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Wer war dieser Christopher bloß? Woher kam er? War ich unversehens in einer Geschichte meines Onkels gelandet? War dies hier ein Christopher
-Band und ich ein Teil davon, eine Figur darin? Aber wie war das möglich? Und wohin verschwanden Christopher und seine Bibliothek tagsüber? Oder waren meine beiden Begegnungen mit Christopher nur ein verrückter, wiederkehrender Traum gewesen? Eine wilde Phantasiewelt, die mein schlafendes Gehirn mir in einem dieser außergewöhnlichen nächtlichen »Aktivitätsmodi« vorgaukelte, wie sie Valerie in ihrem Artikel beschrieben hatte?
Am nächsten Morgen war die Beerdigung, die ich zunächst wie einen weiteren Geschäftstermin wahrnahm. Als ich die versammelte Menschenmenge sah, wurde mir flau im Magen, und ich wäre am liebsten umgekehrt und verschwunden. Ich wollte keine Beileidsbekundungen, all diese Floskeln, die ohnehin nicht erfassen konnten, was ich für Valentin empfunden hatte.
Eine ältere Dame mit einem nervösen Jack Russell an der Leine und auf dem Kopf einen schwarzen Hut kam auf mich zu, um mir eine Geschichte über meinen Onkel zu erzählen, dabei wusste ich gar nicht, wer sie war. Sie erzählte, und ich versuchte zuzuhören. Ich nickte schweigend, ging in die Hocke, streckte dem Jack Russell vorsichtig meine Hand entgegen und hörte einfach zu, obwohl es mir schwerfiel, mich auf ihre Worte zu konzentrieren.
Irgendwann erkannte ich zwischen den Gestalten einen alten Freund von Valentin, und ich ging zu ihm hin und umarmte ihn. Ich wollte etwas sagen, brachte aber kein Wort heraus.
Ansonsten war da lediglich ein Gefühl von Leere. Leere sowie der stetig wachsende Wunsch, die Angelegenheit endlich hinter mich zu bringen …
Erst als ich vor dem Grab stand, Julian neben mir, der noch nie auf einem Friedhof gewesen war, geschweige denn einer Beerdigung beigewohnt hatte, erst als ich da inmitten dieser trostlosen Grabsteine stand, dieser hässlich marmorierten, glänzenden, starren Stein-Monolithe mit ihren abstoßenden Formen wie verunglückte, erstarrte Seelen, das pure Gegenteil von Valentins leichtem, geschmeidigem Wesen, und als wir dann, Julians kleine, schlaffe Hand in meiner, mitansehen mussten, wie sein Sarg langsam in das tiefe Erdloch
hinabgelassen wurde und die Welt um uns herum sich verdunkelte, als hätte man ihr jäh eine Handvoll ihrer schönsten Farben gestohlen, erst da, nein, da eigentlich noch nicht, genau genommen erst, als wir anschließend schweigend im Wagen saßen, auf dem Rückweg zur Villa, und keiner von uns etwas sagte – da traf mich die Trauer mit voller Wucht.
Ich hatte es nicht kommen sehen. Als mich ein paar Tage zuvor Valeries Anruf mit der Nachricht von Valentins Tod erreichte, hatte ich mich darüber gewundert, dass sein Tod nicht wirklich zu mir durchdrang. Ich hatte die Botschaft zur Kenntnis genommen, ohne sie wirklich zu spüren. Jetzt kam es mir vor, als hätte die Trauer wie ein Raubtier die ganze Zeit in mir auf der Lauer gelegen, und nun plötzlich, in einem Moment geschwächter Abwehr, schlug sie zu.
Und mit der Trauer kam ein Gefühl der Reue, sie überspülte mich ebenso unerwartet. Wie eine Welle, die einen umhaut und gewaltsam mitreißt.
»Papa, erzählst du mir eine Quatschgeschichte?«
Starrer Blick nach vorne auf die Straße.
»Papa?«
»Jetzt bitte nicht, Julian«, hörte ich Valeries Stimme.
Nach einer Weile sagte ich mit einem Kloß im Hals: »Gleich, mein Junge. Gleich, ja?«
Es wäre so einfach gewesen, dachte ich oder dachte es in mir – es wäre so einfach gewesen, Valentin öfter zu besuchen oder auch zu uns einzuladen (obwohl, das hatte ich getan, nur war er halt auch nicht mehr der Jüngste gewesen und hatte sich längere Reisen nicht mehr zumuten wollen). Es wäre einfach gewesen, mehr Zeit mit ihm zu verbringen. Warum hatte ich es versäumt? Wie einfach es gewesen wäre! Sich ins Flugzeug zu setzen, zu ihm zu fliegen. So viele Flüge hatte ich bedenkenlos, routinemäßig zu allen möglichen Meetings und Orten unternommen, immer und immer wieder. Aber zu ihm, eine Reise von insgesamt vier, fünf Stunden? Das war mir zu viel gewesen, dafür hatte ich keine Zeit gehabt. Warum nicht?
