ZWEIUNDZWANZIG
S ie wurde angegriffen“, sagt Emilio sofort, nachdem Allie den Raum verlassen hat.
Hinter uns schnaubt jemand auf, und wir drehen uns alle um. Aaron schüttelt den Kopf, sein Kiefer ist angespannt und seine Hände geballt. „Natürlich wurde sie angegriffen. Und ich frage mich, wessen verdammte Schuld das ist?“
„Was zum Teufel soll das denn heißen?“ Ich komme auf ihn zu, aber er zieht nicht den Kopf ein, was mich nur noch mehr anpisst.
„Du weißt genau, was ich meine, Roman. Oder hast du vergessen, dass wir früher Freunde waren? Ich weiß, wie du tickst. Denkst du, ich weiß nicht, dass du sie zur Zielscheibe machen wolltest, als sie hier das erste Mal aufgekreuzt ist? Dass du überall in der Schule Hass gegen sie gesät hast, um ihr das Leben schwer zu machen?“ Er schaut kurz hoch zur Decke und lacht, doch es klingt hart und spöttisch. „Jedes verdammte Mädchen in dieser Schule geht nun auf sie los. Und du“, sagt er und stößt mich mit dem Finger an die Brust, „bist derjenige, der ihr die Zielscheibe an den Rücken geheftet hat.“ Er schüttelt den Kopf. „Ich mag Fehler haben, aber ich bin nicht so ein egoistisches Arschloch wie du.“ Er stürmt aus dem Klassenraum und lässt mich, von seiner letzten Aussage völlig aus der Bahn geworfen, zurück.
„Fuck“, brülle ich, sobald Aaron das Zimmer verlassen hat.
Zwei Augenpaare schauen mich grimmig an. „Wir haben echt nicht darüber nachgedacht, wie die Mädchen reagieren würden, als du offiziell Anspruch auf sie erhoben hast“, versucht Dominique mich zu beruhigen, doch wir alle wissen, dass Aaron recht hat. Ich habe das getan. Ich. Niemand anderes. Ich wusste, was passieren würde und ich habe es trotzdem getan. Vielleicht habe ich nicht gewusst, dass die Weiber so tief sinken würden, sie sogar anzugreifen, aber ich hätte es vermuten sollen nach dem, was zwischen ihr und Silvia zuvor vorgefallen war. Blöd. Ich bin so verdammt blöd.
„Ich muss das in Ordnung bringen.“ Niemand widerspricht mir. Die Frage ist nur, wie?
Emilio reibt sich den Nacken. „Ich habe die Sache noch schlimmer gemacht, als ich der Schule gesagt habe, dass sie Silvia schneiden sollen. Das könnte eine Racheaktion dafür sein. Sie kann uns nichts tun, aber…“
Ich schüttele den Kopf. „Ich weiß es zu schätzen, was du da versuchst, aber: Nein. Das hier ist meine Schuld.“ Ich habe es versaut, und ich werde dafür geradestehen. „Außerdem wissen wir nicht mal, ob Silvia damit zu tun hatte. Wir brauchen mehr Informationen.“
Emilio schnaubt. „Einer von uns wird die ganze Zeit bei ihr bleiben müssen“, sagt Emilio.
„Wie zum Teufel sollen wir das Schaffen?“, frage ich. Es fühlt sich an, als ob die Wut ein Loch in mein Inneres brennt. Sie wurde verletzt. Jemand hat sich an meinem Mädchen vergriffen und ihr wehgetan.
„Ja. Sieht nicht so aus, als ob Allie uns dabei entgegenkommen wird“, bemerkt Dom.
„Zuerst müssen wir sie finden und sicherstellen, dass wer auch immer das getan hat, es nicht wiederholt“, sagt Emilio und ich nicke.
Mir ist es scheißegal, dass Allie diesen Mist unter den Teppich kehren will. Ich will herausfinden, wer das getan hat, und verdammt, ich werde klarstellen, dass es nicht noch einmal passiert. Jeder an dieser Schule muss wissen, dass man meinem Mädchen nicht ungestraft wehtun kann.
