SIEBENUNDZWANZIG
I ch wache mit einem Ruck auf. Mein Brustkorb hebt und senkt sich, und ich reiße die Augen auf. Tageslicht strahlt durch die Vorhänge und zeigt mir, dass es Morgen ist. Oder vielleicht Nachmittag. Es ist unwichtig.
Ich starre zur Decke hoch und versuche, wieder einzuschlafen. Ich will nicht wach sein. Es tut viel zu sehr weh.
Es klopft an meine Tür.
Ich ignoriere es.
Noch ein Klopfen.
Ich drehe mich auf die Seite, als sich die Tür öffnet. „Allie“, ruft Janessa.
Ich kneife meine Augen zu in der Hoffnung, dass sie glaubt, ich würde schlafen und sie mich dann in Ruhe lässt.
Das tut sie nicht.
Ich höre, wie ihre Schritte auf dem Teppichboden näherkommen. Die Matratze sinkt unter ihrem Gewicht ein, als sie sich auf die Kante setzt. Ich versteife mich, als sie mein Bein berührt. „Allie, du musst etwas essen. Warum kommst du nicht nach unten. Dein Vater hat Frühstück bestellt. Es wird dir guttun, das Bett zu verlassen.“
Ich sage nichts.
Sie probiert es mit einer anderen Taktik. „Ein paar deiner Schulfreunde sind vorbeigekommen.“
Sind sie das? Ein Teil von mir möchte wissen, wer es war. Ich will wissen, ob es Roman war. Ob er noch wütend auf mich ist? Er hat mir seit jenem Abend nicht geschrieben, und ich vermisse ihn, aber… Jedes Mal, wenn sich mir ein Mann nähert, breche ich in Panik aus. Gerald hat einmal versucht, mit mir zu sprechen. Ich habe durchgedreht. Ich habe mich wie ein kleines Kind zusammengerollt und geschluchzt. Ich weiß immer noch nicht, warum. Es ist einfach passiert, und ich konnte nichts dagegen tun.
Er hat einen Arzt bestellt, um mich untersuchen zu lassen. Das lief auch nicht gut. In den letzten drei Tagen war Janessa die einzige Person, die ich in mein Zimmer gelassen habe. Ich mag es nicht, wenn sie in der Nähe ist, und ich mag es wirklich nicht, wenn sie mich berührt, aber zumindest lässt mich ihre Gegenwart nicht in panische Angst ausbrechen. Wenigstens etwas.
Auch, wenn ich Roman sehen will, soll er mich nicht so sehen. Ich will nicht riskieren, dass ich wieder die Kontrolle verliere. Bei ihm. Doch die Neugierde siegt, also öffne ich meine Augen und frage: „Wer?“
Sie verlagert ihr Gewicht. „Ein paar Jungs. Zwei Latinos und ein Schwarzer. Sie haben gesagt, dass sie deine Freunde wären?“
Ich nicke.
„Was hast du ihnen gesagt?“
„Dass du im Moment keine Besucher empfängst.“
Ich schlucke. „Irgendetwas anderes?“
Sie ist für einen Moment still und ich halte den Atem an. „Ich habe ihnen nicht erzählt, was passiert ist, aber… einer der Jungen wurde wütend, als ich mich geweigert habe, ihn einzulassen. Er hat angefangen zu schreien. Ich habe ihn auch angeschrien. Ich habe ihm gesagt, dass du niemanden sehen wolltest. Nicht einmal ihn.“ Sie berührt entschuldigend mein Bein. „Er schien nicht glücklich damit zu sein. Es tut mir leid, Liebes. Ich wusste einfach nicht, wie ich ihn zum Gehen bewegen sollte.“
Ich zwinkere die Nässe in meinen Augen zurück. „Es ist okay.“
Sie seufzt und steht auf, um zu gehen. „Überlegst du es dir wenigstens, ob du vielleicht doch nach unten zum Essen kommst?“
Ich nicke. Aber ich weiß schon, dass ich es nicht tun werde. Ich habe mein Bett seit der Nacht nur verlassen, um aufs Klo zu gehen oder zu duschen. Ich dusche mindestens dreimal pro Tag. Manchmal auch öfter. Ich kann das Gefühl seiner Hände einfach nicht von mir abwaschen. Den Geruch seiner Haut.
