ZWEI
D ie Schule ist Ende letzter Woche über meine Ankunft informiert worden, weshalb schon alles vorbereitet ist. Ich bekomme den Stundenplan vom Beratungslehrer, Mr Kemp, und dazu noch ein paar Formulare, die ich nach Hause mitnehmen und von Gerald unterschreiben lassen soll. Mir werden ein Spind und eine Zahlenkombination zugeteilt. Aber wenn es an der Sun Valley High auch nur ansatzweise wie in meiner alten Schule zugeht, dann wird der Spind den Großteil des Jahres sowieso leer stehen. Ich schleppe stattdessen meine Bücher im Rucksack zwischen den Klassenzimmern hin und her. Das spart Zeit.
Da das Schuljahr an der Sun Valley High in drei Abschnitte unterteilt ist, habe ich nur vier Unterrichtsfächer: Englisch, Analysis, Spanisch 4 und Schweißen. Analysis wird schwer werden. Mathe war nie meine Stärke. Aber beim Rest sollte ich schnell aufholen können.
„Ihre, ähm, Janessa hat mich über Ihre… Situation informiert“, sagt Mr Kemp mit einem mitfühlenden Stirnrunzeln im Gesicht. „Wenn Sie mit irgendjemandem reden möchten, steht Ihnen mein Büro jederzeit offen.“
Wie immer die fleißige Assistentin. Janessa hat sich um alles gekümmert, einschließlich des Ausplapperns meiner Angelegenheiten. Wunderbar.
„Danke.“ Ich nicke, auch wenn ich nicht vorhabe, sein Angebot anzunehmen. Aber Mr Kemp wirkt ziemlich sympathisch. Er ist jünger als die meisten Lehrer, die ich hier bis jetzt gesehen habe. Ende zwanzig, Anfang dreißig vielleicht. Er hat rötlich braune Haare und dunkelblaue Augen. Er ist recht attraktiv und hat ein nettes Lächeln. Den vielen Schülern nach zu urteilen, die ihm Begrüßungen zurufen, als sie an seiner Bürotür vorbeilaufen, scheint er einer der coolen Lehrer zu sein. Viele „Hey, Mr K.“, klingen in den Raum. Aber ich brauche keine Schulter zum Ausweinen, und mir ist es lieber, wenn ich keine Beziehungen zu Beratungslehrern aufbaue. Sie neigen dazu, alles merkwürdig zu machen. Ich habe das in meinem ersten Highschool-Jahr herausgefunden und verspüre nicht den Wunsch, das zu wiederholen.
Außerdem ist er ein Fremder. Ich habe mich nicht einmal meinem neu gefundenen Vater anvertraut. Warum um alles in der Welt sollte ich mich dann ihm anvertrauen?
Das Vorklingeln zeigt an, dass die erste Stunde gleich beginnt. Ich stehe auf, um zu gehen und stecke dabei meinen Stundenplan in die Hosentasche. Bevor ich das Büro verlassen kann, schlendert ein Junge mit wiegendem Gang herein. Ich bin mir sicher, das spöttische Grinsen ist ihm permanent ins Gesicht geklebt. Er nickt Mr Kemp grüßend zu und lässt sich dann auf den Stuhl fallen, von dem ich gerade aufgestanden bin. Mich würdigt er keines Blickes.
Unhöflich. Wie auch immer. Ich bin neu hier. Wenn es in der Sun Valley High wie in praktisch jeder anderen Highschool in Amerika zugeht, dann werden mich die Schüler hier nicht mit offenen Armen empfangen. Aber das geht in Ordnung. Ich muss hier keine Freunde finden. Ich habe Julio, Gabe und Felix, zu denen ich zurückkann. Ich habe nicht vor, hier noch lange zu bleiben, wenn ich erst mal den Abschluss habe.
„Mr Valdez. Was verschafft mir das Vergnügen?“, sagt Mr Kemp streng, aber mir entgeht nicht, dass sich seine Mundwinkel leicht nach oben ziehen. Ich weiß sofort, dass dieser Kerl, Valdez, jemand ist, der viel Zeit in diesem Büro verbringt. Er strahlt eine selbstgefällige Feindseligkeit aus, aber Mr Kemp scheint sich davon nicht beirren zu lassen. Er wirkt… amüsiert.
Als der Junge endlich in meine Richtung schaut, mustert er mich von oben bis unten und verzieht angewidert seine Oberlippe. Er murmelt unterdrückt „Chiflada“ und rollt dabei seine hübschen braunen Augen.
„Hey!“, blaffe ich. Er kennt mich nicht, und es ist mir egal, wie süß er ist. Ich bin kein verwöhntes Balg.
Er grinst höhnisch und dreht sich mit einem gelangweilten Gesichtsausdruck wieder zu Mr Kemp um, ohne auch nur auf meinen Ausruf zu reagieren.
„Roman.“ Eine Warnung liegt darin, aber dem Jungen scheint das egal zu sein.
Mr Kemp wartet.
Meine Wangen werden heiß, und ich vibriere regelrecht vor Wut.
„Was denn? Schauen Sie sie doch an.“ Roman zuckt mit den Schultern. „Ich sage einfach nur ehrlich, was ich sehe.“
Ich beiße mir auf die Unterlippe, um ihn nicht wieder anzuschnauzen. Dann mache ich kehrt, um zu gehen. Das habe ich nicht nötig.
