17
»Nicolas!«, rief Christopher überrascht und erfreut. »Wer hätte das gedacht? Du bist wieder da.« Es war Nacht, und er saß wie gewohnt an seinem Flügel und spielte, und ich freute mich ebenfalls, ihn wiederzusehen.
»Ich bin wieder da.«
»Diese kleine Villa hat Krallen.«
Lächelnd setzte ich mich auf den Hocker, sah mich um. Es fühlte sich so angenehm an, wieder in Christophers Bibliothek zu sitzen.
»Ich habe viel über unser letztes Gespräch nachgedacht«, fing ich nach einer Weile an.
»Hast du das? Dann sind wir ja schon zwei«, sagte er grinsend.
»Jedenfalls, ich wollte dir nur sagen: Es ist nicht so, dass ich es nicht versucht hätte.«
»Was hast du versucht?«
»Ich meine, Geschichten zu erzählen, ein Buch zu schreiben. So wie mein Onkel … Aber, tja, was soll ich sagen?«
»Lass mich raten: Es hat nicht gleich hingehauen? Stimmt’s?«
»So ungefähr. Das heißt …« Ich überlegte. »Hast du Zeit für eine kleine Geschichte?«
»Immer.«
»Also«, setzte ich an, »damals, als ich ernsthaft mit dem Schreiben loslegen wollte, kam ich nicht so recht voran. Ich schrieb und schrieb, aber es führte zu nichts. Dann erkrankte mein Vater an Alzheimer, und ich musste mich entscheiden, ob ich ihn unterstütze und die Firma übernehme, die sein Ein und Alles war. Es wäre mir wie Verrat vorgekommen, es nicht zu tun, zumal mein Vater nach Wirkstoffen gegen die Alzheimer-Krankheit forschte. Ich hatte Neurowissenschaften studiert, ich kannte mich einigermaßen mit der Materie aus. Ehrlich gesagt, interessierte mich die Sache auch. Und da ich mit dem Schreiben zuvor ja schon mehrmals gescheitert war, hatte ich das Gefühl, etwas Vernünftiges zu tun.«
Christopher klimperte ein paar Töne, und ich hörte einen Moment zu.
»Später ist es mir gar nicht in den Sinn gekommen, meine Schreibversuche wieder aufzugreifen. Ich hatte schlicht nicht die Zeit, nicht die Ruhe. Heute käme es mir fast schon egoistisch vor, mich ernsthaft mit irgendwelchen Geschichten herumzuschlagen.«
»Egoistisch? Inwiefern?«
»Inzwischen geht es ja nicht mehr nur darum, was ich möchte. Ich habe Frau und Kind, ich habe Mitarbeiterinnen, Mitarbeiter, um die ich mich kümmern muss.«
»Eben!«, sagte Christopher.
Ich kannte diesen Ton bei ihm, obwohl mir nicht ganz klar war, was er jetzt damit meinte. »Eben?«
»Nicolas, mein Lieber, das ist eine Möglichkeit, die Geschichte zu erzählen. Man könnte sie auch anders erzählen.«
»Wie denn zum Beispiel?«
»Man könnte auch sagen, dass niemand etwas davon hat, schon gar nicht die Familie, wenn eines ihrer Mitglieder Abend für Abend unzufrieden nach Hause kommt und für nichts einen Nerv hat, weil er zu tief in seinem eigenen Sumpf steckt. Weil er sich von dem, was ihn im Innersten umtreibt, allzu weit entfernt hat. Weil er meint, sein Wunsch zu schreiben hätte sich von allein erledigt, unbewusst aber treibt er ihn immer noch um. Verfolgt ihn in seinen Träumen. Und wie kompensiert er das, was er verpasst hat? Mit blinder Arbeitswut. Stress ist ihm vertrauter als die eigene Frau, und er klebt an seinem Handy, als enthalte es die Lösung all seiner Probleme. Aber was ist, wenn der Stress nur ein Vorwand wäre, ein Ablenkungsmanöver, um sich bloß nicht mit sich selbst zu konfrontieren? Fürchtet er sich davor herauszufinden, ob er das, wovon er träumt, verwirklichen könnte? Als junger Mensch ist er bereits einige Male gescheitert – ist es das, was ihn zurückhält? Weil er es nicht ertragen könnte, wenn sich herausstellte, dass er doch nicht aus dem gleichen Holz geschnitzt ist wie sein von ihm so bewunderter Onkel?«
Ich atmete tief durch. Eins musste man Christopher lassen: Er nahm kein Blatt vor den Mund. Und er war noch nicht fertig:
»Wenn du wirklich so sehr an deine Familie denkst, wie du behauptest, fehlt dir dann nicht ein wichtiger Baustein in deinem Konstrukt?«
Ich sah ihn fragend an.