Janessa will noch etwas sagen, aber ich höre sie nicht mehr. Ich verliere mich in meinen Erinnerungen. Ich will, dass sie weggeht. Ich muss wieder einschlafen. Es ist der einzige Ort, wo ich mich noch sicher fühle. Ich halte mir auf kindische Weise die Ohren zu. „Bitte geh weg“, flüstere ich.
Ein Tag nach dem anderen vergeht, so unglaublich es ist. Selbst wenn es so scheint, als ob ich mich mit jeder Stunde, jeder Minute, die vergeht, mehr verliere. Ich verstehe nicht, wie die Sonne jeden Morgen aufgehen kann, wo ich es doch kaum schaffe, meine Augen zu öffnen, um sie zu begrüßen.
Ich verliere den Überblick darüber, wie viele Tage vergehen.
An manchen Tagen kommt Janessa zu mir und versucht, mich dazu zu bewegen, nach unten zu kommen. An manchen Tagen kommt sie nicht. Ich schaffe es, das Mineralwasser zu trinken, das sie mir bringt. Gelegentlich trinke ich den Tee. Aber ich rühre nur selten das Essen an. Die paar Male, als ich es versucht habe, haben damit geendet, dass ich über der Toilette gehangen habe, um das Gegessene gleich wieder hochzuwürgen. Mein Körper fühlt sich nicht mehr wie mein eigener an. Ich weiß, das ist nicht normal. Ich weiß, ich brauche Hilfe. Aber ich habe nicht die Kraft, darum zu bitten. Oder vielleicht will ich es nicht. Ich fühle nichts mehr, und ich habe Angst davor, dass die Betäubung nachlässt.
Roman schreibt mir nicht mehr. Emilio auch nicht. Dominique hat sich einmal gemeldet und gefragt, ob irgendetwas passiert sei. Ob es mir gut ginge. Aber ich habe nicht geantwortet. Was hätte ich sagen sollen?
Ich werde von aufgeregten Stimmen im Flur vor meiner Zimmertür geweckt. Während ich mir den Schlaf aus den Augen reibe, versuche ich Interesse aufzubringen für das, was sie sagen. Ich starre die geschlossene Tür an, ziehe dabei die Decke enger um mich, als ob sie mich aufwärmen könnte. Aber sie reicht nicht. Bis tief in meine Knochen fühle ich nichts als Kälte. Kälte, die nie weggeht.
„Sie braucht mehr Zeit.“
„Sie braucht nicht mehr Zeit. Es ist alles in Ordnung mit ihr, und sie schläft die ganze Zeit nur. Es ist fast eine Woche her ...“
„Was soll sie deiner Meinung nach denn sonst tun? Das Mädchen ist traumatisiert.“
„Sie muss darüber hinwegkommen.“
Ich höre nicht, was sie dann sagen. Ich schaue auf die Uhr auf meinem Nachttisch. Es ist erst kurz nach sieben Uhr morgens.
Ich atme tief ein.
Es geht mir gut.
Ich werde das hier überstehen.
Du bist stark, Allie. Du bist stark wie Mom. 
Ich mache einen weiteren tiefen, zittrigen Atemzug und unterdrücke schon wieder meine Tränen. Warum weine ich jetzt?
„Du bist stark wie Mom“, flüstere ich mir zu. Ich wische die Tränen fort und zwinge mich, aufzustehen. Ich bin wie betäubt. Ich kann wie betäubt sein und mich bewegen. Ich kann wie betäubt sein und Dinge tun. Ich kann an andere Orte gehen. Nicht wahr? Vielleicht.
