ACHTUNDZWANZIG
M ehr Zeit vergeht. Ich weiß nicht, was ich mir dabei gedacht hatte, als ich versucht habe zur Schule zu gehen. Wie idiotisch.
Seitdem sind drei Tage vergangen. Vielleicht vier. Ich bin mir nicht sicher, und ich versuche, mich nicht darum zu kümmern. Als es an meiner Tür klopft, seufze ich, doch als ich mich auf die andere Seite drehe, um Janessa zu sagen, dass sie gehen soll, stockt mir der Atem.
Julio tritt ein, Janessa direkt hinter ihm. „Allie“, sagt sie vorsichtig.
Ich schlucke schwer und setze mich auf, wobei ich die Decke fest gegen meine Brust drücke. „Was machst du hier?“, flüstere ich. Meine Augen sind nur auf Julio gerichtet, der einfach nur in meinem Zimmer steht.
Seine dunkelbraunen Augen werden weich, und er macht einen Schritt auf mich zu. Ich verspanne mich bei dieser einen kleinen Bewegung. Er hält an und dreht sich mit einem fragenden Blick zu Janessa um.
„Sie hat im Moment Probleme damit, Männer um sich zu haben.“
Er nickt. Er macht einen Schritt zurück, lehnt sich gegen die Wand und lässt sich auf den Boden sinken, wo er die Hände in seinem Schoß faltet. „Hey“, versucht er es noch einmal.
Ich rutsche in meinem Bett nach hinten, sodass zwischen uns noch ein paar mehr Zentimeter liegen. „Hi.“
Janessa steht in der Tür. „Willst du, dass ich bleibe?“, fragt sie.
Ich atme tief ein. Atme aus. Dann noch einmal und ich schüttele meinen Kopf. „Ich… Nein. Es ist okay.“
Sie nickt, sieht aber nicht überzeugt aus.
„Ich bleibe genau hier, egal wie viel Zeit sie braucht“, sagt er zu ihr. „Ich werde nicht drängen.“
„Ich bin gleich unten, falls du mich brauchst“, sagt sie zu mir und zieht dann die Tür hinter sich zu.
Julio und ich starren uns mehrere Sekunden lang an, bevor er schließlich das Schweigen bricht. „Geht es dir gut?“
Diese eine Frage sorgt dafür, dass mir die Tränen in die Augen steigen. Ich schaue weg und wische mir die Wangen ab.
„Verdammt, Allie.“ Julio lässt seinen Kopf hängen, sein Brustkorb hebt und senkt sich unter seinen schweren Atemzügen. „Ich…“ Er schaut mich an, seine Augen voller Schmerz. „Ich weiß nicht, was ich sagen kann. Wie ich es in Ordnung bringen kann.“
Ich würge ein Lachen heraus. „Sie hat es dir erzählt?“
Er nickt. „Ich habe ein paar Mal versucht, dich anzurufen, aber es ist immer die Mailbox rangegangen. Dann hat mich aus heiterem Himmel eine Frau angerufen und gefragt, ob ich bereit wäre, für ein paar Tage herzukommen, um zu sehen, ob ich helfen kann.“ Er zuckt mit den Schultern. „Allie, als sie mir gesagt hat, was dir passiert ist. Was du durchgemacht hast…“
Meine Augen brennen und Scham macht sich in meiner Brust breit. Ich presse die Lippen fest zusammen. Ich schaue hinunter auf die Decke, die ich mit meinen Fingerspitzen umklammert habe. Er muss glauben, dass ich so schwach bin. So schmutzig.
„Hey!“
Ich schaue nicht auf.
„Hey!“
Ich schüttele den Kopf. Ich will das Mitleid oder den Ekel in seinem Blick nicht sehen. Wenn Julio mich jetzt anders ansieht… Ich kann damit nicht mehr klarkommen.
