EINS
A lejandra, du wirst noch zu spät zur Schule kommen“, ruft mir Janessa zu und verwendet dabei meinen vollen Namen. Ich seufze und beschließe, sie zu ignorieren. Ihr wird es egal sein. Sie hat ihre Aufgabe erledigt und mich an die Uhrzeit erinnert, wie mein Vater es ihr sicherlich aufgetragen hat. Mein Vater. Gerald Ulrich als irgendjemand anderen und nicht als einen völlig Fremden anzusehen, ist… seltsam.
Ich nage an der Unterlippe und starre mich in dem großen Ganzkörperspiegel an. Innerlich wappne ich mich für den ersten Tag an einer neuen Schule, in einer neuen Stadt, mit einer neuen Familie. Denn mein Leben war anscheinend noch nicht schwer genug gewesen.
Tränen brennen mir in den Augen, aber ich zwinkere sie entschlossen fort. Komm schon, Allie. Reiß dich zusammen. Ich werde nicht zulassen, dass ich weine. Nicht heute. Nicht morgen. Nie wieder.
Wenn ich damit anfange, dann kann ich vielleicht nicht aufhören.
Ich atme zittrig ein und lasse mein Aussehen auf mich wirken. Ich sehe ganz okay aus, schätze ich. Nur, dass das Mädchen, das mir aus dem Spiegel entgegenblickt, kein bisschen wie die Alejandra Ramirez aussieht, die ich in den letzten siebzehn Jahren gewesen bin. Sie sieht vornehmer aus. Reicher. Ehrlich gesagt, sieht die im Spiegel wie eine eingebildete Zicke aus.
Ich sehe absolut nicht wie ich selbst aus. Ich trage weiße Skinny-Jeans, die so eng sind, dass sie wie auf meinen Körper gemalt wirken. Und dazu ein hellrosa Top mit Blumenmuster. Es hat durchsichtige Flatterärmel und zeigt einen schmalen Streifen meines gebräunten Bauches. Es ist unglaublich feminin. Wenn mich mein bester Freund, Julio, jetzt sehen könnte, würde er vor Lachen wahrscheinlich zusammenbrechen. Das ist echt nicht mein Look.
Nicht, dass das hier irgendjemanden interessieren würde.
Zu Hause wäre ich einfach nur mit zerrissenen Jeans, einem alten Band-T-Shirt, einem viel zu großen Hoodie und schwarzen K-Swiss-Sneakern zur Schule gegangen. Mit weißen Sneakern, falls ich mal schick aussehen wollte. Völlig ok, wenn ich die Haare zu einem schlampigen Knoten zusammengebunden und meine goldenen Kreolen getragen hätte. Und dazu noch etwas Eyeliner für Katzenaugen, aber das wär’s mit der Schminke schon. Verdammt, an den meisten Tagen habe ich nicht einmal Eyeliner verwendet. Ich war meistens ein bisschen burschikos. Bin ich immer noch.
Doch wenn ich mich jetzt so ansehe, dann würde man das nie erraten.
Letzte Woche, als ich meinen biologischen Vater kennengelernt habe, hat er in seinem edlen, grauen Anzug nur einen Blick auf mich geworfen und seine Oberlippe sofort angewidert verzogen. Ein Mädchen, das nicht nach Mädchen aussieht, ist nicht annehmbar. Ich müsse glaubwürdig wirken, hat mir Janessa, seine persönliche Assistentin, bis jetzt nun schon dreimal zu verschiedenen Gelegenheiten an drei Tagen hintereinander erklärt. Ich bin Gerald Ulrichs Tochter, nicht irgendeine Chola vom heruntergekommenen Ende der Stadt. Gerald ist ein bekanntes Mitglied dieser Gemeinde und Geschäftsmann. Gerald hat ein protziges Auto und viel Geld. Und wahrscheinlich hat er ausschließlich schwarze Kreditkarten in seiner Brieftasche.
Seine Tochter muss bestimmten Erwartungen entsprechen.
Und hier bitte einmal die Augen verdrehen und eine riesige Portion Sarkasmus einfügen.