Wir gehen los, um Allie zu suchen, aber sie ist nirgends zu finden. Sie ist nicht in der Cafeteria und nicht in ihrem nächsten Kurs. Nachdem wir ganze zwanzig Minuten nach ihr gesucht haben, erfahre ich im Sekretariat, dass sie sich für den Tag abgemeldet hat. Ich seufze erleichtert auf. Wenn sie zu Hause ist, muss ich mir wenigstens keine Sorgen machen, dass sich noch einmal jemand an ihr vergreift.
Ich sage den Kerlen Bescheid, als wir uns nach der Schule treffen, und wir beschließen, dass wir sie am kommenden Schultag überwachen. Ich werde das vor der Schule und während der ersten Stunde übernehmen. Dann bringe ich sie zu ihrem zweiten Kurs, und Dom wird ihr zum Dritten folgen. Emilio hat Unterricht in dem Zimmer neben ihrer vierten Stunde, also wird er sie im Auge behalten, bis sie im Klassenzimmer ist. Und ich werde sie abholen, wenn ihr Schultag vorbei ist.
Was während des Unterrichts passiert, sollte uns keine Sorgen bereiten. Niemand ist so dumm. Und in der vierten Stunde hat sie Schweißen mit Aaron. Ich mag die Vorstellung nicht, mich auf diesen Wichser verlassen zu müssen. Aber egal, welche Motive er hat, er scheint sie gern zu haben, und Gott sei Dank, gibt es in diesem Kurs keine heimtückischen Schlampen, mit denen sie sich herumschlagen muss.
Es ist ein guter Plan, und ich sollte damit zufrieden sein, aber ich kann das Bild von ihrem misshandelten Körper nicht aus dem Kopf bekommen. Jedes Mal, wenn ich meine Augen schließe, sehe ich ihr Gesicht vor mir. Die Blutergüsse. Die geplatzte Lippe. Das ist wie ein Dolch in meinem Magen, und wenn ich mir vorstelle, wie sie sich gefühlt haben muss, dreht sich die Klinge in mir hin und her.
Das Training am Nachmittag ist zermürbend. Ich lege all meine Wut und den ganzen Frust hinein, um jeden Pass zu Ende zu bringen, und renne so sehr, bis ich das Gefühl habe, mein Herz würde mir aus der Brust springen. Aber es ist egal. Ich bin schuld, dass ein Pass abgefangen wird, den ich zu Ende hätte bringen müssen, und dann vermassele ich einen verdammten Catch. Der Coach schreit mich an, dass ich den Kopf aus dem Arsch ziehen soll, und ich gebe mir Mühe, aber fuck . Ich bin voll neben der Spur.
„Wir können es uns nicht leisten, dass du diesen Freitag so spielst“, brüllt der Coach.
Ich beiße meine Zähne zusammen, um nicht auf ihn loszugehen. Ich weiß, dass er recht hat, aber ... fuck . Ich reiße mir den Helm vom Kopf und werfe ihn aufs Spielfeld.
„Roman!“, schreit der Coach, doch ich ignoriere ihn, marschiere zum Umkleideraum, um die Ausrüstung abzulegen und zu duschen, bevor der Rest des Teams fertig ist.
„Valdez, beweg deinen Arsch zurück aufs Feld“, versucht er es nochmal.
Dominique geht zum Coach, um meinen kleinen Ausraster auszubügeln, aber ich bleibe nicht lange genug da, um abzuwarten, ob ihm das gelingt.
Ich muss Allie sehen, und als ich das einsehe, löst das alle möglichen Gefühle in mir aus, über die ich lieber nicht nachdenken will. Bis zum großen Spiel sind es drei Tage. Ich sollte mich aufs Spielen konzentrieren. Football ist das Einzige, was zählt.
