15
Es war merkwürdig, vertraut und doch zugleich merkwürdig, als ich mich nach der stundenlangen Reise, nach Mietwagen, Flug und Taxi in jenem Flur wiederfand, wo mich vor gerade mal einer Woche Valeries Anruf erreicht hatte. Es fühlte sich wie gestern an und doch wie aus einer anderen Zeit.
Ich traf mich gleich als Erstes mit Michael in seinem Büro. Ich hatte unterwegs überlegt, dass er vielleicht beleidigt sein könnte, weil ich zuerst an ihm gezweifelt und ihn dann auch noch im Stich gelassen hatte. Eigentlich hatte ich sogar fest damit gerechnet – aber nein, er war ganz im Gegenteil überraschend guter Laune. Er platzte jedenfalls vor Energie.
»Mann, Nicolas, ich hab vielleicht Neuigkeiten«, legte er aufgeregt los. »Also, ich habe ein paar richtig gute Nachrichten. Und dann wäre da ja noch, wie schon erwähnt, diese eine Sache, die du hoffentlich nicht in den falschen Hals kriegst.«
»Michael, hör auf, mich auf die Folter zu spannen. Sag mir, was los ist.«
»Okay, also, womit fang ich an? Die wichtigste Nachricht ist: Wir sehen die gewünschte Anreicherung. Das ist schon mal super.«
Mir fiel ein Stein vom Herzen. »Bist du sicher?«, fragte ich – ich fragte es vor allem, um es noch einmal zu hören.
»Absolut sicher. Ich denke, letztlich ist es schlichtweg eine Frage der Dosierung. Die müssen wir in einem nächsten Schritt noch ein bisschen austarieren, aber das kriegen wir hin. Wir werden die Dosis auf jeden Fall erhöhen, vielleicht sogar verdoppeln müssen.«
»Gut, gut. Und weiter?«
»Du wirst es nicht glauben, aber in der Fasten-Kontrollgruppe sehen wir nicht bloß eine Anreicherung, wir sehen bereits beachtliche erste Effekte, Nicolas …«
»Was für Effekte?«
»Alles in die richtige Richtung. Egal, was man sich ansieht, alles in Richtung Verjüngung. Seien es die Entzündungswerte, hs-CRP
und die anderen Entzündungsmarker, die NAD
+-Levels, die mTOR
-Aktivität – alles in die richtige Richtung.« Michael redete jetzt wie unter Strom, mit weit aufgerissenen Augen, als hätte er Amphetamine
geschluckt. »Pass auf, jetzt kommt es: Die Effekte der Methusalem-Pille kombiniert mit dem Fastenprogramm sind nicht lediglich additiv. Sie potenzieren sich. Wir sprechen also von einer Interaktion, wie wir sie so nicht vorhergesehen haben.«
»Was?«
»Ja. Und die Wirkung ist von einer Größenordnung, das hast du noch nicht gesehen. Das heißt, wer die Methusalem-Pille nimmt und zugleich fastet, der wird mit ziemlicher Sicherheit eine Verjüngung auf der ganzen Ebene erfahren.« Michael grinste. »Jetzt müssen wir die Leute nur noch zum Fasten bewegen, was natürlich nicht so einfach ist, aber gut.«
»Wow«, sagte ich. »Wow.« Etwas später: »Das ist unfassbar, Michael!« Und wieder etwas später: »Mann, Michael, weißt du, was das bedeutet?«
»Natürlich«, antwortete Michael selbstbewusst. »Das bedeutet, dass wir aus dem Schneider sind. Wir sind im Geschäft. Wir haben es geschafft, Nicolas.«
Ich grinste. Und saß da und konnte es nicht glauben. Es war tatsächlich ein Durchbruch. Ein Grund, weshalb unsere klinische Studie so groß und teuer war, lag darin, dass Michael auf diversen Kontrollgruppen bestanden hatte. Es war eine
riskante Alles-oder-nichts-Strategie gewesen, und nun schien sie sich auszuzahlen. Michaels wissenschaftliche Rigorosität und Integrität, seine Kompromisslosigkeit, wenn es um qualitativ hochwertige Arbeit ging, hatten sich gelohnt.