Mom ist gestorben. Mein Freund hat mit mir Schluss gemacht. Meine beste Freundin hat mich verraten. Ich habe mein Zuhause verloren. Ich musste in eine neue Schule in einer fremden Stadt gehen. Mein Dad hat nie Zeit für mich. Ich wurde vergew …
Ich zwinge mich, den Gedanken zu Ende zu denken.
Ich wurde vergewaltigt.
Ich habe in so kurzer Zeit so viel durchgemacht. Aber es ist vorbei. Vorüber. In der Vergangenheit. All das ist bereits passiert. Ich werde nach vorn schauen. Immer ein Tag nach dem anderen, Allie. Du schaffst das.
Wie betäubt. So verdammt betäubt.
Janessas Stimme wird wieder lauter. Sie erwähnt einen Therapeuten. 
Ich weiß nicht, was Gerald antwortet, aber ich kann an Janessas Tonfall hören, dass sie ihm nicht zustimmt.
Das ist in Ordnung.
Es geht mir gut.
Oder zumindest wird es mir gut gehen. Die Zeit heilt alle Wunden, oder? Auf jeden Fall wird das in den ganzen inspirierenden Zitaten und Sprüchen, die in den sozialen Medien herumschwirren, immer behauptet.
An dem Tag, an dem ich in Sun Valley angekommen bin, habe ich mir gesagt, dass ich einfach nur dieses Jahr überleben und meinen Abschluss machen müsste, und dann könnte ich zurückgehen.
Das ist immer noch der Plan. Ich kann nach Hause gehen. Alles wird besser werden, wenn ich erst einmal zurück in Richland bin. Es wird da keine Schule voller Leute geben, die mich hassen. Es wird keine bösen Männer geben, die mir auflauern und wehtun, um sich an meinen Dad zu rächen. Ich werde in Sicherheit sein. Ich muss hier nur noch ein bisschen länger überleben.
Während ich diesen Vorsatz verinnerliche, dusche ich. Das Wasser verbrüht meine Haut, aber es ist immer noch nicht heiß genug, um die tief in meinen Knochen sitzende Kälte zu vertreiben. Ich schrubbe an meinen Armen und Beinen herum und wünschte, ich könnte mich reinigen. Aber ich habe bereits begriffen, dass ich, egal wie oft ich meinen Körper wasche, mich noch immer schmutzig fühle. Ich kann den Geruch und das Gefühl von ihm nicht von mir bekommen.
Ich verbringe dreißig Minuten unter der Dusche, bevor ich aufgebe und mich abtrockne. Ich ziehe mir eine Jeans und ein langärmeliges lila Oberteil an, sorgfältig darauf bedacht, jeden Zentimeter meines Körpers zu bedecken, soweit es möglich ist. Ich füge einen Seidenschal hinzu, um auch noch die blauen Flecke an meinem Hals zu verdecken.
Ich lasse mein Haar offen, föhne es und trage noch eine dicke Schicht Concealer am Kiefer, der rechten Wange und unter der Unterlippe auf. Das reicht nicht, also füge ich eine Schicht der Fondation hinzu und dann nochmal Concealer darauf. Das Make-up verdeckt die blauen Flecke, kann aber nicht die Schwellungen verstecken. Mit etwas Lippenkonturenstift und Lipgloss sollten sie weniger stark auffallen. Hoffe ich.
Selbst mit all der Schminke im Gesicht sieht meine Haut immer noch ein bisschen verfärbt aus, aber wenn ich den Kopf gesenkt halte, wie ich es immer mache, dann sollte es gehen. Niemand wird mich genau ansehen.
Es klopft an der Tür, und bevor ich antworten kann, wird die Tür geöffnet.
Janessa tritt ein und sieht mich auf dem Boden vor meinem Ganzkörperspiegel sitzen.
„Du bist bereit?“, fragt sie und klingt überrascht.
„Ja.“ Ich stehe auf und greife nach meinem Rucksack. Mein Blick bleibt an meinen Händen hängen, und ich halte inne, starre sie an, als ob ich sie zum allerersten Mal sehe. Meine Fingerknöchel sind abgeschürft. Meine Nagelbetten zerrissen und voller Schorf.
