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ie Woche vergeht wie im Flug. Nach dem ersten Tag hat Roman aufgehört, den Fremdenführer zu spielen, und mir war das nur recht. Klar, ich habe den Hauch von Kameradschaft vermisst, den wir beim Mittagessen hatten, aber ich suche keinen Ersatz für meine alten Freunde. Außerdem ist er sowieso ein finsterer Mistkerl.
Ich ignoriere ihn, immer wenn ich ihn in der ersten Stunde oder auf dem Gang sehe. Der Rest der Schule – bis auf Aaron – ignoriert mich glücklicherweise, jetzt wo sie begriffen haben, dass ich mit Roman und seinen Freunden nicht ständig abhänge.
Mich an das Leben in Sun Valley zu gewöhnen, ist eine neue Erfahrung und fühlt sich ein bisschen wie die Vorhölle an. Ich bekomme Geralds Assistentin häufiger zu sehen als ihn. Sie ist jeden Morgen um 7:30 Uhr da und bereit, mich zur Schule zu bringen. Für den Heimweg habe ich mir die ganze Woche ein Uber gerufen.
Es wäre leicht, den Bus zu nehmen, doch der Ausdruck auf Janessas Gesicht, als ich ihr das vorgeschlagen habe, hat mir klargemacht, dass das ein Ding der Unmöglichkeit ist. Der Bus ist unter meiner Würde. Scheint für alle anderen Leute dieser Stadt okay zu sein, aber irgendwie ist ein Uber nobler, die gehobene
Alternative.
Grrrr.
Ich komme aus meinem letzten Kurs – mein Blick ist auf das Handy gerichtet, weil ich die Adresse der Schule für die Uber-Bestellung eingebe – als Aaron im Gang nach mir ruft.
„Hey!“
Ich verlangsame meine Schritte und warte, dass er mich einholt.
„Hey“, sage ich lächelnd.
Er zieht an den Trägern des Rucksacks, auf dem hinten sein Skatebord aufgeschnallt ist, und ein jungenhaftes Grinsen liegt auf seinem Gesicht. „Hast du dieses Wochenende irgendwas vor?“
Ich zucke mit den Schultern. „Eigentlich nicht. Ich bin immer noch die Neue. Also werde ich wahrscheinlich zu Hause herumhängen und meine Hausaufgaben erledigen.“
Er nickt und saugt seine Oberlippe ein. „Dieses Wochenende steigt eine Party. Das ist sowas wie eine Tradition vor dem Spiel. Ein Haufen von uns zeltet draußen im Wald, bevor wir unser großes Spiel gegen die Saints haben.“
„Du interessierst dich für Football?“, frage ich ihn und schaue ihn abschätzend an.
„Nee. Aber ich bin für Camping und Partys zu haben, von daher…“ Er zuckt mit den Schultern.
„Oh. Cool“, antworte ich, bin mir jedoch nicht wirklich sicher, worauf er hinauswill.
Er legt den Kopf schief, seine Augen blicken fragend, aber mir ist nicht klar, welche Antwort er erwartet. Er fährt sich mit einer Hand durch die Haare und schüttelt den Kopf. „Also, äh, willst du vielleicht mitkommen? Mit mir, meine ich? Ich kann dich abholen, wenn du damit einverstanden bist…“ Er verstummt und schaut weg, eine leichte Röte überzieht seine Wangen.
Oh. Oh!
„Du lädst mich ein?“, piepse ich heraus. Sobald die Worte über meine Lippen sind, würde ich mir am liebsten eine reinhauen.
Seine Mundwinkel zucken, als er zu grinsen beginnt. „Ja, ich denke, das würde dir gefallen. Wenn du kommst, meine ich. Ich glaube, du hättest eine Menge Spaß.“
Ich beiße mir auf die Unterlippe. Wie gern würde ich hingehen. Im Moment könnte ich in meinem Leben wirklich etwas Spaß vertragen. Und Aaron ist der Einzige, der mit mir redet, also muss ich davon ausgehen, dass er mein einziger Freund sein wird, solange ich hier festsitze. Ich will ihn nicht enttäuschen, indem ich ablehne. Aber würde Gerald mich gehen lassen? Wie würde ich ihn überhaupt danach fragen? Ich habe ihn die ganze Woche nicht gesehen. Nicht einmal. Er war immer auf Arbeit und seine Meetings scheinen sich jeden Abend hinzuziehen.