»Michael«, sagte ich, »mir fehlen die Worte.« Ich hielt inne. »Du bist der Beste.«
Michael ließ das Kompliment wirken, und es wurde still.
»Ich schätze, ich muss dann auch mal anfangen zu fasten«, scherzte ich.
»Hast du es schon mal versucht?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Schrecklich. Obwohl, nach drei, vier Tagen wird es besser. Aber da musst du ja erst mal hinkommen …«
Nach einer Weile sagte er, nun sehr viel ernster: »Tja, was diese andere Angelegenheit betrifft, von der ich dir am Telefon kurz erzählt habe … Ich hoffe, sie verdirbt dir jetzt nicht die gute Laune.«
Ich erschrak. »Bitte, jetzt keine schlechten Nachrichten, Michael. Bitte nicht.«
»Also, ich mach’s kurz und schmerzlos.« Michael atmete tief durch, dann sagte er: »Novotech ist auf mich zugekommen.« Pause. »Die haben mir ein Angebot gemacht, Nicolas. Ein richtig gutes Angebot.«
»Was? Ist das dein Ernst? Die können dich doch nicht einfach abwerben!«
Aber natürlich konnten sie das. Mehr noch, es war nur eine Frage der Zeit gewesen. Tief drin hatte ich es gewusst, insgeheim hatte ich immer damit gerechnet, obwohl ich es zu verdrängen versucht hatte. Dabei war mir klar gewesen, dass man einen wie Michael irgendwann abwerben würde.
Michael schwieg.
»Was bieten sie dir denn an?«, fragte ich vorsichtig.
»Den Chefposten.«
»Wow«, rief ich fröhlich, obwohl mir eigentlich überhaupt nicht froh zumute war.
Und dann sagte ich erst mal gar nichts mehr.
*
Später am Tag eine Konferenz mit dem ganzen Team. Michael hatte in seiner Euphorie alle zusammengetrommelt, um die geballten guten Nachrichten zu verkünden.
Ich blickte in die Gesichter meines Teams.
Seltsamerweise fiel mir als Erstes auf, wie blass alle waren. Sahen sie immer so blass aus? Es sprang mir einfach ins Auge. Ich schätze, ich schämte mich wohl ein wenig für mein sonnengebräuntes
Äußeres, obwohl es ja nun nicht so war, dass ich in meinem Zwangsurlaub nur in der Sonne herumgelungert hatte. Egal, wahrscheinlich war es völlig irrelevant, denn ich glaube nicht, dass sich die Kollegen auch nur irgendetwas aus meiner Gesichtsfarbe machten.
»Willst du anfangen?«, fragte Michael leise.
»Nein, mein Lieber«, sagte ich ebenso leise zurück, »das hier ist deine Show.«
Und während Michael die Ergebnisse präsentierte, hörte ich stolz zu. Einerseits. Andererseits ging mir natürlich das Angebot durch den Kopf, das man ihm unterbreitet hatte, und ich fragte mich, was passieren würde, nähme er es an, worüber wir noch gar nicht weiter gesprochen hatten, was aber durchaus nicht unwahrscheinlich war: Immerhin sprachen wir über die Chefposition bei einem der renommiertesten Unternehmen unserer Branche.
Nachdem Michael die spektakulären – wenn auch freilich noch sehr vorläufigen – Zwischenergebnisse in allen Details ausgebreitet hatte, entflammte eine lebhafte Diskussion darüber, wie wir die Sache von hier an weiterentwickeln könnten. Da kam mir plötzlich eine Idee, und ich sagte:
»Was wäre, wenn wir die Sache auf die Spitze treiben und das Ganze noch etwas umfassender angehen?«
»Umfassender?«, fragte Michael mit einem Funkeln in den Augen.