Ich weiß, dass sie zu Hause ist. Ich weiß, dass sie in Sicherheit ist. Ich muss diesen nicht zu unterdrückenden Drang, sie sehen zu wollen, ignorieren, aber, scheiße, ich kann einfach nicht. Auf dem Spielfeld bin ich völlig nutzlos, solange ich mich nicht davon überzeugt habe, dass es ihr wirklich gut geht.
Vierzig Minuten später halte ich vor ihrem Haus an, wenn man das so überhaupt nennen kann. Ich habe die Dienst-App meines Vaters ohne sein Wissen auf meinem Telefon installiert und damit die Adresse von Gerald Ulrich herausgefunden. Es hat durchaus seine Vorteile, einen Polizeichef zum Vater zu haben. Aber wovor ich anhalte, ist kein Haus. Es ist ein verdammter Palast.
Das Anwesen muss eine Fläche von mindesten tausendfünfhundert Quadratmetern haben. Die Vordertür wird von Doppelsäulen gerahmt und an allen Seiten reichen die Fenster bis zum Boden. Der Rasen sieht makellos aus, und Rosenbüsche begrenzen das Gras. Dieses Haus übertrifft sogar das von Dominique und das will was heißen, denn der Wichser hat mehr Geld, als irgendjemand je in seinem Leben ausgeben könnte.
Eine Minute lang sitze ich im Wagen, dessen Motor sich im Leerlauf befindet, und starre auf die Vordertür, als ob ich Allie mit meinen bloßen Gedanken zum Herauskommen bringen könnte. Ich drücke aufs Gaspedal und lasse den Motor laut aufheulen. Eine Bewegung an einem der Fenster im zweiten Stock zieht meinen Blick auf sich.
Allie späht durch zartrosa Vorhänge, und ich winke ihr zu und hoffe immer noch, dass sie zu mir kommt. Die Vorhänge schließen sich, und ich warte. Sie weiß, dass ich hier bin. Sie wird kommen.
Wenige Minuten später schließt sie hinter sich die Haustür. Sie trägt weiße Jeans und einen übergroßen Hoodie, bleibt an meinem Auto stehen und runzelt die Stirn. „Was machst du hier?“ Sie streicht sich die Haare hinter die Ohren und legt dabei einen lila Bluterguss an ihrem Unterkiefer frei.
Aber ich sehe nur rot.
„Steig ein.“
Sie schüttelt den Kopf. „Was willst du, Roman? Solltest du nicht eigentlich beim Training sein oder so?“
Ich versuche, mich von ihrer Weigerung nicht reizen zu lassen. „Nee. Ist seit einer halben Stunde vorbei. Komm schon.“ Sie rührt sich immer noch nicht. „Steig ins Auto, Alejandra.“ Irgendwie bringe ich sie zu einer Reaktion, weil ich sie mit ihrem vollen Namen anspreche. Sie murmelt ein Schimpfwort vor sich hin, während sie die Beifahrertür öffnet und hineinrutscht. „Schnalle dich an.“
Das tut sie.
Wenigstens etwas.
Die ersten zehn Minuten der Fahrt ziehen sich schweigend dahin. Ich bringe sie auf die andere Seite der Stadt, wo die Häuser kleiner sind. Bei manchen sind die Fenster vergittert und ihre Holztüren sind mit schweren, eisernen Gittertüren geschützt.
„Wohin fahren wir?“, fragt sie endlich, als ich in die mir vertraute Straße einbiege.
„Zu mir.“ Ich weiß nicht genau, warum ich sie zu mir nach Hause bringe. Wir kommen aus zwei verschiedenen Welten. Aber ich will sie bei mir haben. Ich muss wissen, dass es ihr gut geht.
Ich parke das Auto in der Einfahrt unseres relativ kleinen Hauses im Ranchstil ein. „Komm.“
Allie steigt zögernd aus und schaut sich die Umgebung mit einem neugierigen Blick an. „Hier wohnst du?“
Ich nicke und halte dabei nach einer Reaktion von ihr Ausschau, die mir zeigt, dass mein Leben nicht gut genug ist, aber ich entdecke nichts. Ich atme aus. In ihrem Blick liegt keine Verurteilung, als sie den Gipsputz an der Fassade betrachtet. Auch nicht, als sie durch die offene Garagentür sieht, dass die Garage wie ein zweites Wohnzimmer aussieht, bunt zusammengewürfelte Sofas und ein Billardtisch in der Mitte.