„Ähm…“ Ich lasse meinen Blick durch den Gang wandern und entdecke Roman, Emilio und Dom. Alle drei stehen am Ausgang und tragen dieselben finsteren Mienen zur Schau, während sie unser Gespräch beobachten. Ich weiß immer noch nicht, welches Problem sie mit Aaron haben, aber diesmal halten sie sich zum Glück fern.
Als Aaron meinem Blick folgt, sieht er die Jungs und sein Grinsen wird plötzlich zu einer Grimasse. „Stehst du auf diese Kerle?“
Seine Frage wirft mich ein bisschen aus der Bahn. „Was? Nein!“, sage ich schnell.
Er schaut mich einen Moment lang an, als ob er sich nicht sicher ist, ob er mir glauben soll oder nicht. „Wirklich? Alle Mädchen der Sun Valley High mögen die Teufel.“
„Dieses hier ganz bestimmt nicht.“
Er stößt einen erleichterten Seufzer aus. „Das ist gut. Sie sind Arschlöcher. Ich möchte nicht, dass man dir wehtut.“
Ich sage nichts dagegen, weil, na ja, sind sie ja wirklich. Und dass er sich um mich Sorgen macht, ist irgendwie lieb.
Ich hole das Handy heraus und schreibe Janessa eine Nachricht.
Ich: Denkst du, dass mein Dad mich dieses Wochenende mit Freunden weggehen lässt?
Janessa: Datum, Zeit, Ort?
Ich drehe mich zu Aaron um. „Die Assistentin meines Vaters will wissen, wie lange wir wegfahren und wohin.“
Er zieht eine Augenbraue hoch. „Die Assistentin?“
„Ja, ich weiß, es ist komisch, aber ich bekomme die Antwort schneller, wenn
ich sie frage, statt zu versuchen, ihn aufzuspüren.“
Er nickt, als ob er das versteht. „Shadle Creek. Heute bis Sonntagmorgen.“
Ich schicke ihr die Informationen zu und schaue zu, wie die drei kleinen Punkte tanzen. Dann sind sie weg, kommen wieder. Grrr.
Mach schon. Antworte endlich.
Janessa: Das ist in Ordnung. Dein Vater lässt dir ausrichten, dass du, wenn du irgendetwas brauchst, die Kreditkarte verwenden sollst, die er dir gegeben hat. Er wird versuchen, ein Abendessen mit dir einzuplanen, sobald du zurück bist.
Ich: Super.
Ich verdrehe die Augen. Die Vorstellung, dass ich ein Abendessen mit meinem Dad planen muss, liebe ich. Nicht. Ich schiebe das Handy zurück in die Hosentasche und drehe mich um, um in Aarons erwartungsvolles Gesicht zu schauen. „Ich bin dabei.“
Seine Augen leuchten auf. „Echt?“
Ich nicke.
„Wahnsinn!“
Aaron fährt
mich nach Hause und folgt mir nach drinnen. Er sitzt auf meiner Bettkante und schaut zu, wie ich hastig eine Tasche mit dem Allernötigsten packe. Unterwäsche. Zahnbürste. Haarbürste. Zahnpasta. Ich bin nicht sicher, was ich alles brauchen werde, aber es dauert nicht lange, bis mir klar wird, dass die Kleidung, die mir Janessa besorgt hat, nicht geeignet ist. Alles ist weiß oder pastellfarben und eindeutig nicht Camping-kompatibel.
Ich wühle mich durch die Kommodenschubladen und durchsuche den Kleiderschrank nach etwas Annehmbarem. Aaron wirkt in dem Zimmer fehl am Platz, als er sich auf der rosa geblümten Tagesdecke zurücklehnt, die mein Bett bedeckt.
