied sie sich dafür.«
»Nicolas, du hast absolut recht. Die Endlichkeit öffnet ihr die Augen, und sie überwindet das väterliche Ideal, das sie zu lange für ihr eigenes Ideal gehalten hat. Das ist haargenau, was ich meine«, sagte Christopher begeistert. »Wie ist die Geschichte denn ausgegangen?«
»Soviel ich weiß, folgten einige qualvolle Jahre. Sie versuchten es letztlich mit einer künstlichen Befruchtung, aber auch das klappte nicht. Sie und ihr Mann waren irgendwann so verzweifelt, dass sie sich eine Auszeit nahmen, in der sie auch eine Reise nach Afrika machten. Und obwohl es nicht geplant war, inmitten der Armut, die sie dort erlebten, beschlossen sie, zwei Kinder zu adoptieren. Heute leben sie mit zwei süßen kleinen Mädchen zusammen, die mit meinem Sohn befreundet sind. Auf mich machen sie einen sehr glücklichen Eindruck, die ganze Familie,
besonders die Mutter. Ich glaube, sie ist unendlich dankbar für das späte, unverhoffte Glück, das sie doch noch finden durfte.«
»Großartig!«, sagte Christopher. »Ich hätte kein besseres Beispiel finden können.« Er setzte seine Schale an die Lippen und leerte sie in einem Zug, wie letztes Mal, kurz bevor er sich verabschiedet hatte. Dann fragte er, in die leere Schale blickend: »Wie ist das mit dir, Nicolas? Warum bist du den Weg gegangen, den du gegangen bist? War es, weil es der Weg deines Vaters war? Weil du dich ihm verpflichtet gefühlt hast? Weil er dir immer sagte, von Geschichten ließe sich keine Familie ernähren? Weil du in seinen Augen kein ›Spinner‹ sein durftest? Kann es sein, dass du deinen Onkel in den letzten Jahren deshalb so gemieden hast, weil du dir nicht eingestehen wolltest, dass du dein Leben auch anders hättest leben können? Weil das Leben deines Onkels auch eines für dich gewesen wäre – und vielleicht sogar das für dich passendere?«
Ich war sprachlos.
Schließlich sagte Christopher leise in die Stille hinein: »Tja, ich fürchte, es ist wieder spät geworden. Ich wünsche dir jedenfalls eine gute Nacht, mein Lieber.« Und damit waren er und die Bibliothek schlagartig verschwunden. Diesmal wohl, wie ich annahm, endgültig.