Ein Haus weiter knallt eine Autotür zu und eine Stimme ruft: „Hey, was gibt’s zum Abendessen?“, und Emilio kommt zu uns gelaufen.
„Was ...“
„Wir sind Nachbarn“, sage ich zu ihr, während er näherkommt.
„Bitte sag, dass deine Mom Essen für mich hat. Der Coach bringt mich noch um mit dem zweimal täglichen Training. Ich brauche ein paar verdammte Kalorien, bevor mein Magen sich selbst auffrisst.“
„Komm schon, cabrón . Wir schauen mal, was sie alles hat.“
Allie läuft hinter uns her, aber mir entgeht nicht ihr neugieriger Gesichtsausdruck, als ich sie durch die Garage direkt in die Küche führe. Sobald wir drin sind, umgibt uns der wunderbare Duft des Essens, das meine Mutter gekocht hat.
Mamá “, rufe ich ins Haus, weil ich weiß, dass sie ganz in der Nähe sein muss. Ich schaue auf dem Herd nach, hebe den Deckel eines großen Suppentopfes hoch und sehe, dass frische, warme Tamales darin gedämpft werden.
„Hijo, no toques“, fass das nicht an, rügt sie mich, als sie um die Ecke kommt. Ich will sie gerade fragen, was nicht in Ordnung ist, denn meine Mom macht Tamales immer nur zu zwei Anlässen: Zu Feiertagen wie Thanksgiving und Weihnachten. Oder wenn mein Paps wegen irgendetwas verstimmt ist, normalerweise hat das mit mir zu tun, und sie versucht dann, die Sache wieder ins Lot zu bringen auf die einzige Weise, die sie kennt. Mit Essen. Doch, bevor ich fragen kann, entdeckt sie Allie und reißt überrascht die Augen auf.
„Du hast ein Mädchen nach Hause gebracht?“ Ihr Akzent ist stark, aber ihr Englisch ist gut verständlich. Sie mustert Allie von oben bis unten und ein Lächeln breitet sich auf ihrem Gesicht aus. Verdammt. Ich habe die Sache nicht richtig durchdacht.
„Mija, lass mich dich anschauen.“ Meine Mutter zerrt Allie zu sich, ohne sich überhaupt nur vorzustellen oder sie irgendwie zu begrüßen, dreht sie dann um ihre eigene Ache und schaut sie an.
Allie nimmt es hin, als ob das völlig normal wäre. Ein zögerliches Lächeln liegt auf ihrem Gesicht, als sie sich wieder zurück zu meiner Mutter dreht. Meine Mom ist klein, knapp ein Meter fünfzig, sodass Allie, die im Vergleich zu mir winzig ist, ausnahmsweise einmal groß wirkt.
„Du bist schön“, sagt ihr meine Mutter und lehnt sich vor, um Allie einen Kuss auf die Wange zu geben.
Allie gibt ihr ebenfalls einen Kuss. „Danke schön. Ich heiße Alejandra.“ Ihre Stimme ist leise, aber ihr Lächeln aufrichtig.
„Und wie lange bist du schon mit meinem Sohn zusammen?“, fragt Mom, und ich stöhne, während Emilio vor sich hin lacht.
Mamá!“
„Was denn? Eine Mutter sollte über solche Sachen Bescheid wissen.“
Ich schüttele den Kopf. „Nein, sollte sie nicht. Verscheuche mir nicht das erste Mädchen, das ich dir je vorgestellt habe.“
„Es tut mir leid, Mrs Valdez, aber Allie hier ist meine Freundin.“ Emilio wirft seinen Arm um Allies Schultern.