„Allie. Süße. Ich liebe dich. Du bist meine beste Freundin. Lass mich für dich da sein.“
Eine Träne rollt meine Wange hinunter und ich wische sie wütend weg. „Du solltest nicht hier sein“, sage ich zu ihm.
„Alejandra. Por favor. Déjame ayudarte.“ Bitte. Lass mich dir helfen.
Ich will Hilfe. Ich will sie. Aber ...
„Wie?“ Ich würge das Wort hervor. „Wie kannst du mir helfen? Julio, ich habe das Gefühl, als ob ich innerlich sterben würde, und ich wünschte, ich würde es tatsächlich. Ich will hier nicht sein. Ich will das nicht fühlen. All das. Ich schaffe es nicht. Ich schaffe all das nicht mehr. Ich bin einfach …“
Er drückt sich vom Boden hoch, bleibt aber bei der Tür. Ein Schluchzen, mit einem Wimmern vermischt, kommt über meine Lippen. Er erstarrt. Seine Hände sind an seinen Seiten zu Fäusten geballt, seine Augen schauen bittend, aber ich weiß nicht, was er will.
Ein Muskel zuckt in seinem Kiefer und er reibt sich mit der Hand übers Gesicht, auf dem sich dann ein erschöpfter Ausdruck zeigt. „Ich will dich in den Arm nehmen. Können wir… glaubst du, dass wir das versuchen können?“
Ich habe keine verdammte Ahnung. Mit geschlossenen Augen atme ich bewusst langsam, während meine Gedanken rasen und ich über seine Bitte nachdenke. Die einzige Person, die mich berührt hat, ist Janessa. Aber Julio ist mein Freund. Ich vertraue ihm. Ich kenne ihn. Ich…
„Kann ich deine Hände sehen?“, frage ich.
Er runzelt verwirrt die Stirn, aber hält dann die Hände mit den Handflächen zu mir hoch. Ich schüttele den Kopf. „Drehe sie herum.“
Er tut es, ohne zu fragen. Ich schaue mir seine Handrücken genau an, auch wenn ich schon weiß, was ich darauf sehen werde. Beide Hände sind tätowiert. Eine weist einen großen Totenkopf mit roten Rosen auf beiden Seiten auf. Die andere zeigt einen Rosenkranz und ein Kreuz, das sich zwischen seinem Daumen und Zeigefinger befindet.
Ich konzentriere mich auf die Tattoos, folge den Linien der Motive mit meinem Blick. Ich zwinge mich dazu, die Unterschiede zwischen seinen Händen und denen meines Angreifers wahrzunehmen. Außer der Tattoos erkenne ich noch den Goldring, den er auf seinem rechten Mittelfinger trägt. Seine sauberen, kurzen Nägel.
Mein Atem geht langsamer und meine Schultern entspannen sich. Julio hat Geduld mit mir und lässt meine Augen ausreichend lange schauen. Mehrere Minuten vergehen, bevor ich mich traue, ihn näher kommen zu lassen.
Vorsichtig kommt er zur Kante meines Bettes. Als er sie erreicht, senkt er den Kopf und fragt, ob es in Ordnung ist, wenn er sich hinsetzt. Ich nicke.
Er sitzt jetzt neben mir, wir beide warten. Als ich keine Panikattacke bekomme, rutscht er dichter heran und lehnt sich neben mir ans Kopfteil.
Ich wische mir die Augen und bewege mich absolut nicht, als er langsam und vorsichtig einen Arm um meine Schultern legt. Niemand von uns bewegt sich. Meine tiefen, bewussten Atemzüge wirken laut in dem stillen Zimmer, doch ihn scheint das nicht zu stören. Wir sitzen da, und während die Minuten vergehen, bewege ich mich vorsichtig, bis ich mich zu ihm gedreht habe, mein Ohr an seine Brust über seinem Herzschlag gedrückt ist. Sein Griff um mich wird fester und ich schaffe es, weiterzuatmen.