Das kann man nicht mit Schminke abdecken. Ich runzele die Stirn. Ich werde meine Hände in den Jackentaschen behalten müssen, wenn ich Fragen vermeiden will. Angst steigt in mir auf. Ich komme mit Fragen nicht klar.
Ich schnappe mir eine Sweatjacke aus meinem Schrank. Es ist eines der Teile, die ich mit Aaron bei unserer Shoppingtour bei Target gekauft habe.
Janessa schaut finster, als sie das schwarze Kleidungsstück sieht und geht dann zum Kleiderschrank. Sie guckt die Kleidungsstücke durch, die im Schrank hängen, und zieht einen kuscheligen, weißen Pullover mit hellrosa Ärmeln hervor. 
Sie reicht ihn mir, nimmt mir die Sweatjacke sanft aus der Hand und packt sie zurück in meinen Schrank. „Das passt zu dem, was du trägst“, sagt sie zu mir.
Ich will schreien.
Aber ich tu’s nicht.
Schreien bringt nichts. Es hilft nichts. Ich weiß das, also nicke ich, ziehe mir den Pullover über und fühle mich, als ob ein weiteres Stück von mir stirbt. Warum ist der Pullover so bedeutsam?
Als wir aus dem Haus kommen, um zur Schule zu fahren, steht ein unbekanntes Auto in der Einfahrt.
Dominique steht dort gegen die Kühlerhaube seines schwarzen Escalades gelehnt, die Arme vor der Brust verschränkt.
Ich erstarre.
„Allie“, ruft er und nickt mit seinem Kopf zum Auto. „Ich nehme dich mit. Komm.“
Mein Herzschlag wird schneller, und ich richte meine Augen auf Janessa, bettele sie wortlos an, etwas zu sagen. Irgendetwas.
Ich kann nicht mit ihm fahren. Mein Atem geht unregelmäßig. Ich kann nicht.
Verständnis breitet sich auf ihrem Gesicht aus. Sie nickt mir kaum wahrnehmbar zu und dreht sich zu ihm. „Es tut mir leid, junger Mann, aber sie müssen abfahren.“
Dom grinst. „Mach ich gleich. Sobald Allie ins Auto steigt.“ Er wirft ihr ein charmantes Lächeln zu. „Ich bin ein Schulfreund. Ich fahre sie nicht zum ersten Mal. Sie ist bei mir in Sicherheit.“
Janessa wirft mir einen Blick zu, als ob sie fragen will: „Und was jetzt?“
Aber wie zum Teufel soll ich das wissen? Ich habe keine Ahnung, was ich in dieser Situation tun soll. Ich war nicht darauf gefasst, ihn zu treffen. Ich hatte eine Motivationsrede im Kopf, die ich auf der Fahrt zur Schule vor mich hin beten wollte. Bevor ich ihn gesehen hätte. Bevor ich irgendjemanden gesehen hätte. Meine Hände sind feucht und kalter Schweiß läuft mir das Rückgrat hinunter.
Mein Herz schlägt schnell in meiner Brust. Schneller. Heftiger. Meine Atemzüge werden hastiger, und ich weiß, dass ich gleich eine Panikattacke bekomme. Ich kann nicht zulassen, dass er mich so sieht. In meinen Schläfen pocht es, starke Kopfschmerzen kündigen sich an und schlagen von innen wie ein Rammbock auf mich ein.
„Allie?“, flüstert sie.
Ich kann nicht. Ich kann nicht.
Ich weiß, dass Dom harmlos ist. Er ist mein Freund. Er tut mir nichts. Ich weiß das. Aber die Vorstellung, mit ihm jetzt zusammen im Auto zu sitzen, lässt meinen Verstand verrücktspielen. Ich kann nicht.
Ich drehe mich um, um ins Haus zurückzuhasten. Ich ignoriere sie beide, als sie nach mir rufen.
Ich kann nicht.
Ich bin nicht bereit.
Ich kann einfach nicht.