SECHSUNDZWANZIG
J anessa stürmt in mein Krankenhauszimmer und sieht aus, als ob sie sich nichts bieten lassen wird. Und aus irgendeinem seltsamen Grund entspannen sich meine Schultern.
Sie schaut die Krankenschwester an, die immer noch meine Einweisungspapiere ausfüllt und fragt: „Können Sie uns einen Moment geben? Allein.“ 
Die Krankenschwester wirft einen mitfühlenden Blick in meine Richtung und nickt, bevor sie zu mir sagt: „Ich gebe dir und deiner Mom ein paar Minuten, und dann komme ich zurück und wir fangen an. Okay, Allie?“
Ich nicke und mache mir nicht die Mühe, ihren Fehler zu berichtigen, während mich die Angst durchströmt. Sie meint, dass wir mit dem Untersuchungskit für Vergewaltigungen anfangen, und, oh Gott, ich will nicht einmal darüber nachdenken, was das alles umfasst.
Ich starre auf meine Hände hinunter, bemerke dabei die Verletzungen an den Fingerknöcheln. Die blutigen Risse an den Fingernägeln. Ich atme zittrig ein und beginne, jede Verletzung an meinen Händen und Armen zu zählen. Ein. Zwei. Drei. Vier…
Als wir allein sind, zieht Janessa einen Stuhl zu mir heran.
Fünf. Sechs…
Sie setzt sich hin, will meine Hände in ihre nehmen, doch ich versteife mich und zucke zurück.
Sie nickt sich selbst zu und atmet tief ein. Ich habe meine Augen weiterhin auf meine Hände gerichtet. Ich weiß, was sie gleich sagen wird.
„Dein Vater konnte nicht ...“
„Ich weiß“, flüstere ich. Sie muss ihren Satz nicht zu Ende führen. Gerald ist in einem wichtigen Meeting. Er konnte nicht weg. Ich habe das alles schon einmal gehört. Ich hätte nichts anderes erwarten sollen.
Warum also krampft sich mein Magen so sehr zusammen?
Ich wische mir eine Träne aus dem Gesicht.
Ich bin seine Tochter. Um seine Kinder soll man sich kümmern, oder? Wenn die eigene Tochter überfallen wird, sollte man da sein. Mom wäre hier gewesen. Sie hätte meine Hand gehalten und meine Haare zurück gestrichen. Sie hätte mir gesagt, dass ich mich ausweinen solle. Das alles gut werden würde. Und sie hätte mich in den Arm genommen.
Aber nichts von dem hier wird wieder gut werden. Mir würde es nicht wieder gut gehen.
Eine weitere Träne rollt über meine Wange, und ich wische sie wütend weg. Mom ist nicht hier, also kann ich nicht weinen. Keiner wird mich in den Arm nehmen. Keiner wird mir versprechen, dass ich das hier überstehen werde. Ich kann nicht zusammenbrechen, denn ich habe niemanden, der mir dabei hilft, wieder auf die Beine zu kommen.
Janessa atmet aus. Es klingt resigniert. „Es tut mir so leid, dass dir das passiert ist, Allie. So schrecklich leid.“
Ich sitze da. Was soll ich dazu sagen. Soll ich sie trösten, weil sie sich meinetwegen schlecht fühlt? Soll ich sagen, dass es mir leidtut? Soll ich ihr sagen, wie wütend ich auf mich selbst bin, weil ich überhaupt dort war? Dass ich es hätte besser wissen müssen. Dass ich nicht ...
Sie unterbricht meinen Gedankengang mit einer Frage. „Weißt du, wer dir das angetan hat?“
Ich schüttele den Kopf, während sich bittere Säure auf meiner Zunge ausbreitet. Der Dreckskerl hat mir das angetan, und ich weiß nicht einmal, wer er ist. Er kannte mich nicht. Er hatte mich noch nie zuvor getroffen, und dennoch hat er es getan.
