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Ich war erstaunt, wie schnell ich dann doch vorankam, als ich mich erst einmal in die Geschichte hineingefunden hatte. Es war aber auch nur eine überschaubare Erzählung, die ich zu schreiben versuchte, und ich wollte, musste ja auch zurück zur Firma, zu meinem neuen Partner …
Allerdings hatte ich mich so an das Leben hier gewöhnt, an die Familienzeit, an die Nähe zu Julian und die Abende mit Valerie, dass ich mich mehr und mehr mit Valeries Vorschlag dieses gemeinsamen Buchprojekts anfreundete. Jedenfalls spürte ich, dass ich nicht mehr einfach so in mein altes Leben zurückkehren wollte. Ich wollte nicht mehr immer nur in der Firma sein. Vor allem wollte ich die Zeit, die mir noch verblieb, mehr mit Julian und Valerie verbringen. Ich hatte schon zu viel verpasst, und ich wollte nicht noch mehr verpassen.
Natürlich war uns klar, dass wir jetzt erst mal zurückmussten. Die Methusalem-Produktlinie musste
auf einen guten Weg gebracht werden, und ich freute mich auf die weitere Zusammenarbeit mit Michael und die neue Rollenverteilung.
Und doch wusste ich tief in mir drin, dass das Unternehmen meines Vaters nicht länger diesen alles dominierenden Stellenwert in meinem Leben einnehmen würde. Nein, Weynbach Pharmaceuticals
würde auch gut dastehen können, ohne dass ich mich 24 Stunden am Tag darum kümmern musste.
Wie also würde es von hier an weitergehen? Die Wahrheit war: Ich wusste es selber nicht, und eben das gefiel mir.
Ich hatte ja auch keine Ahnung, wie gut das alles mit dem Schreiben klappen würde. Ich hatte keine Ahnung, ob meine eigene kleine Geschichte etwas taugte, und ebenso wenig, ob das Buchprojekt mit Valerie – sollten wir es tatsächlich in Angriff nehmen – letztlich gelingen würde. Ich wusste von Valentin, wie risikoreich auch dieses Metier war. Aber ich war bereit, das Risiko einzugehen, das ja auch ein Abenteuer war. Und dass sich in diesem Abenteuer die eine oder andere Hürde auftun würde, das war mir ebenfalls klar. Die Hürden würden mir ja dann die Gelegenheit bieten, zu zeigen, wie sehr mir das Abenteuer wirklich am Herzen lag.
Wie auch immer, ich hatte die vergangenen
Nächte praktisch durchgehend an meinem Laptop verbracht, und irgendwann wurde mir bewusst, dass ich auf diese Weise ein Wiedersehen mit Christopher verhindert hatte. Er war nicht wieder aufgetaucht. War Christopher nicht mehr zu treffen der Preis, den ich zahlen musste, um meine Geschichte zu Ende zu schreiben?
*
In einer Nacht schließlich, kurz vor unserer Abreise aus der Villa, schrieb ich die letzten Zeilen, schrieb, bis mir vom Schreiben regelrecht schwindlig wurde. Endlich lehnte ich mich erschöpft in meinem Stuhl zurück.
Es war ein merkwürdiges Gefühl. Man hätte meinen können, ich sei einfach nur glücklich und erleichtert darüber, meine Geschichte fertiggestellt zu haben, und das war ich auch. Gleichzeitig stimmte es mich melancholisch. Als hätte ich nach langer Zeit endlich etwas gefunden, wo ich ganz bei mir sein konnte, und nun war es schon wieder vorbei …
War ich noch wach, oder war ich, ohne es zu merken, am Esstisch eingeschlafen? Plötzlich schreckte ich durch eine sanfte Berührung auf, und direkt neben dem Tisch stand – Christopher.
