VIERUNDDREIßIG
D ie Woche verstreicht, und ehe ich mich versehe, ist es Samstagabend. Ich habe wieder die letzte Schicht im Sun Valley Station, doch diesmal hat Aaron frei, damit er beim Basketballspiel der Mädchen zuschauen kann. Die Saison hat gerade begonnen, und Kasey spielt im Junior-Team, wenn auch nicht freiwillig. Sie hasst Sport, aber ich nehme an, ihre Eltern zwingen sie zu ein paar außerschulischen Aktivitäten. Aaron geht zum Spiel, damit er sich anschließend über seine Schwester lustig machen kann.
Ursprünglich hatte ich an diesem Abend auch frei, und Aaron hatte mich eingeladen, mitzukommen, doch ich konnte mich nicht überwinden, zu einem Schulereignis zu gehen.
Im Diner ist in den ersten Stunden nicht viel Betrieb, aber ich weiß, das wird sich ändern, sobald das Spiel vorbei ist. Jeder wird ausgehen und feiern oder hierherkommen, weil die anderen Restaurants in dieser Gegend dann schon geschlossen sind. Also nutze ich die Ruhe vor dem Sturm und vergewissere mich, dass das ganze Geschirr sauber ist und ordentlich gestapelt, sodass ich bereit bin, wenn der Andrang kommt.
Julio musste heute Morgen nach Hause zurückfahren. Es war deprimierend, ihn abfahren lassen zu müssen, aber er kann nicht so viel Schule verpassen. Er hatte angeboten, länger zu bleiben, doch ich wollte ihn nicht ausnutzen. Ich bin allerdings dankbar für die Woche, die er mir geschenkt hat. Ich habe seit Montag nur eine Panikattacke gehabt, und Aaron hat Wort gehalten und mir so gut wie möglich ausgeholfen, wenn Julio nicht da war.
Der Lärmpegel vorn im Diner steigt und ich wage einen Blick auf die Uhr. Es ist erst kurz nach neun. Nicht einmal zwei Stunden bis zur Schließzeit, und jetzt geht es hier erst richtig los.
Während ich mit dem Teller schrubben beschäftigt bin, höre ich mir ein paar ältere Songs von My Chemical Romance an. Gut eine Stunde später wippe ich gerade im Takt von Black Parade , als Emma ihren Kopf zur Tür reinsteckt und sagt: „Ich muss eher gehen, weil ich ein paar Dinge zu erledigen habe. Julie schließt heute Abend alles ab.“
Ich nicke. Julie ist eine der Kellnerinnen, die hier Vollzeit arbeitet. Sie ist Studentin und, soweit ich mitbekommen habe, auch eine Freundin der Familie, weshalb man ihr einen Schlüssel anvertraut und sie den Kassensturz machen lässt.
Die Köche des heutigen Abends, Rodrick und Ben, sagen mir Bescheid, dass sie Feierabend machen, als sie die letzte Bestellung fertig haben, und ich winke ihnen zum Abschied zu. Sie bleiben hauptsächlich unter sich, seit ich hier arbeite, und ich frage mich, ob Aaron etwas zu ihnen meinetwegen gesagt hat. Ich wasche gerade die letzten Teller ab, als die Doppeltür aufschwingt und Julie in den Raum gestürmt kommt.
„Bist du fast fertig?“, fragt sie.
Ich nicke. „Ja, nur noch ein paar übrig.“
Sie beäugt finster meinen Tellerstapel. Er ist nicht sonderlich groß, und ich sollte ihn in maximal zehn Minuten geschafft haben. „Ich bin mit ein paar Freunden bei einer Party verabredet und bin schon spät dran. Ist es in Ordnung, wenn ich Feierabend mache? Die Türen sind bereits abgeschlossen, und ich habe Kassensturz gemacht. Wenn du gehst, musst du einfach nur aufpassen, dass du die Tür richtig hinter dir zuziehst.“
„Ja. Das ist in Ordnung.“
Sie quietscht begeistert. „Danke schön! Du bist die Beste. Wir sehen uns nächste Woche.“
Und weg ist sie.
Ich spüle nun in Ruhe das Geschirr fertig. Dann schnappe ich mir meine Tasche und meinen Hoodie. Ich schalte das Licht aus und will gerade die Tür öffnen, als ich einen Mann entdecke, der auf der anderen Seite der Straße steht. Im Diner sind alle Lichter aus, daher bin ich mir sicher, dass er mich nicht sehen kann, aber es sieht so aus, als ob er mich trotzdem direkt anstarrt, auch wenn ich seine Augen nicht sehen kann.
Ich habe plötzlich am ganzen Körper Gänsehaut.