Bis vor einer Woche war ich seine entfremdete und vergessene Tochter.
Jetzt nicht mehr.
Nicht, seit Mom gestorben ist.
Ich reibe mir die Brust, wo der Schmerz sitzt. Warum hast du all das vor mir verborgen, Mom? Dafür muss es einen Grund gegeben haben.
Man sollte denken, der Typ hätte etwas Nachsicht mit mir, nach allem, was ich durchgemacht habe. Dass er…, dass er sich vielleicht bemühen würde, mich kennenzulernen.
Ich blase genervt die Luft aus und versuche, den aufflackernden Schmerz in meiner Brust zu unterdrücken. Mom kann meine Fragen nicht beantworten. Sie ist tot, und ich bin hier.
Die Gefühle schnüren mir die Kehle zu.
Verdammt. Ich weigere mich, mich wieder von der Trauer überschwemmen zu lassen. Es sollte mir egal sein, dass ich dem Typen nicht gut genug bin. Immerhin bin ich hier. Das bedeutet doch etwas, oder? Ich meine, genau genommen hat er darum gekämpft, mich hier bei sich zu haben.
Er hätte mich in Richland lassen können. Den Rest des Abschlussjahres wäre ich in einer Pflegefamilie untergebracht gewesen. Obwohl, wenn ich ganz ehrlich bin, ich mir nicht sicher bin, ob das besser wäre. Aber wenigstens könnte ich dann in meiner Heimatstadt sein. Ich hätte Julio und Gabe und Felix – meine Freunde – Menschen, die sich tatsächlich für mich interessieren.
Aber Minderjährige haben bei solchen Dingen kein Mitspracherecht.
Wenn Mom hier wäre, würde sie mir sagen, ich soll stark sein. Tapfer sein. Sie sollte hier sein. Aber sie ist es nicht, also muss ich allein tapfer sein.
Alles klar. Ich schaffe das.
Mir bleibt gar nichts anderes übrig.
Janessa hat mir das Outfit für den ersten Schultag und auch den Rest meiner neuen Garderobe besorgt, weil mein Zeug in dem Brand vernichtet wurde. Genau genommen ist es auch nicht der erste Schultag. Ich wechsele gegen Ende des ersten Trimesters zur Sun Valley High, doch für mich ist es mein erster Tag an dieser Schule.
Juhu!
Ich hasse das Outfit. Die Kleidung. Die Schminke und das Parfüm. Aber als ich gegenüber Janessa angedeutet habe, dass das eigentlich nicht mein Stil ist, hat sie so finster drein geschaut, als ob ich sie beleidigt hätte. Und dann hat sie mich daran erinnert, dass ich die Vergangenheit loslassen müsse.
Sie wollte mich mit ihren Worten nicht verletzen. Zumindest glaube ich das. Janessa kommt mir nicht wie ein grausamer Mensch vor. Aber sie denkt, dass mein Leben davor unter meiner Würde war. Des Namens Ulrich unwürdig. Und sie ist nur die Assistentin meines biologischen Vaters.
Nachdem sie mir erzählt hatte, was für ein Glück ich doch hätte, wieder mit meinem Vater vereint zu werden, beschloss ich, dass es leichter wäre, einfach zu allem Ja und Amen zu sagen und keinen Ärger zu machen. Es ist das Abschlussjahr. Bald bin ich achtzehn und nach dem Abschluss kann ich in mein altes Leben zurückkehren. Ich kann dieses Haus verlassen. Diese Stadt. Diese Leute.
Und dann werde ich trauern.
Ich löse meine langen dunkelbraunen Haare und benutze das Glätteisen, das mir Janessa gegeben hat, um sie in glatte, glänzende Strähnen zu verwandeln. Anschließend trage ich Make-Up auf.
Ich muss einen guten ersten Eindruck machen.
Mit ein wenig Concealer verstecke ich die Augenringe, die ich vom Schlafmangel habe. Etwas Rouge und Bronzer, um meine Blässe zu verbergen, Mascara und transparentes Lipgloss, damit ich ein bisschen frischer wirke. Janessa wäre sehr angetan.