»Nicolas, mein Lieber, ich wollte dich nicht erschrecken. Eigentlich wollte ich mich bloß von dir verabschieden. Sofern das möglich ist.«
Etwas benommen versuchte ich, den Sinn seiner Worte zu verstehen. »Was? Wieso? Was meinst du mit verabschieden?«
»Für mich wird es Zeit zu gehen.«
»Gehen, wohin denn?« Ich wusste nicht, was ich sonst sagen sollte. Hilflos schob ich nach: »Wieso musst du gehen?« Wir waren doch gerade erst dabei, uns kennenzulernen. Er mochte inzwischen so manches über mich wissen. Aber was wusste ich eigentlich über ihn?
»Ich bin ja nicht ganz aus der Welt«, sagte er und deutete in meine Richtung. Hatte er meinen Laptop gemeint?
Ich sah auf den Bildschirm. »Das ist ja wohl nicht dasselbe«, sagte ich, und in meiner Hilflosigkeit versuchte ich, einen Scherz zu machen. »In deiner Gesellschaft schmeckt der Champagner entschieden besser als zwischen den Zeilen.«
Christopher lachte. »Da stimme ich dir voll und ganz zu. Nur, meinst du nicht, dass ich mehr bin als bloß eine Figur in einem Buch? Mir scheint, ich bin dir näher, als du ahnst.«
Näher, als ich ahnte? Was sollte das heißen? Ich sah in sein Gesicht, in dieses unendlich gutmütige
Gesicht mit dem kurzen, grau gesprenkelten rötlichen Bart. Es war das Gesicht jenes Menschen, der in diesem Sommer so unerwartet in mein Leben getreten war und mir im Vorbeigehen ein neues Lebensgefühl geschenkt hatte. Als hätte er für mich ein Fenster aufgestoßen, das ich aus eigener Kraft nicht aufbekommen hätte.
Ich weiß gar nicht, zu wem er mich mehr geführt hatte: zu mir selbst oder zu meiner Familie, und vielleicht ging ja das eine mit dem andern auch Hand in Hand. In gewisser Weise war ich getrennt von Julian und Valerie hier in diese Villa gekommen, und bald würden wir zusammen wieder nach Hause fahren, und das hatte ich ihm, Christopher, zu verdanken.
Ich wollte ihm das unbedingt sagen. Mich bei ihm für all das, was er mir gegeben hatte, bedanken. Doch da sagte er plötzlich: »Bis dann, mein Lieber.«
Seine Worte versetzten mir einen Stich. Ich konnte nicht glauben, dass er wirklich gehen würde. Dass ich mich wirklich von ihm verabschieden musste. Und doch ahnte ich, dass es sinnlos war, mich dagegen zu wehren. Ich spürte, dass er gehen würde, warum auch immer, wohin auch immer. Zumindest hatte ich diesmal die Gelegenheit, mich ordentlich zu verabschieden, und dafür
war ich dankbar. Und während ich so in meinem Kopf noch nach den richtigen Worten suchte, kam Christopher mir bereits zuvor und meinte:
»Ach, eins noch, fast hätte ich es vergessen: Nenn mich doch bitte nicht Nicolas.«
»Was?«
»Nicolas, der Name. Kannst du dir keinen anderen einfallen lassen?«
»Wieso? Mir gefällt der Name.«
»Dann nenn dich doch selbst so.«
Ich überlegte. »Und wie soll ich dich dann nennen?«
»Tja, mein Lieber, es ist deine Geschichte, aber wenn du mich schon fragst …« Er blickte an mir vorbei. Dann wandte er sich mir erneut zu und sagte: »Was hältst du von – Christopher?«
Ich zögerte. Christopher … Ich ließ mir den Namen durch den Kopf gehen. Irgendwann fing ich an zu nicken. »Vielleicht hast du recht. Christopher. Ja, ich glaube, das hätte meinem Onkel gefallen.«
»Das glaube ich aber auch, Nicolas.«
Und in diesem Moment, mit einem letzten verschmitzten Lächeln auf den Lippen, verschwand er. Christopher, meine ich.