Sofort schaut meine Mutter ganz finster und ich muss mir das Lachen verkneifen. „Sag ihm, dass du ihm erst etwas zu essen gibst, wenn er sie zurückgibt.“
Ihre von Fältchen umgebenen Augen leuchten verschmitzt auf und sie lächelt.
Emilio stöhnt auf. „Nicht in Ordnung, Kumpel. Nicht. In. Ordnung.“
Ich ziehe Allie aus seinen Armen. Sie kommt bereitwillig, ich drücke sie nahe an mich, als ich sie zum Tisch führe. Ich bin genauso hungrig wie Emilio. Es war sein voller ernst, als er meinte, dass unser zweimal tägliches Training uns noch umbringen würde.
Als Allie meiner Mutter den Rücken zugedreht hat, blicken Moms besorgte Augen in meine und sie macht eine kleine Geste, indem sie mit dem Daumen unter ihrem eigenen Kinn entlang streicht. Ich neige meinen Kopf, um ihr zu verstehen zu geben, dass ich von dem blauen Fleck weiß und sie sich keine Sorgen machen soll.
Sie vertraut mir, also geht sie mit einem zufriedenen Nicken zurück zum Herd und stellt drei Teller mit Essen auf den Tisch, während wir unsere Plätze einnehmen. Innerhalb weniger Minuten stehen Reis, Bohnen und Tamales vor mir und ich stürze mich sofort darauf. Emilio isst, als ob er kurz vorm Verhungern ist, was ihm ein strahlendes Lächeln und einen Nachschlag einbringt. Mom isst erst, wenn Paps von der Arbeit nach Hause kommt, also zieht sie sich in ihr Zimmer zurück, nachdem sie sich vergewissert hat, dass wir nichts weiter brauchen.
Ich wüsste zu gern, was los ist, aber unsere Familie ist sehr auf Privatsphäre bedacht, und es wäre meiner Mom peinlich, wenn ich Familienangelegenheiten vor Gästen besprechen würde, also werde ich mit ihr erst reden, wenn Allie wieder weg ist.
In den ersten paar Minuten konzentrieren wir uns auf unser Essen. Allie macht kleine Bissen, sie kaut auf fast systematische Weise, als ob sie den Geschmack ganz bewusst genießt. Mir ist aufgefallen, dass sie in der Schule nicht viel zu sich nimmt, aber jetzt isst sie, also sieht’s so aus, als ob es keinen Grund zur Beunruhigung gibt.
„Du hast so ein Glück, du Arschloch“, sagt Emilio, der jetzt seine dritte Tamale in Arbeit hat, und ich grinse.
„Sei froh, dass ich dich ertrage, sonst würdest du das hier verpassen.“
Allie lacht. „Das schmeckt echt gut.“
„Besser als meine albóndigas?“, frage ich, und sie wird rot.
„Ich weiß nicht. Das ist schwer zu sagen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich mich entscheiden könnte.“
„Die Tamales von Romans Ma. Auf jeden Fall. Sie macht sie nur etwa zweimal im Jahr. Für die hier würde ich einen Mord begehen.“
Ich ignoriere ihn, lehne mich zu Allie und gebe ihr einen schnellen Kuss auf die Lippen. Als ich mich zurückziehe, sind ihre Augen groß und unsicher, während sie mit den Fingern ihren Mund berührt.
„Wofür war das denn?“
Ich zucke mit den Schultern. „Mir war einfach danach.“
Emilio, der unseren Kuss nicht mitbekommen hat, redet weiterhin darüber, wie wunderbar das Essen meiner Mom ist und dass ich ein gieriger Mistkerl bin, der nicht oft genug teilt. Ein Teil davon ist witzig gemeint, doch es steckt auch ein Funken schmerzlicher Wahrheit drin. Emilios Mom ist abgehauen, als er sieben war, und hat ihren Ehemann mit vier Kindern allein gelassen. Er hat zwei ältere Brüder und eine kleine Schwester. Und sagen wir mal nur, dass sein Dad nicht wirklich der häusliche Typ ist.
