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Abends im Wohnzimmer. Julian spielte vor dem Schlafengehen noch mit seinem Lego. Er baute völlig selbstvergessen vor sich hin, murmelte dabei Sätze, die nur er verstand, und ich sah den Spaß und zugleich den Ernst, mit dem er bei der Sache war.
Als er mich bemerkte, erklärte er mir seinen Plan: Er baue eine Villa mit einem Türmchen. Ich bot an, ihm dabei zu helfen.
Eine Weile bauten wir einträchtig an Julians Villa, bis er auf einmal anfing zu schimpfen. Er war ganz aufgebracht. Ich hatte den Bau des Türmchens übernommen und dabei wohl etwas nicht ganz richtig gemacht, verstand aber nicht, was. Der Turm war einwandfrei, eine absolut solide Konstruktion, es gab nichts daran auszusetzen.
Ratlos und ein bisschen genervt saß ich neben der Lego-Baustelle und sah zu, wie Julian verbissen – und immer noch schimpfend – weitermachte.
Früher wäre ich aufgestanden, hätte über sein
irrationales Verhalten den Kopf geschüttelt, ihn allein weitermachen lassen und mich meinen Mails zugewandt. Diesmal jedoch beschloss ich, einfach sitzen zu bleiben. Abzuwarten. Um zu sehen, was er vorhatte.
Irgendwann holte er schweigend eines seiner Comic-Hefte und fing im Stehen an zu blättern. Blätterte bis zu einer bestimmten Seite, setzte sich neben mich und hielt mir das Heft hin. Zeigte mir die »Villa Mystica« seines Superhelden Agent C. Mit seinem kleinen Zeigefinger tippte er auf das Türmchen der großen, verwinkelten Villa. »Siehst du, Papa, dein Türmchen sieht überhaupt nicht so aus. Du hast mir meine ganze Villa Mystica kaputtgemacht.«
Es war vielleicht bloß eine Kleinigkeit, und doch kam es mir wie eine Offenbarung vor, wie ein Blick in die Seele meines Kindes: Das, was ich bis vor kurzem noch als kindisch und irrational abgetan hätte, ergab aus seiner Sicht perfekten Sinn. Es lag nur an mir, diesen Sinn zu erkennen.
In dem Moment wurden mir die Augen geöffnet für etwas, wofür ich zuvor blind gewesen war. Mir wurde klar, dass vermutlich alles, was er tat, einem verborgenen Drehbuch entsprang, seinem Drehbuch, das ich nicht kannte. Alles hatte seine kindliche Julian-Logik, und was er tat, war nicht
irrational, sondern folgte lediglich Regeln, die mir weitgehend verborgen waren. Ich musste nur besser hinsehen, mehr Zeit in seiner Welt verbringen, dann würden sich diese Regeln und Gesetze auch mir offenbaren …
Ich ließ mir also von Julian alles haarklein über seinen Helden und dessen Villa samt Türmchen berichten, und irgendwann nach dieser Aufklärung durfte ich auch wieder mitbauen – und da, auf einmal, spürte ich, wie in meinem Kopf eine Idee aufkeimte.
Ich saß da, in der Hand einen blauen Legostein, als mein Herz plötzlich schneller schlug.
Langsam wurde die vage Idee konkreter und ergriff gleichsam körperlich von mir Besitz, noch ehe ich sie überhaupt zu Ende gedacht hatte. Ich rappelte mich hoch und suchte nach meinem Notizbuch und einem Stift, fast ängstlich, mir könnte alles wieder entgleiten, wenn ich die Sache nicht auf der Stelle festhielt.
Ich rannte durchs Wohnzimmer, vom Wohnzimmer übers Atrium in die Küche und wieder zurück. Wo steckte bloß dieses verflixte Notizbuch? In meiner Verzweiflung griff ich schließlich nach dem erstbesten Blatt Papier, das auf dem Esstisch lag, und fing an, wie besessen zu kritzeln. Zunächst nur Stichworte, aber das musste einstweilen genügen.
Nachdem ich innerhalb kürzester Zeit alles aus mir herausgeschrieben hatte, starrte ich gebannt auf das Blatt, auf die nahezu unleserliche Schrift.
»Papa, wieso baust du denn gar nicht mehr?«
Ich atmete tief durch. Ich hatte zwar keine Ahnung, was daraus werden würde, ob überhaupt etwas daraus werden würde, aber es fühlte sich gut an. Nein, mehr als gut – es war elektrisierend.
»Papa?«