»Du kennst doch diese Eltern, die ihren ganzen Ehrgeiz in ihre Kinder legen. Was sie selbst verpasst haben, das soll auf verquere Weise das Kind nachholen. Das Kind muss dann unbedingt diese und jene Medaille gewinnen, die sie nicht gewonnen haben …«
Ich stutzte. »Und du meinst, ich bin so?«
»Sie können nicht loslassen«, fuhr Christopher fort, ohne auf meine Frage einzugehen. »Sie sind immer noch dabei, ihr eigenes Problem zu lösen, nur lösen sie es jetzt am eigenen Nachwuchs. Ist nicht gerade das egoistisch?«
»Doch, ja«, gab ich zu.
»Müsste Erziehung nicht bedeuten, von sich selbst abzusehen und sich stattdessen ganz auf dieses einmalig neue andere Wesen einzulassen? Müsste es nicht heißen, einem heranwachsenden Menschen nach Kräften dabei zu helfen, seinen Wesenskern zu entfalten? Aber dafür müsste man loslassen, ich meine: wirklich loslassen können, oder? Und das ist wohl einfacher gesagt als getan.«
Ich seufzte. »Okay, ich verstehe. Du willst mir sagen, dass man irgendwie mit sich selbst im Reinen sein muss, bevor man sich auf andere einlassen kann.«
»Es kommt vielleicht noch mehr hinzu. Stell dir vor, jemand hat selbst durchlebt, was es heißt, zu jenem Menschen zu werden, der er im Innersten ist – was würde das wohl in diesem Menschen bewirken?«
»Worauf willst du hinaus?«
»Nun, er hat es selbst erlebt, Nicolas. Er hat gespürt, wie lebenswichtig es ist, das eigene Ich voll und ganz entfalten zu dürfen. Jemand, der diese Erfahrung gemacht hat, kann meines Erachtens gar nicht mehr anders: Er will geradezu, dass auch jene Menschen, die er liebt, werden, wer sie sind. Er hat keine bestimmten Pläne mehr für sie. Er will sie nicht mehr formen und kneten. Er will, dass auch sie werden, wer sie vom Kern ihres Wesens her sind.«
Ich schwieg.
Und Christopher schwieg auch, während ich mir seine Worte durch den Kopf gehen ließ.
Ich grübelte über mich selbst nach – über mich und über Julian. Über die Erwartungen, die ich an ihn hatte. Mit welcher Haltung ich häufig auf ihn zuging. Eine innere Stimme sagte mir, dass Christopher in mancher Hinsicht durchaus recht hatte. Eine andere Stimme hielt jedoch dagegen, vor allem, sobald es um mich ging, wie er meinen eigenen Werdegang interpretiert hatte. Als sperrte sich diese Stimme in mir gegen das, was Christopher mir letztlich nahelegte.
