I
ch fahre mit Aaron zum Sun Valley Diner, einem kleinen Restaurant am Rande der Stadt, das bis spät abends geöffnet ist. Die Glocke über der Tür gibt bimmelnd unsere Ankunft bekannt, und eine der Kellnerinnen winkt Aaron zu, als ob sie ihn kennen würde, bevor sie sich wieder ihrem Kunden zuwendet.
Als ich eintrete, bin ich sofort von dem altmodischen Ambiente des Lokals eingenommen. Der schwarz-weiß karierte Fußboden ist mit rot-weißen Vinyl-Sitzecken kombiniert, und die Bar hat einen schwarz glänzenden Tresen.
Aaron begibt sich geradewegs dahin, um sich auf einem der roten Barstühle niederzulassen. Ich setze mich neben ihn. Ein Junge, den ich nicht erkenne, kommt zu uns und sagt etwas zu Aaron, doch ich höre nicht zu, weil ich zu sehr damit beschäftigt bin, mir alles anzuschauen. Das Diner erinnert mich fast an eines der Johnny Rockets-Kette, auch wenn es vielleicht nicht ganz so auf Hochglanz poliert ist. Als ich mich umdrehe, klatscht Aaron gerade irgendetwas mit einer diskreten Geste in die Hand des Jungen. Ich kann nicht sehen, was es ist, denn der Typ lässt seine Hand hastig in seine Hosentasche gleiten und entfernt sich schnell nach einem kurzen Dankesnicken.
„Was war das?“, frage ich, weil mich meine Neugier übermannt. Ich bin mir
ziemlich sicher, ich weiß, was hier gerade abgegangen ist, und ich bin wirklich überrascht. Ich hätte Aaron niemals als einen Dealertypen eingeschätzt.
„Nur ein Kerl aus der Schule.“ Er zuckt mit den Schultern, doch als ich nichts sage, spricht er weiter: „Ich habe mir letzte Woche zwanzig Mäuse von ihm geborgt, weil ich meine Brieftasche verloren hatte. Es war blöd.“ Er lächelt mich verlegen an. „Ich kenne den Kerl kaum, aber er hat mir ausgeholfen. Ich habe ihm nur das Geld zurückgegeben.“
Oh. Ich denke, das ergibt Sinn. Plötzlich fühle ich mich total mies, weil ich gleich vom Schlimmsten ausgegangen bin. Was ist nur los mit mir? Natürlich ist er nicht irgendein zwielichtiger Drogendealer. Was habe ich mir nur gedacht?
Eine Kellnerin kommt zu uns geflitzt, ihr flotter Pferdeschwanz hüpft dabei auf und ab. „Hey, kleiner Henderson, hast du heute Abend frei?“
Aaron lächelt hoch zu ihr, seine Grübchen sind plötzlich erkennbar. „Ja. Ich habe die restliche Woche ganz für mich selbst.“
Ihre Augen funkeln verschmitzt. „Hast du ein Glück. Wer ist denn dein heißes Date?“
Ich huste, da mich ihre Vermutung aus der Bahn wirft. Gerade, als ich die Sache klären will, höre ich vertraute Männerstimmen näherkommen. „Ro, Dom, schnappt euch die Sitzecke ganz hinten. Ich gehe pinkeln.“ Das ist Emilios Stimme. Ich sehe aus den Augenwinkeln, wie er zu einem kleinen Flur rechts von mir geht. Ich ziehe meinen Kopf ein und wende ihn fort von dem Gang, doch unsere kesse Kellnerin hier beschließt, seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
„Hey, Hübscher. Kann ich dir etwas zu trinken bringen?“
Emilio hebt die Hand, um abzuwinken, doch dann entdeckt er mich und sieht, wer neben mir sitzt. Er hält abrupt an und zieht eine Braue hoch. „Na, sieh mal einer an. Wen haben wir denn da?“ Er kommt näher und ich spüre einen Knoten in der Magengrube, als er laut ruft: „Hey, Rom. Dein Mädchen ist hier.“
Meine Wangen glühen, und ich wünsche mir nichts lieber, als dass ich mich hinter den Tresen ducken könnte. Es grenzt regelrecht an Komik, wie schnell sich mein Gemütszustand von entspannt und ungezwungen zu extrem unbehaglich wandelt, und Aaron sieht es. Sein Kiefer spannt sich an, an seinem Hals schwillt eine Ader an.
Die Kellnerin kneift verwirrt ihre Augen zusammen und blickt zwischen Aaron
und dem nun in unsere Richtung marschierenden Roman hin und her, der, das sollte ich hinzufügen, absolut angepisst aussieht. Das wird nicht gut ausgehen.
„Ich lasse euch drei Turteltäubchen dann mal zanken“, sagt Emilio lachend und geht zum Klo.
Ich beiße die Zähne zusammen. Mistkerl.