„Hast du sein Gesicht gesehen?“ 
„Nein“, würge ich mit einem heftigen Kopfschütteln hervor. Ich ignoriere das Schwindelgefühl, das mich bei der Bewegung überkommt, und schlucke die Galle in meiner Kehle hinunter. Die Krankenschwestern denken, dass ich eine Gehirnerschütterung habe. Er hat mir eine Gehirnerschütterung verpasst, als er meinen Kopf gegen die Ziegelmauer der Schule geschlagen hat. Und das ist nicht einmal das Schlimmste.  
„Erinnerst du dich an irgendetwas, womit du ihn bei einer Gegenüberstellung identifizieren könntest?“
Ich lasse den Kopf wieder hängen. Ich kann mich nur an seine Stimme erinnern. An seine Worte. Das Gefühl seines Körpers gegen meinen. Den Schmerz, als er in mir war. Und seine Hand. Ich erinnere mich an seine Hand. Ich habe sie angestarrt, als er… Nein. Ich will das nicht wieder aufleben lassen. Ich will mich nicht daran erinnern.
Die Erinnerungen schiebe ich so weit weg wie nur möglich und packe sie weg mit den Gefühlen, die ich im Moment nicht ausleben will.
Ich schüttele den Kopf.
„Haben sie schon das Untersuchungskit durchgeführt?“
Ich schlucke schwer und flüstere wieder: „Nein.“
Sie nickt sich selbst zu. „Weißt du, ob er ein Kondom verwendet hat?“
Meine Augenbrauen ziehen sich zusammen. Warum will sie das wissen? Meine Gedanken wandern zu dem Moment zurück. Als er mich nach unten geschubst und meine Hosen nach unten gerissen hat. Ich war von ihm weggedreht. Er hat mein Gesicht auf den Boden gedrückt. Hat meine Wange in den Schmutz gepresst. Aber ich erinnere mich an das Geräusch eines Folienpäckchens. Ich habe eindeutig gehört, wie etwas hinter mir aufgerissen wurde, bevor er sich selbst in mich ...
Mein Atem geht flach und hechelnd, und plötzlich befindet sich Janessa direkt vor meinem Gesicht. 
„Allie. Allie.“ Sie schnipst mit ihren Fingern vor mir herum.
Ich kann nicht atmen. Ich greife an meine Kehle, weil ich so verzweifelt Luft brauche.
Janessa greift mir in den Nacken und drückt meinen Kopf hinunter zwischen meine Beine.
Ich schreie bei der plötzlichen Bewegung auf, aber ich wehre mich nicht gegen sie. Ich kann nicht. Ich kann immer noch nicht atmen.
„Atme, Liebes. Atme ein und aus.“ Ihr Griff in meinem Nacken ist fest und innerlich schreie ich sie an, mich loszulassen. Mich nicht zu berühren. Aber ich kann die Worte nicht herausbringen. Die Sekunden ticken dahin. Dann Minuten.
Als meine Atmung endlich ruhiger wird, lässt sie mich los und tritt zurück.
„Es war nur eine Panikattacke“, sagt sie, als ich meinen Kopf wieder hebe.
Ich sehe für einen Moment verschwommen, aber dann wird wieder alles scharf.
„Atme noch einmal ein.“
Ich tue, was sie mir sagt, und als ich nicht mehr das Gefühl habe, dass meine Lungen gleich kollabieren werden, murmele ich die Antwort auf ihre letzte Frage.
„Ich… Ich glaube, das hat er. Ich glaube, er hat eines verwendet.“
„Gut. Das ist gut.“
Sie zieht ihr Telefon hervor, und ihre Finger fliegen wahnsinnig schnell über die Tastatur, bevor sie es wieder zurück in ihre Handtasche steckt.
Dann bückt sie sich und hebt einen kleinen Beutel hoch, den ich vorher, als sie hereingekommen war, nicht bemerkt hatte. „Hier. Ich habe dir etwas zum Anziehen mitgebracht. Komm, zieh dich an und dann bringe ich dich nach Hause.“
Ich nicke und nehme den Beutel, doch dann halte ich inne. „Was ist mit…“ Ich wedele ein bisschen mit meinen Händen, weil ich die Worte einfach nicht aussprechen kann. Mir stehen schon wieder Tränen in den Augen, als ich mich für das wappne, was für mich eine weitere Form der Vergewaltigung sein wird, und Scham breitet sich in mir aus.