Das bin ich nicht. Ich hasse es. Andererseits möchte ich im Moment auch nicht ich selbst sein. Ich will nicht das Mädchen sein, dessen Mom gestorben ist. Das Mädchen, deren Freund am selben Abend mit ihr Schluss gemacht hat. Oder das Mädchen, das ihre einzige Freundin an genau diesen Freund verloren hat. An den Mistkerl, der mich betrogen hat. Mit ihr. Und jetzt fange ich an einer neuen Schule an und lebe bei einem Vater, den ich kaum kenne. Das setzt meinem wunderbaren Leben noch ein Sahnehäubchen auf.
Meine Schultern sinken nach unten. Ich schnappe mir den neuen hellrosa Rucksack – echt nicht meine Farbe – und rutsche mit den Füßen in ein Paar Lauren Sneaker von Chloé. Sie haben fast fünfhundert Dollar gekostet.
Wie affig ist das denn? Wer gibt schon fünfhundert Dollar für Schuhe aus? Das ist so viel wie die Miete. Na ja, vielleicht nicht so viel. Doch es reicht, um Strom, Gas und Wasser zu bezahlen.
Mir entweicht ein Seufzer. Ich weiß, ich sollte dankbar sein. Sie sind schön. Aber ich fühle mich nicht wohl mit dem ganzen Geld und dem teuren Zeug. Ich hatte früher so etwas nicht. Mom war alleinerziehend. Sie hat zwei Jobs gemacht, damit wir über die Runden kamen. Und ich habe meine Klamotten bei Ross oder Target gekauft. Das Gesicht, das Janessa gezogen hat, als ich vorgeschlagen habe, wir könnten dort einkaufen, um meine Sachen zu ersetzen!
Ich verlasse mein Zimmer, flitze die Treppe herunter und schnappe mir in der Küche eine Tasse Kaffee. Janessa steht an der marmornen Kücheninsel und lächelt breit. Von Gerald ist nichts zu sehen. Sie reicht mir einen Kaffeebecher zum Mitnehmen. „Hier, Süße. Ich habe dir Kaffee gemacht. Wir müssen los, damit du an deinem ersten Tag nicht zu spät kommst.“
Ich nicke und schaue mich noch kurz im Raum um, bevor ich ihr folge und einen Schluck von dem widerlich süßen Kaffee nehme. Igitt. Ich trinke meinen Kaffee schwarz, nicht mit dem aromatisierten Kram, den sie in den Becher gekippt haben muss. Ich hätte gut Lust, das Zeug wegzuschütten und mir einen neuen Kaffee einzugießen. Aber ich tu’s nicht. Das wäre unhöflich .
Janessa bemerkt meinen suchenden Blick und beantwortet die unausgesprochene Frage. „Dein Vater ist schon im Büro. Sein Terminplan ist ziemlich voll, und deine Ankunft war nicht“, sie hält inne, „geplant.“
Ich presse meine Lippen zu einer schmalen Linie zusammen. Nein, das war sie sicher nicht. Ich wette, er war total begeistert, als er vom Jugendamt diesen Anruf erhielt. Ich war die erste Woche, nachdem Mom gestorben war, bei Julios Familie geblieben, während er die Vaterschaft prüfen ließ. Mein guter, alter Dad musste auf Nummer sicher gehen. Ich hatte gehofft, dass ich das gesamte Abschlussjahr bei meinem besten Freund bleiben könnte. Julios Eltern wären mit der Idee einverstanden gewesen. Aber sobald Gerald Ulrich durch das Testergebnis als mein Vater bestätigt wurde, kam diese Option nicht mehr infrage.
Er wollte mich haben. Immerhin etwas, rufe ich mir ins Gedächtnis. Ich bin erwünscht. Auch, wenn er sich immer noch nicht so benimmt.