Roman drängt sich neben Aaron und lehnt seinen Unterarm auf die Theke, als er mich mit seinem Blick regelrecht verschlingt. Mir entgeht der Hunger in seinen Augen genauso wenig wie die darin wachsende Wut. Ich werfe Dominique einen Blick zu, der sich auf der Sitzbank zurücklehnt und ein amüsiertes Grinsen im Gesicht hat. Scheint, er macht es sich bequem, um die Show zu genießen. Roman räuspert sich, um meine Aufmerksamkeit wieder auf sich zu lenken.
„Möchtest du mir das erklären?“ Seine Lippen sind nur eine schmale Linie. Ich weiß nicht, wieso ich seine Lippen ansehe. Ach, Quatsch. Ich weiß ganz genau, weshalb, und es liegt daran, dass er mich heute in der Cafeteria geküsst hat. Ich bin deshalb immer noch sauer auf ihn. Warum führt er sich weiterhin wie ein Arschloch auf und gibt damit an, dass er das Mädchen erobert hat, wenn er mich nicht einmal will?
„Sie muss dir überhaupt nichts erklären, Mann.“ Aaron steht von seinem Barhocker auf, doch eine Hand auf seiner Schulter drückt ihn gewaltsam auf seinen Sitz zurück. Roman schaut ihn nicht einmal an. Seine Augen blicken weiterhin in meine, an seinem Kiefer zuckt nun ein Muskel.
„Alejandra…“ Er zieht meinen Namen in die Länge, der Klang leise und verführerisch, sodass Feuer durch meine Adern zu fließen scheint. Er verwendet seine Schlafzimmerstimme, und, Herrgott, sie löst Dinge in mir aus, die sie wirklich nicht sollte.
Ich atme tief ein. Komm schon, Allie. Sei stark. Ich drücke die Schultern durch. „Ich esse hier mit einem Freund Abendessen“, sage ich, stolz darauf, dass meine Stimme nicht zittert. „Hast du ein Problem damit?“
Seine Augen werden dunkel, als er sich aufrichtet. „Ja“, sagt er, „das habe ich.“
„Ähm …“ Unsere Kellnerin öffnet und schließt mehrmals ihren Mund. Sie sieht aus wie ein Goldfisch, und ich muss fast lachen.
„Es ist alles in Ordnung, Heather. Danke.“ Aaron scheucht sie mit einer
Handbewegung fort, und wir sehen, wie sie davoneilt, um andere Kunden zu bedienen. Dann dreht sich Aaron zu Roman um und schaut ihm direkt ins Gesicht. „Hör mal, Mann. Ich kapiere es, dass du mich nicht magst oder dass du mir nicht vertraust, das beruht übrigens auf Gegenseitigkeit, aber ich bin mit Allie befreundet. Mir ist es egal, was zwischen euch beiden läuft, das ist eure Angelegenheit. Nur hör auf, dich grundlos wie ein Arschloch aufzuführen. Warum versuchst du nicht einfach mal, dich wie ein normaler Kerl zu benehmen, und rufst sie mal an oder bittest sie um eine Verabredung?“
Die Versuchung mit einer bissigen Habe-ich’s-dir-doch-gesagt-Stimme „Genau“ zu sagen, ist groß, aber ich reiße mich zusammen und warte Romans Reaktion ab. Übertrieben langsam dreht er seinen Kopf herum, um Aaron seine ungeteilte Aufmerksamkeit zu schenken. Ich schlucke schwer, als ich den Blick in seinen Augen sehe. Weiß glühender Zorn. Würde ich stehen, hätte ich vor Schreck ein paar Schritte rückwärts gemacht, und ich bin nicht mal die Person, auf die dieser Blick gerichtet ist.
Aaron schluckt mehrmals schwer, doch es gelingt ihm, Roman in die Augen zu schauen und seinem Starren standzuhalten. Beeindruckend.
Was auch immer für Probleme sie miteinander haben, Aaron ist kein Feigling.
Beide Jungs strahlen Feindseligkeit aus, während Roman Aaron anstarrt, sich nicht rührt und schweigt. Immer mehr Spannung baut sich auf. Es fühlt sich erdrückend an. Ich reibe die Handflächen über meine Oberschenkel und frage mich, ob ich eingreifen soll oder nicht, doch da taucht Emilio endlich wieder auf. Er hat keine Ahnung, wie angespannt die Lage ist.
„Hey, ihr Wichser. Sind wir immer noch am Quatschen?“
Die Spannung zerplatzt wie eine Seifenblase, und ich atme laut aus. „Nope.“ Ich drehe mich zu Emilio und ringe mir ein Lächeln ab. „Roman ist einfach nur Roman. Ihr Kerle solltet jetzt wahrscheinlich zu Dom zurückgehen. Er wirkt einsam da drüben.“
Emilio schaut über meine Schulter und grinst breiter. „Na ja, so einsam sieht er gar nicht aus.“ Ich drehe mich um und sehe, wie sich unsere Kellnerin, Heather, zu ihm hinunter lehnt, wobei ihre Brüste sehr nah an sein Gesicht kommen. Dom leckt sich die Lippen.