Er hebt die andere Hand und streichelt abwesend mein Haar. „Es tut mir so verdammt leid, Allie“, sagt er.
Ich nicke gegen seine Brust. „Mir auch“, flüstere ich, fast fürchte ich mich, die Stille im Zimmer zu durchbrechen. „Aber ich bin wirklich froh, dass du hier bist.“
„Und ich werde nirgendwo hingehen. Ich bleibe so lange, wie du mich brauchst.“
Ich verbringe den Morgen mit Julio und zum ersten Mal seit dem Übergriff habe ich das Gefühl, wieder atmen zu können. Er sagt mir, dass er die ganze Woche bleiben wird. Länger, wenn ich es brauche. Er hat es schon mit seinen Eltern und Lehrern abgesprochen, und er kann im Gästezimmer unseres Poolhauses bleiben. Es gibt viele leere Zimmer im Haupthaus, in denen er bleiben könnte, aber er scheint mit dem Poolhaus zufrieden zu sein, also stelle ich das nicht infrage. Es hat wahrscheinlich damit zu tun, dass sich Gerald wie Gerald benimmt. Ich bin überrascht, dass er Julio den Besuch überhaupt gestattet hat, also werde ich nichts sagen, dass die Sache gefährden könnte.
Ich bin froh, dass Julio hier ist. Ich habe ihn vermisst. Wie sehr, ist mir erst klar geworden, seitdem er hier ist.
Julio erzählt mir von den Bedingungen seines Aufenthaltes. Er wird mit mir zur Schule gehen. Ich weiß nicht, wie, aber Janessa hat ihn als Gastschüler angemeldet. Ich nehme an, der Plan sieht vor, dass er in der ersten Woche alle Kurse mit mir besucht, sodass ich das nicht allein schaffen muss.
Ich weiß immer noch nicht, ob es eine gute Idee ist, zurück zur Schule zu gehen. Aber als ich die Möglichkeit einer externen Prüfung aufgebracht habe, hat Janessa die Idee sofort abgewiesen und gesagt, dass ich das gar nicht erst mit meinem Vater besprechen müsse. Alles, das keinem offiziellen Highschool-Abschluss entspricht, würde bedeuten, dass ich von Elite-Universitäten nicht angenommen werden würde. Nicht, dass ich mich persönlich bei einer diese Unis bewerben würde, aber Janessa scheint zu glauben, dass ich auf eine gehen werde. Die Vorstellung, auf die Uni zu gehen, kommt mir so unwahrscheinlich vor, dass ich nicht einmal darüber nachdenke. Ich hatte immer vor, zuerst zwei Jahre das Communitycollege zu besuchen. Das ist das Einzige, das ich mir halbwegs leisten kann, aber das sage ich ihr nicht. Im Moment will ich mich einfach nur aufs Heute konzentrieren. Und vielleicht auf morgen. Alles, was danach kommt, ist zu viel.
Am nächsten Morgen, als mein Wecker klingelt, zwinge ich mich, das Bett zu verlassen. Der Druck auf meiner Brust, den ich seit dem Übergriff verspüre, ist weniger geworden. Er ist immer noch da, aber heute ist er erträglich.
Ich habe genügend Zeit damit verbracht, mich in meinem Elend zu suhlen. Mehr Zeit, als ich mir nach Moms Tod zugestanden habe. Das muss jetzt reichen. Ich muss den Schulabschluss machen. Dass ich schon so viel verpasst habe, wird es mir schwer genug machen, und ich weigere mich, mir von den Männern, die mir das angetan haben, noch mehr wegnehmen zu lassen.
Nachdem ich gestern den ganzen Tag mit Julio verbracht habe, habe ich mir eingeredet, dass ich es schaffen werde.