Irgendwann sagte ich: »Du hast recht, ich habe oft an meinen Onkel gedacht. Und ja, ich war sehr beeindruckt von ihm. Ich hatte mir immer vorgenommen, so zu leben wie er. Und dann ist mir irgendwie das Leben dazwischengekommen.«
»Was genau hindert dich denn daran, der zu werden, der du bist?«, fragte Christopher. »Oder genauer gesagt: Was hindert dich daran, diesen wesentlichen Teil von dir zu entfalten? Meinst du, er wird jemals Ruhe geben? Um welchen Preis? Und falls du mir jetzt mit der Familie und der Verantwortung und den ganzen Verpflichtungen kommst, die du hast: Ja, du hast Verpflichtungen, und ja, du trägst Verantwortung. Und nein, du bist nicht Valentin. Du bist du, und es geht nicht darum, ab jetzt ausschließlich zu schreiben und den Rest, der du auch bist, aufzugeben. Es geht um deinen Weg. Es kann für dich nur darum gehen, ganz du zu werden.«
Ich schüttelte den Kopf. »Weißt du, ich kann dir wirklich nicht sagen, woran es damals gescheitert ist. Es ist, als würde mir etwas fehlen. Ich meine, einfach so eine Geschichte zu erfinden, ist ja nicht das Problem. Mein Onkel aber war mehr als ein bloßer Geschichtenerzähler …«
»Was hatte er denn, was du nicht hast? Oder meinst, nicht zu haben?«
»Seine Geschichten hatten immer diesen emotionalen, persönlichen Kern. Jedoch verstand er es auf für mich rätselhafte Weise, diesen persönlichen Geschichten eine gewisse übergeordnete Bedeutung zu geben. Ich glaube, daran bin ich gescheitert. Eigentlich an beidem. Am persönlichen Kern und an der übergeordneten Bedeutung.«
Christopher nickte. »Tja, das klingt in der Tat nicht einfach. Das klingt nach Arbeit.« Er grinste. »Und natürlich kann man nie wissen, ob man das hinbekommt. Erst recht nicht, wenn man es nicht versucht. Das Ding mit den Träumen ist bekanntlich, dass sie nicht durchs bloße Träumen wahr werden, sondern durch hartnäckigen Einsatz.«
Erst lächelte ich, denn das war ja wohl mein Spruch gewesen. Dann seufzte ich. Womit ich eigentlich sagen wollte: Aber ich habe es doch versucht! Ich ahnte allerdings, dass Christopher diesen Einwand nicht würde gelten lassen.
Der fuhr seelenruhig fort: »Apropos Geschichten mit ›übergeordneter Bedeutung‹, wie du es formulierst. Mir fällt dazu eine kleine, inzwischen zu Recht sehr berühmte Geschichte ein.« Er ließ den Blick durch die Bibliothek schweifen und fixierte dann eines der vielen Regale. »Soll ich sie dir erzählen?«
Ich nickte.
»Die Geschichte handelt von einem Zirkuselefanten, der von klein auf mit einer eisernen Fußfessel an einem kleinen Pflock angekettet war. Der Elefant wurde groß und stark, er hätte ganze Bäume aus der Erde reißen können. Dennoch befreite sich nicht von dem kleinen Pflock, sondern ließ sich weiterhin anketten. Warum?«
»Vielleicht, weil er dressiert war?«
»Sicher war er dressiert worden. Nur, wäre er perfekt dressiert gewesen, warum hätte es dann noch der Kette bedurft?« Christopher nahm seine Champagnerschale, leerte sie und stellte sie neben meine eigene leere Schale auf den Flügel. Er lehnte sich mit dem Oberkörper ein Stück näher zu mir und sah mich eindringlich von der Seite an. »Also, sag’s mir, warum riss das Tier sich nicht los?«
Ich zuckte mit den Schultern.
»Stell dir vor, als junger Elefant hatte er genau das versucht. Aber da er noch klein gewesen war, hatte ihm dafür die Kraft gefehlt, und er war gescheitert. Der Kleine versuchte es immer wieder und scheiterte immer wieder. Bis er es irgendwann – und wer wollte es ihm verdenken? – aufgab. Aufzugeben war in seiner Lage nachgerade vernünftig, nicht wahr? Als er dann groß und stark wurde, kam es ihm gar nicht mehr in den Sinn, es noch einmal zu versuchen. Verstehst du? Der arme Kerl hätte sich jederzeit befreien können. Was ihn gefangen hielt, waren nicht die Kette und nicht der Pflock. Es war das Bild, das er sich vor langer Zeit von sich selbst gemacht hatte, als er selbst noch ein anderer war.«
Ich sah Christopher in die Augen und musste unwillkürlich lächeln.
»Die Geschichte ist nicht schlecht.«
»Hab ich mir doch gedacht, dass sie dir gefällt.«
Ich hätte wetten können, dass er sich nun wieder mit einem »Gute Nacht, mein Lieber« verabschieden würde, so unvermittelt wie die letzten Male auch, und ich fing schon an, ihn zu vermissen. Stattdessen blickte er auf die Champagnerschalen auf dem Flügel:
»Was sagst du, trinken wir noch was?«
»Gerne«, sagte ich lachend. »Sehr gerne!«
Und genau das taten wir dann.