Ich seufze. Und dann knurrt plötzlich mein Magen wie ein wütender Bär. Voll peinlich. „Komm schon, Vanille. Wir müssen dafür sorgen, dass du etwas mehr auf
die Rippen bekommst.“ Emilio zieht mich von meinem Sitz herunter und dreht mich Richtung Sitzecke, doch ich bleibe stehen.
Er hält an und schaut mich mürrisch über seine Schulter an. „Was ist los?“
Ich deute mit dem Kopf auf Aaron, und Emilio schnaubt. „Du ziehst Henderson uns vor?“, fragt er, als ob schon allein die Vorstellung davon völlig unfassbar wäre.
„Äh, ja. Ich bin mit ihm hergekommen. Ich lasse ihn nicht einfach sitzen, nur weil ihr drei aufgekreuzt seid.“
Er legt die Stirn in Falten, als ob er die Sache noch nie auf diese Weise betrachtet hätte, und ich verkneife mir ein Lachen. Die Teufel sind wirklich daran gewöhnt, dass immer alle nach ihrer Pfeife tanzen. Ich entziehe ihm meine Hand und setze mich wieder hin. Doch statt zurück zu der Sitzecke zu gehen, schnappt sich Emilio den Barhocker neben mir, und Roman setzt sich auf den leeren Platz neben Aaron, der absolut nicht begeistert davon wirkt. In dem Moment, wo er nach der Speisekarte greift, erhebt sich Dom, um zu uns zu kommen und sich auf den letzten freien Sitz neben Roman zu setzen.
Ein Muskel zuckt in Aarons Kiefer, und er ballt auf dem Tresen die Hände zu Fäusten. Ich lege eine Hand auf sein Knie und forme lautlos ein Wort: Sorry.
Roman sieht die Berührung, und seine Augen verengen sich, also ziehe ich meine Hand schnell wieder zurück.
„Wir können gehen“, murmele ich. „Und etwas auf dem Weg zurück nach ...“
„Ach, sei nicht so.“ Emilio quetscht sich zwischen mich und Aaron und legt jeweils einen Arm um unsere Schultern, um uns in einer seltsamen, seitlichen Umarmung an sich heranzuziehen. „Bleibt hier. Du willst doch, dass wir uns vertragen, oder?“, sagt er zu mir. „Dass wir nett zueinander sind und der ganze Scheiß?“
Ich nicke.
„Also okay. Wir tun unseren Teil. Henderson, du hast doch nichts dagegen?“, fragt er, als er Aarons frustrierten Blick auffängt. „Es wird ganz wie in alten Zeiten sein.“
Aaron steht auf, wodurch Emilio gezwungen ist, ein paar Schritte zurückzustolpern. „Einen Scheißdreck werde ich tun.“ Sein Brustkorb hebt und senkt sich mit jedem Atemzug heftig, und er fletscht die Zähne. Roman und Dom stehen auch auf, ihre Arme vor der Brust verschränkt.
Ich springe mit weit aufgerissenen Augen auf. „Hey, es ist in Ordnung. Wir können ...“
„Nein. Nichts ist in Ordnung, verdammte Scheiße!“
Aarons Ton lässt mich zusammenzucken.
„Sprich nicht so mit ihr.“ Roman kommt mir zu Hilfe, indem er drohend einen Schritt nach vorn macht. Das Ganze eskaliert viel zu schnell.
„Hey. Hey!
“ Ich lenke die Aufmerksamkeit von allen wieder auf mich. „Was ist hier eigentlich los?“
„Nichts“, blafft Aaron sofort zurück.
Emilio lacht. „Hast du Geheimnisse, Henderson? Aber das ist ja nichts Neues bei dir, nicht wahr?“
„Fick dich. Ich tue mir euren Scheiß nicht an.“ Aaron stürmt an ihm vorbei, nimmt den kürzesten Weg zur Tür, bevor er sich fängt und sich zu mir umdreht. „Komm schon, Allie.“ Ich trete vor, um ihn zu folgen, doch eine Hand an meinem Ellbogen hält mich zurück.
„Keine Chance. Wenn du so davon stürmen willst, dann mach ruhig. Aber sie wird nirgendwo mit dir hinfahren, so wie du drauf bist.“
Bevor ich widersprechen kann, denn, ja, Aaron ist wütend, doch er wird mir nicht wehtun, spuckt er aus: „Meinetwegen.“ Und lässt mich hier zurück.
Nicht zu fassen.
Ich überlege, ob ich ihm nachrennen soll. Immerhin bin ich mit ihm hergefahren, doch Romans entschiedenes Kopfschütteln bringt mich dazu, es nicht zu tun. Ich wollte nur ein einziges Mal einen normalen Tag erleben. War das echt zu viel verlangt? Nur einen Tag ohne gemeine Mädchen, Arschlochväter oder bekloppte Kerle, die mir alles versauen?
Mein Magen knurrt nochmal. „Komm schon, Vanille.“ Roman schiebt mich zur nächstgelegenen Sitzecke. „Wir werden dir jetzt etwas zu essen besorgen. Danach fahre ich dich nach Hause.“