Draußen steige ich in Janessas weißen Porsche Taycan 4S ein. Er liegt lächerlich tief und kostet mehr als mein altes Haus. Ich habe sie gegoogelt. Die Kosten ihres Autos. Ich weiß nicht, wie viel ihr Gerald dafür zahlt, seine persönliche Assistentin zu sein, aber es muss eine Menge sein, wenn sie sich so ein Auto leisten kann. Von den wenigen Malen ausgehend, bei denen ich sie zusammen mit Gerald gesehen habe, wäre ich allerdings nicht überrascht, wenn sie mehr als nur seine Assistentin wäre. Ist wohl eher eine Büroromanze. Voll das Klischee.
Er ist zweiundfünfzig, und sie hat gerade erst ihren Uniabschluss gemacht. Sie könnte locker meine große Schwester sein. Aber wer bin ich schon, um das zu verurteilen?
Vor einer Woche ahnte ich nicht einmal, dass ich einen Vater habe. Ich meine, mir war klar, dass jemand zu meiner Geburt und all dem beigetragen haben muss, doch ich wusste nicht, dass er irgendwo da draußen war und er von mir wusste. Um ehrlich zu sein, habe ich irgendwie immer angenommen, er sei gestorben. Und das war für mich in Ordnung.
Mom hat nie über ihn geredet, und ich war nicht eines dieser Kinder, die das Gefühl hatten, ohne ihren Vater entgehe ihnen etwas. Sie war immer genug gewesen.
Tränen brennen in meinen Augen, und ich schiebe die alten Erinnerungen zur Seite.
Es dauert zwanzig Minuten, um zur Sun Valley Highschool zu gelangen. Janessa schwafelt über irgendwelchen Blödsinn, und ich höre ihr den Großteil der Fahrt gar nicht zu. Als sie auf den Schulparkplatz fährt, sticht ihr Porsche unangenehm hervor, und alle Augen richten sich auf uns, während sie parkt. Ich schlucke schwer und will mich zügig abschnallen. Sie zieht die Handbremse, als ob sie plane, mit mir hereinzukommen. „Ich komme schon klar“, versichere ich ihr. „Ich bin ein großes Mädchen.“ Ich schnappe meine Tasche, lasse absichtlich den Kaffee zurück und öffne schnell die Tür-
„Aber es ist dein erster Tag. Ich kann mit dir reingehen. Ich bin sicher, dass es Papierkram gibt und –“
„Es ist okay. Ich mache das schon.“ Die Blicke der an mir vorbeigehenden Schüler entgehen mir nicht. Manche sind neugierig, aber die meisten sehen genervt aus. Ich will nicht, dass dieses genervt sein in Verachtung umschlägt. Und ich möchte nicht, dass ich als Snob abgestempelt werde.
Ich musste Gerald darum betteln, mich zur Sun Valley High gehen zu lassen. Er hatte mich zur Suncrest Academy schicken wollen. Die beste Privatschule in der Region und die Highschool, die landesweit den drittbesten Ruf hat. Die Vorstellung, dass ich eine öffentliche Schule mit all den Assis der Stadt besuche, behagt ihm nicht. Seine Worte, nicht meine. Aber seitdem ich diese Debatte gewonnen habe, habe ich ihm bei nichts anderem widersprochen. Nicht bei der Kleidung. Nicht bei den Wohnbedingungen. Nicht bei den Regeln – ich erkenne eine verlorene Schlacht, aber er hatte nachgegeben und mir diese eine Sache zugestanden. Und Janessa wird mir das gleich ruinieren.
„Bist du sicher? Dein Vater wäre nicht froh, wenn –“
„Ich komme klar. Versprochen.“ Ich schlage die Tür hinter mir zu und gebe ihr keine Gelegenheit für weitere Kommentare. Ich eile über den Parkplatz zum Haupteingang der Schule. Ein großes rotes Teufelsmaskottchen starrt auf mich herunter.
Willkommen in der Sun Valley High, Heimat der roten Teufel.
Ich gehe durch die offenen Türen. Eine ungute Vorahnung überkommt mich, aber ich unterdrücke das Gefühl.
Ich schaffe das.
Mom war stark. Ich kann auch stark sein.
Ich muss einfach nur einen Tag nach dem anderen angehen.