Ich kann das nicht machen. Ich kann’s einfach nicht. 
Sie werden mich anschauen und mich berühren. Ich habe Filme darüber gesehen. Man wird Fotos machen. Ärzte werden mich ohne Kleidung sehen. Ich werde entblößt sein. Ich kann nicht. Ich kann das einfach nicht.
Janessa kommt einen Schritt näher und rettet mich vor meiner Panik. „Wir müssen uns darüber heute keine Gedanken machen.“
Ich schenke ihr ein tränenfeuchtes, halbherziges Lächeln. „Müssen wir nicht?“
Sie schüttelt den Kopf. „Nein, Liebes, das müssen wir nicht.“
Erleichterung durchströmt mich, bevor die Realität mich einholt. „Aber…, wenn wir das nicht tun, wie finden sie ihn dann? Wie…?“ Ich verstumme. Denn sie müssen ihn finden, oder? Er kann nicht davonkommen. Er wird es wieder tun. Was, wenn er wieder zu mir kommt? Er hat gesagt, er würde zurückkommen, wenn…
Sie legt vorsichtig eine Hand auf meinen Arm, und ich versteife mich und zucke vor ihr zurück.
Ich sehe, wie entschuldigend ihr Blick wirkt, als sie fragt: „Allie, hast du heute Abend getrunken?“
Ich schlucke den Kloß in meiner Kehle hinunter und antworte ehrlich mit einem Nicken. „Aber ich war nicht betrunken. Ich hatte nicht mal einen ganzen Drink intus.“ Ich erinnere mich, dass Kasey die Mini-Schnapsflaschen ins Spiel geschmuggelt hatte. Sie hatte mir eine gegeben. Ich habe nur einen Schluck gemacht. Ich habe vielleicht die Hälfte getrunken, bevor der Anruf von Julio kam. „Ich ...“
„Ich weiß, Schätzchen. Ich weiß. Aber du hast getrunken, und du bist minderjährig. Du weißt nicht, wer dir das angetan hat, und da du denkst, dass er ein Kondom benutzt hat, wird es kein Sperma geben, das man verwenden kann, um ihn zu finden. Falls er überhaupt im System ist.“
Ich starre sie an. Sprachlos. Will sie… Nein. Nein.
„Du bist ein junges Mädchen. Du bist schön und klug, und dein ganzes Leben liegt vor dir. Aber das hier, das könnte dich ruinieren. Das hier könnte deinen Vater ruinieren.“
Mein Vater. Darum geht’s hier also die ganze Zeit.
„Wenn Ulrich sich noch einmal in unsere Abmachungen reinhängt, besuchen wir dich gern wieder…“
Kalte Angst frisst mich auf. Er wird weiter da draußen sein. Er wird ungeschoren davonkommen. Wegen Gerald. Wegen meines Vaters.
Nein. Nein. Nein. Das ist nicht richtig. Er wird mich finden. Falls Gerald erneut etwas vermasselt. Ich weiß nicht einmal, was er getan hat. Warum der Mann hinter mir her war. Aber ich weiß tief in meinen Knochen, dass er es wieder tun wird, und ich keine Chance habe, es vorauszuahnen. Keine Möglichkeit, um mich zu schützen, weil ich nicht einmal weiß, wie er aussieht.
Ich schüttele den Kopf. Nein. Nein! Ich kann nicht atmen.
