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enn Julio nicht bei mir wäre, würde ich heute nicht überleben. Er folgt mir in all meine Kurse. Ein paar Mädchen werfen ihm interessierte Blicke zu, aber er ignoriert sie und richtet seine ganze Aufmerksamkeit auf mich.
Roman taucht zur ersten Stunde nicht auf. Ein Teil von mir fragt sich, ob er Silvia in den Umkleideräumen vögelt oder so etwas in der Art. ich verstehe, dass er wütend ist. Aber er hätte das nicht sagen müssen.
Ich will mit ihm reden, um zu erklären, warum ich weder angerufen noch geschrieben habe. Ich weiß, wenn er meine Gründe kennen würde, wenn er wüsste, was alles passiert ist, dann würde er es verstehen. Zumindest hoffe ich, dass er es verstehen würde. Aber ich kann mich nicht überwinden, mich ihm gegenüber so verwundbar zu machen. Seine Worte haben mich tief getroffen. Er wollte mir wehtun, und das ist ihm gelungen. Was, wenn er es nicht versteht? Was, wenn ich ihm sage, was passiert ist, und das nur bestätigt, was ich seiner Meinung nach bin? Eine Hure.
Julio versucht den ganzen Tag über, mich zu trösten. Jedes Mal, wenn ich Roman, Dominique oder Emilio sehe, lenkt er mich mit einer Frage oder einem blöden Witz ab. Manchmal klappt es. Aber meistens nicht.
„Hey“, er hebt mein Kinn hoch, sodass ich ihn anblicken muss. „Du brauchst sie nicht. Noch sieben Monate, und dann kommst du nach Hause zu mir.“
Ich nicke. In vier Monaten werde ich achtzehn. In sieben bin ich mit der Schule fertig. Es fühlt sich wie eine Ewigkeit an. Aber in Wirklichkeit ist das nicht so weit weg. Mich mit den Teufeln zu überwerfen, tut weh, aber vielleicht ist es so am besten.
Wir essen in der Bibliothek ohne Zwischenfälle unser Mittagessen. Na ja, zumindest tut Julio das. Ich schaffe es, zwei Bissen Pizza zu nehmen, bevor ich mein Tablett zur Seite schiebe, weil ich das Essen hier auch nicht besser herunterbekomme als bei Gerald.
Spanisch geht ohne Probleme vorüber. Als ich zum Schweißen gehe, zieht Julio ein bisschen mehr Aufmerksamkeit auf sich als in meinen anderen Kursen, aber diesmal ignoriert Julio sie nicht, weil es eine Klasse voller Jungs ist.
„Ist das dein neuer Lover?“, fragt Aaron mit einem Lächeln im Gesicht. Es ist ein gezwungenes Lächeln, aber es ist trotzdem ein Lächeln. Ich versteife mich, als er näherkommt, aber Julio stellt sich zwischen uns und nimmt mir etwas die Anspannung, bevor er Aaron an meiner Stelle antwortet.
„Nee, Mann. Allie ist wie meine kleine Schwester. Ich bin ein Freund aus ihrer alten Heimat.“ Er streckt eine Hand aus und Aaron schüttelt sie. Sein Lächeln wird aufrichtiger, als er Julio mustert.
„Schwester, was? Ihr zwei hättet mich glatt täuschen können. Das ganze Händchengehalte, die Blicke…“ Er verstummt, und ich weiß, dass da eine Frage drinsteckt, aber er stellt sie nicht.
Julio und ich tauschen, seit er angekommen ist, Zärtlichkeiten aus. Ich bin nicht sicher, wie das gekommen ist. Früher zu Hause haben wir nie Händchen gehalten, aber wir haben uns aneinander gekuschelt, wenn wir zusammen Filme angesehen haben, und wir sind nie vor körperlichem Kontakt zurückgescheut. Aber es war immer platonisch. Wenn er sagt, dass ich wie eine Schwester bin, dann ist das zu hundert Prozent richtig. Ich habe keine biologischen Geschwister. Aber wenn, dann wäre unsere Beziehung bestimmt wie meine zu Julio. Locker. Ungezwungen. Und ohne jegliche romantische Gefühle für den anderen.