»Wir ziehen alle Register.«
»Okay, klingt gut«, erwiderte Michael. »Aber, was meinst du damit? Was schwebt dir konkret vor?«
Ich führte meine Idee aus: Die Generation meines Vaters hatte Altersleiden, wie Alzheimer oder Parkinson, über Jahrzehnte hinweg wieder und wieder mit Einzelwirkstoffen zu bekämpfen versucht. Das Ergebnis war, milde formuliert, enttäuschend gewesen. »Wie aussichtsreich ist es überhaupt, etwas dermaßen Komplexes mit einem oder einigen wenigen Wirkstoffen in den Griff zu kriegen? Ich meine, wir verabreichen unseren Cholinesterase-Hemmer oder unseren Dopaminagonisten und hoffen, wir könnten auf diese Weise ein höchst diffiziles dynamisches System wieder ins Lot bringen.«
Ich sah Michael an. Er verstand mich sofort: »Du hast recht, Nicolas. Es ist so, als hätte dein Dach zwei Dutzend Risse, und du flickst einen davon und wunderst dich, dass es immer noch reinregnet.«
»Ich denke jetzt einfach mal laut«, sagte ich und meinte: Zusätzlich zu dem klassischen Ansatz – der Verabreichung bestimmter Wirkstoffe oder
Wirkstoff-Cocktails – könnten wir doch eine weitaus grundlegendere Lebensumstellung ins Auge fassen, in der Hoffnung, dass sich die Effekte potenzieren würden, wie wir es nun bei der Fastengruppe sahen. Nur würden wir eben nicht bloß ein Fasten-, sondern auch ein Sportprogramm hinzuziehen, einerseits Cardio, dann aber auch Krafttraining zur Bekämpfung von Sarkopenie. Wir könnten etwas gegen Stress unternehmen, beispielsweise mit Hilfe von Meditation oder Yoga. Wir müssten Faktoren wie den Schlaf, die Ernährung und das soziale Umfeld berücksichtigen, die geistige Anregung, die familiäre Einbindung, das Gefühl von Lebenssinn … Erst dann, erst mit einem derart umfassenden Programm, hätten wir eventuell die Chance, etwas wirklich Substanzielles auszurichten und den Alterungsprozess und damit einhergehende Altersleiden zurückzudrängen.
Es war nicht mehr als nur so eine Idee, doch Michael schien davon ganz angetan zu sein. An diesem Zeitpunkt zogen wir uns zu einem Gespräch unter vier Augen zurück. Michael führte ins Feld, selbstverständlich ließen sich Altersleiden und der Alterungsprozess nicht »wegmeditieren«. Für den optimalen Ansatz müsse man idealerweise den westlich geprägten analytischen Sezierblick mit dem fernöstlichen ganzheitlichen Denken
verbinden. »Damit aber könnten wir schon wirklich etwas Positives bewirken, Nicolas.« Es wäre nicht so einfach wie die schlichte Verabreichung einer Pille, meinte Michael, und er fragte sich auch, wie viele Menschen bei so etwas überhaupt mitmachen würden, aber wenn sie sich dazu bewegen ließen, »dann könnte es sich schon sehr lohnen«.
Michael war erneut ganz in seinem Element. Ich betrachtete ihn, während er redete und vollkommen bei der Sache war. Ich konnte mir nicht vorstellen, was aus unserem Unternehmen werden sollte, würde er wirklich gehen. Ich musste mir dringend etwas einfallen lassen.
Michael war zwar nicht unbedingt einer, der wegen eines Chefpostens ein Herzensprojekt im Stich ließ. Vielleicht aber hatte ich ja Glück, und Novotechs Studien würden ihn nicht ganz so reizen wie unsere. Auch wusste ich, wie sehr er an seinem Methusalem-Baby hing und dass er die Sache nur allzu gern weiterverfolgen und ausbauen würde. Dennoch war mir klar, dass ich noch eine Schippe drauflegen musste, um ihn nicht bloß jetzt, sondern langfristig an mein Unternehmen zu binden.