Aber Emilio ist hier immer willkommen und meine Mom liebt es, den Wichser zu bekochen. Während wir essen, entspannt sich Allie. Sie lächelt mehr, als Emilio und ich uns übers Training beklagen und herumstöhnen. Ab und zu wirft sie mir fragende Blicke zu. Ich weiß, sie wartet darauf, dass ich sie frage, was in der Schule passiert ist, aber ich will, dass sie sich zuerst wohlfühlt. Außerdem warte ich darauf, dass Dominique auftaucht. Ich habe den Eindruck, dass ich viel Hilfe brauchen werde, um Allie dazu zu bringen, mir Namen zu nennen.
Als wir mit dem Essen fertig sind, nehme ich Allie mit in die Garage und ziehe sie neben mir auf die Couch, während sich Emilio auf der gegenüberliegenden Couch niederlässt. Seine Miene wirkt nun ernst. Die Sonne geht unter und eine kühle Brise weht durch den offenen Raum.
Meine Knie wippen, und ich würde wahnsinnig gern eine rauchen, aber ich reiße mich zusammen. Ich habe seit dem Wochenende in Shadle Creek nicht mehr geraucht, und ich will die rauchfreie Phase nicht beenden.
Sobald Doms schwarzer Escalade in der Einfahrt hält, rutscht Emilio zur Seite, um ihm Platz zu machen. Dom steigt aus. Er trägt eine schwarze Hose und ein schwarzes Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln. Als er auf uns zukommt, pfeift Emilio anerkennend.
Dom reagiert nicht, außer dass er ihm den Mittelfinger zeigt. Dom so aufgeputzt zu sehen, ist gar nicht so ungewöhnlich. Seine Familie zieht sich zum Abendessen schick an und verwendet das gute Porzellan, also weiß ich es zu schätzen, dass er direkt danach hergekommen ist und keine Zeit für das Umkleiden verschwendet hat.
Er setzt sich mit auf das Sofa, lehnt sich zurück und wirft mir einen Blick zu, der sagt: und was jetzt?
Allie sieht ihn auch und dreht sich zu mir um. „Was ist los?“ Sie klingt misstrauisch.
Ich fahre mir mit den Fingern durchs Haar und seufze. „Wir müssen wissen, wer dich heute angegriffen hat.“
Sie will aufstehen, aber ich ziehe sie zurück neben mich. „Wegrennen gilt nicht. Jemand hat dir wehgetan, und wir wollen wissen, wer es war.“
„Warum interessiert dich das?“, zischt sie.
Macht sie jetzt Witze? „Mich interessiert das, weil du mein ...“
„Ich bin dein rein gar nichts.“
Ich beiße die Zähne zusammen, umfasse ihr Gesicht mit der Hand und zwinge sie, meinen Blick zu erwidern. „Das haben wir doch schon durch. Du gehörst mir. Mein Mädchen. Verstanden?“ Sie schluckt schwer, antwortet aber nicht. „Jeder, der sich mit dir anlegt, legt sich auch mit mir an.“
„Mit uns“, korrigiert Dom, und sie reißt ihren Kopf zu ihm herum.
„Warum?“
Ich öffne den Mund, um etwas zu sagen, doch sie kommt mir zuvor. „Und ja, ich kapiere es. Du bist ein besitzergreifendes Arschloch. Ich gehöre dir, bis du dich anders entscheidest. Ich weiß. Aber wir haben das auch schon durch“, sie zeigt auf sich und mich, ihre Stirn leicht gerunzelt, „Und wir waren uns beide einig, dass das hier Spaß ist. Wir vertreiben uns die Zeit. Du musst nicht den großen Alpha-Beschützer raushängen lassen. Ich kann auf mich allein aufpassen.“
Schweigen.