„Ich kenne J seit der Grundschule“, sage ich achselzuckend. „Ich glaube nicht, dass einem von uns klar war, wie die Leute die Sache auffassen könnten.“
Julio schnaubt neben mir. „Es ist uns auch egal.“
Aaron scheint darüber nachzudenken. „Und… Wie kommt Roman damit klar? Ich habe ihn vorhin mit ...“ Er unterbricht sich und schaut weg. Er reibt sich den Nacken und schaut mich entschuldigend an. „Sorry. Ich weiß, es geht mich nichts an, aber ich glaube, du hast das Recht es zu wissen.“ Er hält inne. „Roman war heute beim Mittagessen die ganze Zeit über schwer mit Silvia Parish beschäftigt.“
Das fühlt sich wie ein Schlag in die Magengrube an. „Er hat nicht lange gebraucht, um sich eine Neue zu suchen.“
Aarons Gesicht verzieht sich zu einer Grimasse. „Ist etwas vorgefallen? Die Teufel haben sich alle komisch benommen. Ich weiß, du und er, ihr wart ...“
„Nein. Nichts ist vorgefallen. Die Dinge haben nur ihren Lauf genommen. Das ist alles.“
Julio vibriert neben mir vor Wut. Ich weiß, er will etwas sagen. Er hat es deutlich gemacht, was er von Roman hält, aber glücklicherweise redet er nicht darüber.
„Na ja, wie dem auch sei, ich hoffe, dir geht es gut. Roman ist ein Arschloch. Du hast jemand Besseren verdient.“
Julio pfeift zustimmend, und der Lehrer reißt seinen Kopf zu uns herum und funkelt uns wütend an. Julio sagt leiser: „Das kannst du laut sagen. Der Typ ist ein Arschloch erster Güte.“
Aaron schlägt mit ihm ein, und ich unterdrücke ein Stöhnen, als die zwei sich in eine hitzige Diskussion darüber stürzen, was für ein riesiger Mistkerl Roman ist. Großartig.
Kurz bevor die Stunde vorbei ist, zeigt ein Signal auf Aarons Handy den Eingang einer Nachricht an. Er zieht sein Telefon hervor und runzelt die Stirn. „Scheiße.“
„Irgendwas nicht in Ordnung?“, frage ich.
Er wuschelt sich durch seine sandblonden Haare, bevor er das Handy zurück in seine Hosentasche schiebt und sein Skateboard schnappt. „Einer der Tellerwäscher im Diner hat gerade gekündigt. Auch noch fristlos. Heute Abend wird anstrengend werden.“
„Du arbeitest in einem Diner?“, fragt Julio.
Er nickt. „Ja. Meine Tante ist die Inhaberin von Sun Valley Station. Hat die besten Burger der Stadt. Ich arbeite da manchmal nach der Schule, um ihr auszuhelfen.“ Er zuckt mit den Schultern. „Ich brauche das Geld nicht, aber so komme ich mal aus dem Haus.“
Mir kommt eine Idee, und bevor ich sie mir ausreden kann, sage ich: „Ich kann helfen. Ich meine, wenn du denkst, dass sie die Stelle gern besetzen würde. Ich suche nach einem Job.“
Er zieht die Brauen zusammen. „Echt?“
Ich nicke eifrig.
„Allie, bist du dir sicher, dass das eine gute Idee ist?“, flüstert Julio neben mir. Ich nicke ihm bestätigend zu. Das ist eine großartige Idee. Genau das, was ich brauche.
„Ja. Ich habe ein paar Bewerbungen in der Stadt herumgeschickt, aber keine Antwort bekommen.“
„Ich weiß, wo du wohnst, und ich habe dein neues Fahrzeug gesehen. Du brauchst nicht dringend Geld. Warum willst du denn Geschirr in einem Diner spülen?“
„Weil ich nicht in allem von meinem biologischen Vater abhängig sein möchte. Ich kenne den Kerl kaum. Du weißt, wie er ist. Würdest du etwas von ihm annehmen wollen?“
Er schüttelt den Kopf und verzieht dabei das Gesicht. Wahrscheinlich denkt er an Geralds Worte, als er letztes Mal bei uns war.
„Wenn du mir dabei hilfst, diesen Job zu bekommen, dann würdest du mir einen riesigen Gefallen tun.“
Er verzieht die Lippen, während er darüber nachdenkt. „Könntest du heute Abend arbeiten?“
Ich nicke.
„In Ordnung. Ich spreche mit ihr. Ich kann dir nichts versprechen, aber richte dich darauf ein, dass du bis Ende der letzten Schicht arbeitest. Das ist von vier bis elf.“
„Danke. Du hast keine Ahnung, wie dankbar ich dir bin.“ Die Klingel läutet das Unterrichtsende ein, und wir stehen alle auf und sammeln unsere Sachen
zusammen.
Aaron lächelt und tritt auf mich zu. Er breitet die Arme aus, als ob er mich umarmen will, und ich verspanne mich sofort. Julio fängt die Berührung ab, indem er den Arm ausstreckt und Aaron die Hand schüttelt und ihn in eine Kumpelumarmung zieht. Aarons Augen schauen mich über Julios Schulter hinweg verwirrt an.
„Danke, dass du meinem Mädchen aushilfst, Mann. Ich bin froh, dass sie hier einen Freund hat, wenn ich nach Hause fahre.“
„Äh, ja. Sicher.“
Julio tritt weg und zieht mich dann zur Tür.
„Bis heute Abend“, sage ich zu Aaron und gehe schnell.