Ich ging in mich, um eine Erklärung für mein Verhalten zu finden. Nur fand ich keine. Ich forderte Erklärungen von mir, wie ich sie von einem nachlässigen Mitarbeiter gefordert hätte. Aber es kamen keine Erklärungen, bloß Ausreden.
Was war es gewesen? Woran hatte es gelegen? Am Stress? Am Druck? Daran, dass die Firma angeblich nicht ohne mich auskam? Was, Nicolas, was war es? Keine Antwort.
Ich warf die Fragen in mich hinein wie schwere Gesteinsbrocken in einen dunklen, unergründlichen See.
Am unangenehmsten waren dabei die Vorwürfe, die ich mir wegen Julian machte. Dass ich für mich vermeintlich Besseres zu tun gehabt hatte, als Valentin in seinen letzten Lebensjahren zu besuchen, sei’s drum. Aber dass ich mit meinem Verhalten zugleich dafür gesorgt hatte, dass Julian ihn nie wirklich kennengelernt hatte, dass er ihn nie erleben durfte, das ließ sich nicht wiedergutmachen. Es war falsch. Falsch und unumkehrbar.
Stattdessen hatte ich ihn mit Rechenaufgaben geplagt und mit was weiß ich was. Darauf hatte ich Wert gelegt. Darauf hatte ich meine Energie verwendet! Es fühlte sich in diesem Moment so absurd an …
Ich war schuld, dass Valentin für Julian kein echter Mensch war, sondern eine Art Legende, die genauso gut eine Erfindung von mir hätte sein können. Eine weitere Quatschgeschichte … Und dass ich es jetzt bereute: Was hatte Julian davon? Gar nichts. Überhaupt nichts.
*
Am Abend trug ich Julian hoch ins Bett. Als er sich unter die Decke gelegt hatte, setzte ich mich zu ihm auf die Bettkante, um ihm eine Geschichte zu erzählen. Eine besondere Quatschgeschichte.
Sie sollte ihm helfen, den hinter uns liegenden Tag etwas zu verdauen, und ihm das Einschlafen zu erleichtern.
Ich nahm die kleine Hand meines Jungen in meine, seine weichen, zerbrechlichen Finger. Ich stammelte etwas vor mich hin und musste dabei immer wieder neu ansetzen, als Julian sagte: »Papa, willst du in meine Höhle kommen?«
Ich schwieg.
»Komm, Papa«, sagte er. »Komm«, wiederholte er und dass ich nicht traurig sein solle und dass er mir eine Geschichte erzählen würde.
Ich streifte die Mokassins ab und legte mich neben Julian. Er zog die Decke über unsere Köpfe, und im Schutz der Höhle, die er uns gebaut hatte, träumten wir uns weit weg von allem. Machten uns mit einem Segelschiff auf den Weg zu jener entlegenen Schatzinsel, zu der nur Julian uns führen konnte, weil nur er über jene geheime Karte verfügte, auf dem der Schatz mit einem dicken roten X markiert war.
Später, als wir bei Mondschein vor Anker gegangen waren und uns in der Kajüte schlafen legten, wurde uns allerdings die Karte von Piraten, die uns verfolgt hatten, gestohlen, und zunächst schien alles verloren, aber Julian – er erzählte immer aufgeregter, saß nun aufrecht in der Höhle und erzählte
mit dem ganzen Körper –, Julian hatte die Piraten natürlich ausgetrickst und ihnen extra eine falsche Karte gemalt, und so, während die Piraten auf der Welt umherirrten, konnten wir in Ruhe und von keinem verfolgt die Schatzinsel ansteuern …
»Papa, jetzt du.«
Ich lag immer noch, Julian saß aufrecht im Bett, über uns die Decke, die er mit dem Kopf stützte, damit die Höhle nicht einstürzte, und dann war ich mit dem Erzählen dran.
Ich weiß nicht, wie lange wir so zusammen in der sich langsam aufheizenden Höhle vor uns hin schwitzten und erzählten. Das heißt, ich erzählte nun, erzählte in dem verzweifelten, irrwitzigen Versuch, etwas bei ihm gutzumachen, was sich nicht gutmachen ließ, schon gar nicht mit Quatschgeschichten. Ich erzählte einfach immer weiter, als fürchtete ich mich vor der Stille, die mich erwartete, wenn ich mit dem Erzählen aufhören würde.
Irgendwann öffnete sich die Tür, und Valerie fragte, ob wir überhaupt wüssten, wie spät es sei.
Angespanntes Schweigen in der Sauna-Höhle.
Julian fing an zu kichern …
Als er endlich schlief, kam Valerie auch ins Bett, kuschelte sich an uns, an mich.
Ich schloss die Augen und war so froh, dass sie
da war. Sie sagte leise: »Wenn ich es nicht besser wüsste, könnte man meinen, du seist zum Geschichtenerzählen geboren.«