Er trägt seine übliche schwarze Volcom-Hose, auch wenn er sie heute mit einem langärmligen Thermo-Shirt von Hurley und karierten Vans kombiniert hat. Seine Schultern sind gut definiert, das kann man sogar durch den Stoff seines Shirts hindurchsehen. Sein Shirt ist nach oben gerutscht und gibt den Blick auf ein paar Zentimeter glatte, gebräunte Haut frei, auf der sich eine helle Spur blonder Haare entlangzieht.
Ich zwinge mich, von der Spur wegzuschauen. Ich weiß, dass sie zu einem Adonisgürtel führt, der mich nichts angeht. Wie kriegen Kerle so etwas? Ich habe ihn essen sehen. Er benimmt sich in der Cafeteria wie ein menschlicher Müllschlucker, aber wenn ich ihn jetzt ansehe, würde man das nie glauben.
„Ich kann es nicht fassen, dass du hier wohnst“, sagt er mit einem Anflug von Ehrfurcht in der Stimme.
„Na ja, erst seit einer Woche.“
Fragend legt er den Kopf schief, und ich seufze. Ich will es nicht erklären, werde aber nicht drum herumkommen. „Meine Mom ist gestorben.“ Ich verdränge meine Gefühle und zwinge mich, die Worte über die Lippen zu bringen. „Dad ist mein einziger noch lebender Verwandter, also wurde ich hierhergeschickt. Ich bin erst vorletzte Woche eingezogen, daher ist nichts hiervon“, ich zeige auf alles um mich herum, „von mir oder ähnelt auch nur ansatzweise dem Leben, das ich vorher geführt habe.“
„Echt?“ Er schüttelt den Kopf und zieht ein trauriges Gesicht. „Verdammt. Das tut mir so leid.“
Ich zucke mit den Schultern. „Es ist okay. Du wusstest das ja nicht.“
Stille breitet sich zwischen uns aus, und nachdem ich das letzte Schubfach meiner Kommode durchwühlt habe, gebe ich mich geschlagen. „Ich glaube nicht, dass es hinhauen wird. Ich habe wirklich nichts anzuziehen, das für Camping geeignet ist“, sage ich resigniert. Mir war nicht bewusst, wie gern ich mitfahren wollte. Bis klar wurde, dass ich es anscheinend nicht kann.
Aaron schaut mich einen Moment lang an, bevor er zu mir kommt, meine Hände greift und mich vom Boden hochzieht, wo ich sitze. „Es ist in Ordnung. Du kannst dir von mir ein paar Jogginghosen borgen, wenn du willst. Meine Tasche liegt schon fertig gepackt im Kofferraum. Oder wir könnten bei einem Laden vorbeifahren?“
„Ich glaube nicht, dass mir irgendwas von dir passt“, sage ich, während ich seinen Körperbau betrachte. Aaron ist groß und schlank, wahrscheinlich mehr als ein Meter achtzig. Er ist wie Chester Benning von Linkin Park gebaut, strahlt aber einen heißen Skater-Typ-Vibe wie ein junger Ryan Sekler aus.
„Gibt es, na ja, ich weiß nicht… Gibt es einen Target hier in der Nähe oder auf dem Weg?“, frage ich.
Er lacht in sich hinein. „Ich hätte nicht gedacht, dass du bei Target shoppst, aber ja, es gibt einen.“
Ich lasse erleichtert die Schultern sinken und lehne mich gegen die Wand. „Ich stamme aus keiner reichen Familie. All das hier, das hat die Assistentin meines Dads für mich gekauft, als ich eingezogen bin. Ich bin sehr wohl die Sorte Mädchen, die bei Target shoppt.“
Ein albernes, schiefes Lächeln zeigt sich in seinem Gesicht. „Ich glaube, nach dieser Enthüllung mag ich dich sogar noch mehr. Komm schon. Wir besorgen dir ein paar neue Klamotten und amüsieren uns.“