Janessa umfasst mein Gesicht mit ihren Händen, als meine Tränen jetzt ungehemmt meine Wangen hinunterströmen. „Allie. Wenn wir ein Untersuchungskit machen, dann wird das aktenkundig. Man kann es nicht zurücknehmen. Du wirst verhört werden. Man wird dir die Schuld geben. Es ist nicht richtig. Das war nicht deine Schuld. Nichts von dem war deine Schuld. Das musst du glauben.“ In ihren Augen stehen Tränen, und ich würde sie am liebsten von mir wegschieben, denn wie kann sie es wagen, mich so anzusehen! Ich bin diejenige, die vergewaltigt wurde. Ich bin diejenige, der etwas weggenommen wurde. Ich. Nicht sie. Sie hat kein Recht, so zu tun, als ob ihr das wehtut. Es tut nur mir weh.
„Ich weiß, das ist alles sehr viel für dich. Ich weiß, da ist viel, dass du verarbeiten musst. Aber es ist wichtig, dass du verstehst, wie das in den Akten aussieht. Du hast als Minderjährige Alkohol getrunken. Du warst aufreizend gekleidet.“ Ich denke an das, was ich getragen habe. Die zerrissene Jeans und das bauchfreie Top sind mir zu dem Zeitpunkt nicht aufreizend vorgekommen. Es war unser großes Spiel mit dem Rivalen. Alle Mädchen haben sich aufgehübscht. Mein Bauch war mit einem roten Teufel und der Nummer 4 bemalt. Romans Nummer. So viele andere Schülerinnen haben das Gleiche gemacht. Aber… hat sie recht? Das war eine Menge nackte Haut, oder? Mein ganzer Bauch war zu sehen gewesen.
Oh Gott.
„Schätzchen, selbst wenn sie diesen Kerl finden, wenn sie ihn anklagen, dann wird sein Anwalt dich durch den Dreck ziehen. Sie werden deinen Namen beschmutzen. Deinen Ruf. Und dieses Trauma wird mindestens sechs Monate deines Lebens in Anspruch nehmen. Du wirst einem Gerichtssaal voller Menschen erzählen müssen, was passiert ist. Jedes einzelne Detail. Wieder und wieder. Die Verteidigung wird dir die Worte im Mund verdrehen und dir die Schuld zuschieben. Sie werden dich alles wieder erleben lassen in der Hoffnung, dass du dich versprichst. Dass du in deine Geschichte einen Fehler einbaust.“
Sie wischt mit dem Daumen meine Tränen weg, und ich unterdrücke ein Schreien, als ich ihre Worte in mich aufnehme, denn sie hat recht. Ich weiß, dass sie recht hat. Aber es fühlt sich falsch an. Er sollte nicht frei sein. Er sollte nicht ungestraft davonkommen.
„Sie werden nicht genügend Beweise finden, um herauszufinden, wer das getan hat. Wenn er kein Kondom verwendet hätte, wenn sie seine… seine Flüssigkeiten hätten, würde das möglicherweise immer noch nicht ausreichen, um ihn zu verurteilen. Ich will das nicht für dich.“
Ich erschauere und drehe mich von ihr weg. Ich unterdrücke ein Schluchzen und richte mich gerade auf, während ich über alles, was sie gesagt hat, nachdenke. Komm schon, Allie. Sei stark. Gibt nicht auf. Du hast so viel durchgemacht. Du kannst jetzt nicht aufgeben.
„Er hat es wegen meines Dads getan“, sage ich zu ihr, weil ich es irgendjemandem erzählen muss. Sie reißt schockiert die Augen auf, aber ich gebe ihr keine Gelegenheit zum Antworten. „Als er…“ Ich halte inne, bevor ich das Wort herauspresse. „Nachdem er mich vergewaltigt hatte, hat er mir gesagt, warum. Er sagte, dass Dad irgendeine Abmachung mit ihm vermasselt hat.“ Ich schaudere noch einmal, als ich die Botschaft wiederhole, die er mir gegeben hat. Sie keucht auf.
Dann zwinge ich die nächsten Worte aus meinem Mund heraus, egal, wie gebrochen und verbittert sie mich klingen lassen. Ich habe das Recht, verbittert zu sein.
„Aber du hast trotzdem recht. Es ist egal, weil er schlau war. Ich habe ihn nicht gesehen. Ich wurde wegen meines eigenen Vaters vergewaltigt. Wegen des Geschäft s meines Vaters, und es ist völlig egal.“
Schweigen.