Niemand sagt etwas, während ich wütend in ihre dunkelbraunen Augen schaue und dabei so tue, als ob es mir nicht das Geringste ausmacht, sie sagen zu hören, dass was immer zwischen uns läuft, nicht die geringste Bedeutung hat. Dass wir uns ihrer Meinung nach nur die Zeit miteinander vertreiben. Ich entwickele Gefühle für ein Mädchen, das ich kaum kenne, und sie erwidert diese offensichtlich nicht. Schön.
Ich lasse ihren Kiefer los. Nicht, dass ich zu den blauen Flecken noch weitere hinzufüge, und verdrehe übertrieben die Augen. „Hör auf, da etwas hineinzulesen, Vanille. Wenn ich das, was mir gehört, nicht beschützen kann, wie soll ich da erwarten, dass mich irgendjemand ernst nimmt. Ich muss auf meinen Ruf achten.“
Emilio öffnet seinen Mund, um etwas zu sagen, doch ich werfe ihm einen mörderischen Blick zu und er hält die Klappe.
Allies Brauen ziehen sich zusammen, als sie mit einem Seufzen über meine Worte nachdenkt. „Ich kann das selbst regeln.“
„Genau. Weil du das bis jetzt so gut geschafft hast.“
„Können wir das Thema endlich fallen lassen?“
Wir schütteln alle drei den Kopf.
„Wir werden es so oder so herausfinden. Warum bist du so scharf darauf, das allein hinzukriegen?“, hakt Dominique nach.
„Weil ich es kann. Es ist ein Zickenkrieg. Ihr übertreibt hier völlig. Nur weil drei Mädchen beschlossen haben ...“
„Drei?“, fragt Emilio, und Allies Augen weiten sich, als sie ihren Fehler bemerkt. „Namen, Alejandra?“, drängt er.
„Ich weiß nicht mal die Namen von allen“, murmelt sie und verschränkt die Arme vor der Brust wie ein trotziges Kind, das seinen Willen nicht durchsetzen kann.
„Mag sein, aber du kennst wenigstens einen, oder?“
Sie funkelt mich wütend an, und ich grinse.
„Schon möglich.“
Ich wende mich an Emilio und Dom. „Könnt ihr uns eine Minute allein lassen?“ Sie nicken und gehen nach drinnen. Sobald sie weg sind, drehe ich Allie zu mir und ziehe sie an mich heran, bis ihre Brust gegen meine Seite gedrückt ist. Ich streiche mit dem Daumen über ihren Kiefer, bevor ich mit ihm über ihre Unterlippe fahre. „Wer hat das getan?“
Ihre Augen bitten mich, damit aufzuhören, also ändere ich meine Taktik und drücke meine Lippen auf ihre. Sie küsst mich sofort zurück, während ich sie auf meinen Schoß ziehe und ihre Beine nun um meine Taille geschlungen sind. Sie wiegt sich gegen mich und ich bin sofort hart in meiner Jeans. Ich küsse sie gierig und trinke dabei ihr leises Stöhnen auf. Als ich schließlich den Kuss beende, lehne ich meine Stirn an ihre, wir beide atmen schwer und ihre kleinen Hände sind in den Stoff meines Shirts gekrallt. „Wer?“, versuche ich wieder, küsse sie erneut und ziehe mich dann zurück. „Erzähl es mir, Allie.“
Sie stöhnt, versucht, mich weiter zu küssen, doch ich weigere mich und küsse mich stattdessen seitlich an ihrem Hals entlang. „Allie?“ Ich streife ihre Haut mit den Zähnen und sie erschauert in meinen Armen. „Komm schon, Baby. Sag mir, wer das getan hat, und ich helfe dir, alles zu vergessen.“
„Silvia“, sagt sie.
Ich lächele triumphierend, bevor ich nach ihrem Arsch greife. Ich stehe auf, schlinge ihre Beine um meine Taille, während ich zur Tür gehe und den Türöffner des Garagentors bediene, um uns wenigstens ein bisschen Privatsphäre zu gönnen. Wenn Dom und Emilio hören, dass sich das Tor schließt, werden sie schon wissen, was wir tun, und aufpassen, dass uns niemand stört.