„Miss Ulrich“, ruft Mr Kemp.
Ich erstarre. „So heiße ich nicht.“ Mein Tonfall ist schärfer, als ich beabsichtigt hatte, aber die Worte stimmen. Ich heiße nicht Ulrich. Gerald will, dass ich seinen Nachnamen annehme. Er ist irgendein großes Tier in der Stadt und glaubt, dass mir sein Name Türen öffnen wird. Doch ich will ihn nicht. Ich habe die letzten siebzehn Jahre Alejandra Ramirez – Spitzname Allie – geheißen. Ich werde das weder in diesem Leben noch in meinem nächsten ändern.
Roman zieht eine Augenbraue hoch. Plötzlich zeigt er Interesse an unserem Wortwechsel.
„Entschuldigung. Alejandra.
„Allie“, korrigiere ich ihn nochmals.
Er verzieht das Gesicht und nickt mit dem Kopf zu dem Typen. „Allie, das ist Roman, er ist genau wie Sie im Abschlussjahr. Und er hat zufällig auch in der ersten Stunde Englisch.“ Und warum sollte mich das interessieren? „Er wird Ihnen zeigen, wo Sie Ihre erste Stunde haben und Ihnen beim Eingewöhnen helfen. Sehen Sie ihn für diese Woche als Ihren Fremdenführer an.“
Mein Kiefer klappt nach unten, und mir entgeht nicht der Blick, den er Roman zuwirft. Das ist keine freiwillige Aufgabe. Ich glotze Mr Kemp mit offenem Mund an, bevor ich die Sprache wiederfinde. „Nein, danke. Ich komme schon zurecht“, versuche ich und wedele abwehrend mit der Hand.
Er stößt ein Seufzen aus, lehnt sich in seinem Stuhl nach hinten und ignoriert mich völlig. Seine Augen sind auf Roman gerichtet, der immer noch diesen gelangweilten Gesichtsausdruck zur Schau trägt. „Sie sind hier, weil Sie Ihre Klappe wieder zu weit aufgerissen haben?“
Roman zuckt mit den Schultern. „Schon möglich.“
Ich verdrehe die Augen. Er ist absolut einer von diesen Kerlen. Wahrscheinlich ist er auch einer der Spitzensportler der Schule. Er wirkt wie ein sportlicher Typ. Breite Schultern, muskulös. Unter seinem Shirtkragen blitzt außerdem der Ansatz eines Tattoos hervor. Er ist einer von den wilden, rebellischen Typen und stellt sicher, dass das jeder weiß. Sogar seine Lehrer.
Ich habe keine Zeit für solche Kerle.
Mr Kemp lächelt. „Nun gut. Statt des üblichen Nachsitzens haben Sie jetzt das Vergnügen, Allie herumzuführen und ihr dabei zu helfen, dass sie sich willkommen fühlt. Sie ist neu an der Sun Valley High und kennt niemanden. Seien Sie ausnahmsweise mal ein vorbildlicher Schüler und unterstützen Sie das Mädchen.“
„Ist schon gut“, sagt Roman. „Ich sitze lieber nach.“
Gott sei Dank.
Mr Kemp verschränkt die Arme vor der Brust und hebt eine Augenbraue. „Sind Sie sich da sicher? Sie sind in diesem Trimester zum dritten Mal in meinem Büro, was bedeutet, dass Sie eine volle Woche nachsitzen müssen und nicht nur wie sonst einen Tag. Sie werden eine ganze Woche lang das Training verpassen…“ Er spricht nicht weiter und wirft Roman einen wissenden Blick zu.
Roman flucht. „Das ist doch scheiße.“ Er springt von seinem Stuhl. „Das können Sie nicht machen, Mr K.“
„Mir sind die Hände gebunden“, sagt dieser und hebt ebendiese beschwichtigend. „Sie sind derjenige, der seine Klappe nicht halten kann. Nun, normalerweise biete ich keine Alternativen an, aber ich will Coach Samsons Zorn genauso wenig auf mich ziehen wie Sie. Also wofür entscheiden Sie sich, Mr Valdez? Das Mädchen oder Nachsitzen?“
Roman wirft mir einen vernichtenden Blick zu.
„Moment mal, habe ich hier denn gar kein Wörtchen mitzureden?“ Ich brauche diese Art Aufmerksamkeit nicht, die ich damit auf mich ziehen werde. Ich habe vor, in der Menge unterzutauchen und hier an der Sun Valley ein Niemand zu sein. Ich habe nicht das Gefühl, dass jemand, der mit diesem Roman zu tun hat, unbemerkt bleibt. Er ist sportlich, gutaussehend und arroganter als jeder andere Typ, der mir je über den Weg gelaufen ist. Und das kann nur eines bedeuten: Er ist beliebt. Ich hänge nicht mit den beliebten Schülern herum.
„Nein“, sagen beide Männer gleichzeitig.
Grrrr!
Das ist so unfair. Warum werde ich für das Verhalten dieses Kerls bestraft?
Nach mehreren angespannten Sekunden murmelt Roman: „Meinetwegen.“ Er stürmt an mir vorbei, und als ich ihm nicht unverzüglich folge, wirft er mir von der Tür aus einen wütenden Blick zu. „Kommst du, oder was? Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit, Vanille.“
Ich beiße mir auf die Zunge, aber ich folge ihm.
Großartig. Sieht nach einem ganz tollen Anfang aus.