Ich greife wieder nach dem Beutel und gehe in das zum Zimmer gehörende Badezimmer, um mich anzuziehen. Als ich an ihr vorbeischleiche, kann ich ihre Worte kaum hören, aber sie sind da und schweben in der Luft zwischen uns. „Es tut mir so leid, Allie.“
Ja, mir tut’s auch leid. Aber davon wird sich keine verdammte Sache ändern.
Während ich mich ausziehe, erhasche ich einen Blick auf mein Spiegelbild und schrecke zurück. Ich versuche, all meine Gefühle zurückzuhalten. Der Drang zu duschen ist groß. Ich will alle Spuren von ihm von meiner Haut schrubben. Als ich hier angekommen bin, hat mir die Krankenschwester gleich gesagt, dass ich damit warten müsste. Wie wichtig es wäre, dass ich nicht dusche, dass ich nicht einmal meine Hände wasche, bis sie Gelegenheit hatten, ihre Indizien zu sammeln. Aber das ist nun egal. Ich drehe den Wasserhahn des Waschbeckens auf, bis Dampf aufsteigt. Ich pumpe eine große Menge Handseife in meine Hände und fange an, mich zu waschen. Ich verliere mich in den Bewegungen, gehe sicher, dass ich die Hände bis hoch zu den Unterarmen schrubbe, bis meine Haut von weißem Schaum bedeckt ist. Das Wasser verbrüht mich fast, als ich meine Hände darunter halte, aber das ist mir egal. Ich zwinge mich, die Seife abzuspülen und meine Hände und Unterarme so lange in den Wasserstrahl zu halten, bis sie rot und gereizt sind. Ich habe Schlimmeres ertragen.
Wenn ich im Waschbecken duschen könnte, dann würde ich es tun, aber das wird warten müssen, bis ich zu Geralds Haus komme.
Als ich zurück ins Zimmer gehe, stehen sich Janessa und eine Krankenschwester gegenüber. Sie drehen sich zu mir, und ich halte inne.
„Allie. Ich habe versucht, deiner ...“, fängt die Schwester an.
„Sie ist minderjährig, und die Entscheidung steht fest. Wir gehen.“
Ich senke den Kopf. Ich habe nicht die Kraft, mich mit irgendjemandem herumzustreiten. Sollen sie das untereinander ausmachen. 
Ich schlüpfe in meine Schuhe und höre das unverkennbare Vibrieren eines Handys, während Janessa ihren Jetzt-reicht’s-aber-Ton bei der Krankenschwester anschlägt.
Ich mache mir nicht die Mühe, ihr Gespräch zu verfolgen. Ich weiß schon, wie es ausgehen wird, und ich habe mich mit meinem Schicksal schon abgefunden.
Ich entdecke mein Handy auf dem Nachttisch, dankbar, dass es gefunden und mitgenommen wurde und entsperre den Bildschirm.
Vier verpasste Nachrichten.
Roman: Wo bist du? Was zum Teufel, Allie?
Roman: Du hast gesagt, du würdest kommen.
Roman: Nach allem, was geschehen ist, kannst du mir wenigstens Bescheid sagen, ob es dir gut geht?
Roman: Habe Kasey ausfindig gemacht. Sie hat gesagt, dass du wegen irgendeines Anrufs abgehauen bist. Wo bist du?
Ich schaue auf die Uhr. Es ist kurz nach zehn. Das Spiel müsste vor fast einer Stunde geendet haben. Er muss aus dem Umkleideraum gekommen sein, muss davon ausgegangen sein, dass ich auf ihn warte, aber ich war nicht da. Wie lange hat er auf mich gewartet?
Meine Finger zittern über der Tastatur. Was soll ich antworten? Ich kann ihm nicht sagen, wo ich bin. Was passiert ist. Ich kann es niemandem sagen. Aber ich will ihn auch nicht anlügen.
Noch eine Textnachricht leuchtet auf meinem Bildschirm auf. 
Emilio: Tolle Art, unseren Kumpel zu unterstützen.