Wir haben nicht über den Überfall geredet. Er weiß, was passiert ist, und ich habe kein Verlangen danach, die Erinnerungen wiederaufleben lassen, nur damit er die Geschichte von mir selbst hört. Gott sei Dank, drängt er mich nie dazu. Nicht, dass ich das von ihm erwartet hatte. Julio ist der starke, schweigsame Typ. Er ist der Fels, der standhält, egal wie sehr es stürmt. Als ich aufgewachsen bin, war er mein Fels in der Brandung. Der große Bruder, den ich nie hatte. Er versteht mich. Er versteht, was ich brauche.
Und von ihm im Arm gehalten zu werden und zu wissen, dass ich in ihnen sicher bin. Zu wissen, dass die Welt mir nicht wehtun kann, solange er da ist, hat mir die Atempause verschafft, die ich brauche, um mich zusammenreißen zu können.
Wir haben den Großteil des Tages damit verbracht, Netflix zu schauen und Junkfood zu essen. Na ja, er zumindest.
Ich habe immer noch nichts gegessen, aber ich habe ihm zuliebe etwas Popcorn geknabbert.
Ich weiß, dass Julio es bemerkt hat. Doch er hat nichts gesagt, und ich bin ihm dafür dankbar. Meine Rippen stehen spitz unter meinem Brustkorb hervor. Ich kann sie beim Duschen zählen. Es ist nicht gesund, aber ich weiß nicht, wie ich mich zum Essen motivieren kann. Manchmal ist mir sogar der Geruch von Essen zu viel und bringt mich dazu, zum Klo zu rennen.
Als ich nach unten gehe, erwarte ich, dass Janessa auf uns wartet, um uns zur Schule zu fahren, doch stattdessen überreicht sie mir ein paar Schlüssel und schenkt mir ein kleines Lächeln.
„Dein Vater hat es auf meinem Vorschlag hin aus der Garage geholt.“ Sie deutet mit dem Kinn auf die Autoschlüssel. „Auf die Weise kannst du wegfahren, wenn du allem entfliehen musst.“
Ich starre auf die Schlüssel in meiner Hand. Tränen steigen mir in die Augen und ich wische sie fort. Ich weine ständig. Immer weine ich. Ich hasse es, aber ich hätte nie gedacht, dass ich so erleichtert sein würde, ein Auto zu haben. Bevor das alles passiert ist, hätte ich es abgelehnt. Ich wollte Geralds Geld nicht. Ich brauchte es nicht, und ich mag es, meinen eigenen Lebensunterhalt zu verdienen. Deshalb habe ich mich doch überhaupt erst um Jobs beworben. Aber ich könnte mir jetzt allein kein Auto leisten. Nicht einmal eine Schrottkarre. Und das hier wird mir eine Fluchtmöglichkeit verschaffen.
„Danke.“
Ihr Lächeln wird ein bisschen breiter. „Falls du jemals reden möchtest…“
Julio kommt durch die Hintertür herein. „Hey.“ Er hebt die Hand zur Begrüßung und geht auf mich zu.
Mein Magen verkrampft sich, als er sich nähert, aber ich tue, was ich gestern immer gemacht habe, wenn mein Körper auf seine Nähe reagiert hat. Ich schaue auf seine Hände und meine Angst vergeht. Dann sage ich zu Janessa: „Danke. Aber es geht schon.“
Sie nickt. Reicht mir einen Kaffeebecher zum Mitnehmen, und Julio und ich gehen raus.
In der Einfahrt steht ein silberner Audi RS 5. Ich drücke auf den Knopf des Schlüsselanhängers und bin etwas überrascht, als der Audi mit einem Piepsgeräusch reagiert. Er lässt mich einen RS fahren? Warum kann er mir nicht wie normale Väter einfach nur einen VW Jetta besorgen? Am besten einen gebrauchten.
„Scheiße“, sagt Julio gedehnt. „Das ist ja krass.“
Ich verdrehe die Augen. „Ja, ja. Du kannst ihn von innen bewundern. Komm schon, sonst kommen wir zu spät.“