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»Nicolas, wirklich? Wollen wir nicht noch ein paar Tage hierbleiben?«, fragte Valerie. Äußerst irritierter Gesichtsausdruck. »Julians Ferien sind doch noch lange nicht vorbei. Und sieh doch mal, wie gut uns diese Auszeit tut …«
»Ja, Papa, bitte!«
Ich seufzte. »Es geht nicht, Julian, ich muss mich in der Firma um ein paar Sachen kümmern.«
»Muss das wirklich sein, Nicolas?«
»Ja, Papa, wir wollen doch heute ins Schwimmbad gehen. Auf die Riesenrutsche! Bitte, Papa, bitte …«
Ich sah Valerie an. Es tat mir wirklich leid, aber ich konnte einfach nicht länger von der Firma fortbleiben.
Michael hatte plötzlich Druck gemacht, ich hatte mit ihm telefoniert, und er hatte in für ihn ganz untypisch nebulöser Art gefragt, ob wir nicht ganz bald einmal »reden« könnten. Von Angesicht zu Angesicht. Er wollte mir nicht am Telefon sagen, worum es ging, es hatte aber auf jeden Fall dringend geklungen, und ich sagte: »Valerie, ich muss hin, Michael dreht am Rad, es geht nicht anders, ich muss einfach hin.«
»Ach, Michael …«, entgegnete Valerie genervt.
»Nein, Valerie, es klang wirklich ernst. Ich habe ihn in dem Chaos zurückgelassen. Ich muss hin. Ich kann ihn nicht länger mit den ganzen Problemen alleinlassen! Soll ich etwa aus der Ferne zusehen, wie meine Firma zugrunde geht?«
Valerie schüttelte den Kopf. Ihr Blick drückte aus, »als ob immer gleich die Firma zugrunde geht« oder »die Firma, die Firma, natürlich, was denn sonst«. Aber sie sprach es nicht aus. Stattdessen eisiges Schweigen.
»Papa, bitte …«
Ich ging in die Hocke und streichelte Julian über den Kopf. »Es tut mir leid, Junge. Es tut mir wirklich leid …«
Ich atmete einmal tief durch, und während ich mich wieder aufrichtete, überlegte ich laut: »Wie wäre es, wenn ihr beiden einfach noch ein paar Tage dranhängt, und dann kommt ihr nach, wann immer ihr wollt? Was meint ihr?«
»Das ist jetzt nicht dein Ernst, Nicolas, oder?« Valeries Kiefer arbeiteten, ihre Kaumuskeln zuckten. Ein untrügliches Zeichen, dass sie sauer war.
»Wieso nicht?« Ein paar Urlaubstage in einer Villa, in idyllischer Landschaft, bei allerbestem Wetter. Was war daran so schlimm? War der Vorschlag etwa so absurd?
»Ja, Mama. Wir können doch hierbleiben?«
»Ach, Julian …« Seufzen. »Das sagst du doch nur, weil du jetzt ins Schwimmbad willst. Aber das können wir zu Hause auch, dafür brauchen wir nicht hierbleiben.«
»Nein, Mama, das stimmt nicht. Schau mal, du siehst das falsch. Also, Mama, zu Hause gibt es doch keine Riesenrutsche.«
Schweigen.
»Bitte, Mama.«
»Du willst wirklich hierbleiben?«
»Ja, Mama.«
»Ohne Papa?«
»Ja!«, rief Julian, seine Stimme überschlug sich fast. »Warum nicht?« Und er zuckte mit den Schultern.
Erneutes Schweigen.
»Mama?«
»Was, Julian?«
»Können wir jetzt ins Schwimmbad gehen?«
Seufzen.
*
Ich hatte Valerie noch sagen wollen, dass es mir leidtat. Ich wusste bloß nicht, wie. Dann hatte ich versucht, sie auf die Wange zu küssen, aber sie hatte sich wortlos, ohne einen weiteren Blick, von mir abgewandt. Und so – obwohl ich natürlich auch nicht glücklich damit war, im Gegenteil – hatte ich meine Reisetasche gepackt und war alleine zum Flughafen gefahren. Ich wäre ja auch noch geblieben, aber es ging schlichtweg nicht. Ich konnte es nicht verantworten, länger wegzubleiben, wobei mich allerdings Michaels vage Andeutungen (von wegen, wir müssten »unbedingt von Angesicht zu Angesicht« reden usw.) mehr und mehr zu nerven begannen. Egal, ich musste hin!
*
Erst im Flugzeug merkte ich, dass ich das Falsche tat, und fühlte mich schuldig, Valerie gegenüber, auch Julian gegenüber. Obwohl ich mir nicht sicher war, wie sehr er mich überhaupt vermissen würde. Er hatte ja seine Mama und ein Schwimmbad mit Riesenrutsche und anschließend zweifellos endlich mal ein Eis.
Trotzdem vermisste ich ihn, vermisste sie beide, und irgendwann wäre ich beinahe wieder aus dem Flugzeug gestiegen, was ich nur deshalb nicht tat, weil wir uns in dem Moment, als mich der Impuls überfiel, gut 8000 Meter über dem Meeresspiegel befanden.
Da saß ich auf dem harten, unbequemen Sitz und starrte auf meinen Laptop. Versuchte, zu arbeiten, die Zeit wenigstens zu nutzen, aber unwillkürlich, und obwohl ich mich dagegen wehrte, überfiel mich ein deprimierendes Gefühl bei dem Gedanken, dass ich mich Sekunde für Sekunde weiter von den beiden Menschen entfernte, die mir am wichtigsten waren und die ich alleine in der Villa zurückgelassen hatte.
In diesem Moment nahm ich mir vor, in Zukunft keine kostbare Zeit mehr darauf zu verschwenden, mich je wieder aus irgendeinem nichtigen Anlass mit Valerie zu streiten – obwohl wir uns zum Glück selten richtig heftig stritten.
Ich fühlte mich schlecht und dachte darüber nach, wie verrückt es war, die wenige Zeit, die einem gegeben war, auch noch mit Streit und Ärger zu verschwenden. Wie ich abends häufig gereizt auf Julian reagierte, obwohl es meist gar nichts mit ihm zu tun hatte, sondern mit irgendeinem Vorfall im Büro. Weil ich innerlich unter Druck stand oder mich gestresst fühlte. Und manchmal reagierte ich auch Valerie gegenüber bloß deswegen irritiert, weil ich von etwas in der Firma genervt war. Wenn dagegen umgekehrt Valerie gereizt oder sauer war, lag es – das war zumindest mein Eindruck – oft nicht zuletzt daran, dass ich mal wieder Mist gebaut hatte. Nicht, dass sie perfekt wäre, es ging ja nicht darum, sie zu einem übermenschlichen Wesen zu erklären, aber um das Gefühl: Wenn sie verärgert war, hatte es zumindest seine Berechtigung. Warum also war sie jetzt so sauer? Mir war schon klar, dass es nicht optimal war, aber verstand sie denn nicht, was gerade in unserem Laden los war?
Irgendwann nickte ich zum Glück ein, eine willkommene, angenehme Pause von mir selbst. Ich schlief durch bis zur Landung, als ich von der mit einem kräftigen Ruck aufsetzenden Maschine wachgerüttelt wurde.