Dann noch eine.
Roman: Ach, vergiss es. Mach einfach dein Ding.
Erneut strömen mir Tränen die Wangen hinunter. Ich kann sie nicht aufhalten. Ich wische sie weg, aber es kommen immer neue.
Janessa ruft meinen Namen, und ich drehe mich zu ihr, schiebe dabei das Handy in die Hosentasche, und folge ihr dann zur Tür hinaus. Auf dem Weg raus reicht mir die Krankenschwester eine kleine Pille und ein Glas Wasser. Ich frage nicht, wofür sie ist. Ich weiß es auch so.
Ich lege die Pille auf meine Zunge und nehme einen Schluck Wasser, um sie hinunterzuspülen. Dann gebe ich das Glas der Schwester zurück, die mir zunickt, als ob ich etwas gut gemacht habe. Aber sie sieht trotzdem nicht zufrieden aus.
Janessa beobachtet es mit zusammengepressten Lippen und einem Stirnrunzeln, doch sie sagt nichts.
Zwei Polizisten und ein Mann, der ihr Chef sein muss, kommen auf uns zu, als wir den Flur zur Hälfte durchquert haben. Ich erkenne die Polizisten nicht, aber der Mann, der bei Ihnen ist, ist der, der mich gefunden hat. Ich erinnere mich an ihn. Er trägt eine Uniform wie die anderen. Sie ähnelt denen der Polizisten, aber seine Uniform hat mehr Abzeichen, mehr Sterne an den Schultern. Er strahlt eine Autorität aus, die den beiden anderen fehlt.
Ich will ihm danken. Er hat mir geholfen. Aber ich kann die Worte nicht herausbringen. Ich kann nur auf seine Hände starren. Sie sind rau und gebräunt und ...
Ich mache mehrere Schritte rückwärts.
Janessa dreht ihren Kopf zu mir, um mich anzuschauen, aber ich sehe nur seine Hände.
Sie sind nicht dieselben, Allie. Sie sind nicht dieselben.
Das weiß ich. Mein Verstand weiß das. Aber mein Herz klopft rasend schnell in meiner Brust, weil sie nicht dieselben sind, aber sie sehen ähnlich aus, und ich kann einfach nicht aufhören, sie anzustarren. Er macht einen Schritt in meine Richtung, und meine Muskeln versteifen sich.
Mein Kopf geht ruckartig hoch, um ihm ins Gesicht zu schauen, und er erstarrt.
„Junge Frau?“ Seine Hände sind erhoben, als ob er sich ergibt, und ich sehe die Sorge in seinem Blick. Er kommt vorsichtig noch einen Schritt näher, und meine Brust hebt und senkt sich. Er nähert sich mir, als ob ich ein tollwütiges Tier wäre. Ich brauche… Ich brauche…
Janessa macht zwei Schritte nach links und versperrt ihm plötzlich die Sicht auf mich. Sie sagt etwas, aber ich höre es nicht. Ich kann nicht hören, weil mir das Blut in den Ohren rauscht.
Seine Hände sind nicht dieselben , sage ich mir immer und immer wieder, wie ein Mantra, wodurch irgendwie alles besser werden wird. Ich versuche, an etwas anderes zu denken. Irgendetwas anderes. Doch dann springen meine Gedanken zu Roman und wie wütend er momentan auf mich sein muss. Wie enttäuscht alle sind. Ich hatte versprochen, dass ich da sein würde. Sie wollten mich dabeihaben. Und dann war ich’s nicht.
Janessa zupft an meinem Ärmel und ich schaue auf. Sie führt mich um die Polizisten herum, und mir entgeht nicht das Mitleid in ihren Augen, als sie mich durch die Krankenhaustür herausführt. Ich will ihr Mitleid nicht.
Als wir draußen sind, fange ich an, mich in mich zurückzuziehen. Ich zwinge meinen Kopf dazu, nichts zu fühlen. Alle Gefühle zu verdrängen. Zu vergessen, was passiert ist. Ich will einfach nur alles vergessen.