Er steht im Schatten, doch durch die Straßenlaternen ist es so hell, dass ich seinen Körper sehen kann. Ich erkenne eine dunkle Jeans und ein Flanellhemd. Er ist groß. Ein Körperbau wie ein Mann, nicht wie einer von den Jungen, mit denen ich zur Schule gehe.
Ich bin vor Angst wie erstarrt, bevor ich ein paar Schritte von der Tür zurückstolpere. Der Mann bewegt sich absolut nicht. Ich schaue zu meinem Parkplatz und sehe den Audi. Er steht an der am weitesten entfernten Stelle, weil ich nicht so nahe bei jemand anderem parken wollte.
Die zehn Meter oder so, die er entfernt ist, kommen mir wie eine Meile vor.
Kann ich vor ihm zu meinem Auto gelangen? Wenn ich renne, dann schaffe ich es wahrscheinlich. Vielleicht. Aus welchem Grund steht er da draußen und lauert?
„Komm schon, Allie. Reiß dich zusammen“, murmele ich mir selbst zu. Nur weil ich schon einmal angegriffen wurde, heißt das nicht, dass es nochmal passieren wird. Doch die Worte meines Angreifers hallen in meinem Kopf wider, als ob er wieder direkt über mir steht. „Ich besuche dich gern wieder“ , hatte er gesagt. Was, wenn er das ist, oder sein Freund? Was, wenn Gerald erneut etwas vermasselt hat?
Gerald und ich haben nie darüber gesprochen, was diesen Übergriff überhaupt verursacht hatte. Er hatte nur gesagt, dass er sich darum kümmern würde, und dann hatte er die Sache nicht mehr aufgebracht. Ich hätte mit dem Thema noch einmal anfangen sollen. Ich hätte sicherstellen sollen, dass mir so etwas nicht noch einmal passieren kann.
Oh Gott. Ich bin so blöd gewesen.
Ich lasse mich auf eine Sitzbank im hinteren Teil des Restaurants plumpsen, weg vom Fenster, und dann ziehe ich mit zitternden Fingern mein Handy hervor. Ich wähle Julios Nummer, bevor mir überhaupt einfällt, dass er mir nicht helfen kann, und lege auf. Okay. Plan B. Ich versuch’s bei Aaron.
Ich rufe ihn an und warte. Der Rufton ertönt einmal, zweimal, sechsmal.
Mailbox.
Verflixt.
Ich versuche es noch einmal.
Wieder die Mailbox.
Ich wische meine feuchten Hände an meinen Knien ab und starre auf das Handydisplay. Ich weiß nicht, wen ich sonst noch anrufen kann. Da ich verzweifelt bin, versuche ich es bei Janessa. Sie geht nicht ran. Auch, wenn mir klar ist, dass es sinnlos ist, versuche ich es als Nächstes bei Gerald.
„Sie haben die Mailbox von…“
Ich lege auf.
Mein Herz setzt für einen Moment aus. Der Mann ist immer noch da draußen. Worauf wartet er? Furcht schnürt mir die Brust zu. Sie macht sich in mir breit, und ich zittere plötzlich am ganzen Körper. Ich kneife meine Augen zu. Ich muss mich zusammenreißen. Ich kann nicht denken, wenn ich in Panik ausbreche.
Meine Atemzüge sind so hastig, als ob ich gerade einen Marathon gerannt wäre. Mein Brustkorb hebt und senkt sich. Ich lege meine Stirn auf die kühle Oberfläche des Tischs und zwinge mich dazu, meine Atmung zu verlangsamen. Ich darf keine Panikattacke bekommen. Nicht hier. Nicht jetzt.
Denk nach, Allie. Denk einfach nach.
Die Idee, Roman anzurufen, verwerfe ich so schnell, wie sie mir gekommen ist. Ich schlucke schwer und beiße auf meine Unterlippe, bis ich so sehr zugebissen habe, dass der Geschmack von Kupfer meinen Mund füllt.
Ich versuche es bei Dominique.
Er nimmt beim zweiten Klingeln ab. „Allie?“
„Oh, Gott sei Dank“, schluchze ich hervor.
„Was ist los?“
Seine Stimme klingt hart, und ich bringe schnell hervor: „Ich bin gerade mit der Arbeit fertig geworden, und draußen steht ein Mann. Ich glaube, er wartet auf mich. Julie musste schon gehen, und ich bin allein, und mein Auto steht weit weg und ...“
„Atme, Allie. Atme tief ein. Langsam.“
Ich versuche, seine Worte zu befolgen, aber es will mir einfach nicht gelingen.
„Wo bist du jetzt?“
„Im Sun Valley Station.“
„Okay. Ich komme. Ich bringe dich nach Hause. Wir können dein Auto morgen früh holen.“
Ich nicke, obwohl er mich nicht sehen kann. „Danke.“
„Bleib ruhig. Geh nach hinten. Ich bin in zehn Minuten da.“