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s ist Samstagmorgen. Entgegen meinen anfänglichen Zweifeln beschließe ich, joggen zu gehen, um meinen Kopf freizubekommen. Ich konnte letzte Nacht nicht schlafen. Ich bin im Geist immer wieder durchgegangen, was sich vorm Diner abgespielt hat, und habe mir ausgemalt, wie die ganze Sache hätte ausgehen können. Was passiert ist, war schlimm genug, aber es hätte tausendmal schlimmer enden können. Tief drin weiß ich das, und es hat mich erschüttert.
Ich kann mir nur ansatzweise vorstellen, wie sich Dominique fühlen muss. Apropos Dominique… Ich sehe einen schwarzen Escalade, als ich um die Straßenecke biege und meine Sneaker auf den Asphalt trommeln.
Ich wische mir den Schweiß von der Stirn, verringere aber erst mein Tempo, als das Auto so nahekommt, dass ich Dominique durch die Windschutzscheibe erkennen kann. Ich stoße einen kleinen Seufzer der Erleichterung aus. Ich war mir sicher, dass er es war. Aber es ist schön, es wirklich zu wissen.
Der Escalade kommt an mich heran und fährt in meinem Joggingtempo neben mir her, während eines der Fenster heruntergekurbelt wird. Roman hängt einen Arm zum Beifahrerfenster heraus. Mir stockt das Herz trotz allem, was passiert ist. Ich sehe Emilio auf dem Rücksitz. Sieht so aus, als ob die ganze Bande hier ist.
„Allie“, ruft Roman meinen Namen. Seine Stimme ist hart, und ich sträube mich sofort bei seinem Tonfall. „Steig ein.“
„Ich verzichte“, sage ich zu ihm und laufe schneller. Ich schlucke schwer und zwinge mich, nicht auf den Klang seiner Stimme zu achten. Sehnsucht durchströmt mich, aber ich schiebe sie beiseite und ich blicke nur geradeaus.
„Allie.“ Seine Stimme klingt warnend. Er ist wütend. Macht er mich für das verantwortlich, was letzte Nacht passiert ist? Wahrscheinlich.
„Verschwinde, Roman.“
Der Escalade hält mit einem Ruck an, und Roman springt aus dem Auto. Ich kreische, als er auf mich zurast und mich von einer Sekunde auf die andere über seine Schulter wirft. Er schmeißt mich kurzerhand auf den Rücksitz neben Emilio, wirft die Tür hinter mir zu und setzt sich wieder auf den Vordersitz.
„Alter, was zum Teufel?“, schnauzt Emilio. „Wollten wir die Sache nicht cool angehen?“
„Schnalle dich an“, blafft Roman und ignoriert ihn.
Ich rappele mich schnell auf und drücke mich gegen die Tür, so weit weg von Emilio, wie ich nur kann, während Dom das Auto wieder zurück auf die Straße lenkt. Meine Atemzüge sind laut und schwer in dem ruhigen Fahrzeug, und ich kann spüren, dass alle Augen auf mich gerichtet sind.
„Lasst mich raus!“ Adrenalin durchströmt mich, und ich schließe meine Augen. Es sind nur die Jungs.
Es ist okay. Sie werden mir nicht wehtun. Selbst wenn Roman wütend auf mich ist, würde er mir nicht wehtun. Nicht auf diese Weise.
Es macht keinen Unterschied. Ich kann die Panik, die durch meine Adern strömt, nicht aufhalten, nur weil ich mir immer wieder sage, dass ich in Sicherheit bin. Ich hyperventiliere jetzt.
„Allie, es ist okay. Wir wollen nur reden.“ Emilio schnallt sich ab und rutscht näher zu mir, und ich drehe vor Todesangst durch.
„Lasst mich raus. Lasst mich raus!“, schreie ich und meine Finger kratzen an der Tür herum. Ich finde die Klinke und reiße daran. Dominique macht in genau dem Moment eine Vollbremsung, als ich mich aus dem Auto werfe. Ich knalle auf die Straße, der Asphalt schürft meine Haut auf und drei Türen öffnen sich und werden zugeknallt. Flüche sind zu hören, aber ich komme auf die Füße und ignoriere völlig die Kratzer und Prellungen, die ich definitiv habe. Mein Unterarm blutet und alle
drei Kerle treten auf mich zu.
„Stopp! Kommt nicht näher.“ Ich strecke meine Handfläche in ihre Richtung aus, um sie zu drängen, von mir fernzubleiben. Mit meiner anderen Hand halte ich mir den Kopf, während ich versuche, Luft in meine Lungen zu bekommen. In meinem Kopf hämmert es, ein unablässiger Rhythmus, der mit jeder Sekunde lauter und lauter wird.
„Allie, wir kommen nicht näher. Atme. Wir tun dir nicht weh.“ Doms Stimme erreicht mich durch meine Panik. Ich gehe auf dem Asphalt rückwärts, bis ich Gras unter meinen Füßen spüre und mich fallen lasse. Ich drücke meinen Kopf zwischen die Knie und wiege mich vor und zurück, während ich die Luft einsauge.
„Es ist alles in Ordnung. Es ist alles in Ordnung. Es ist alles in Ordnung.“
Wenn ich es oft genug sage, wird es auch so sein.
„Was sollen wir tun?“ Wieder Dominique.
Ich schüttele den Kopf.
„Allie?“ Emilios Stimme ist höher als sonst. Ich sehe auf. Alle drei stehen etwa fünf Meter entfernt und schauen besorgt und verwirrt drein.
Ich schlucke schwer. „Hände.“ Meine Stimme zittert. „Ich muss eure Hände sehen.“
Dreifaches Stirnrunzeln, doch Dominique streckt, ohne zu zögern, seine Hände aus und macht zwei Schritte nach vorn. „Okay. Hier sind meine Hände.“
Ich nehme seine dunklere Haut wahr. Das kontrastfarbene Rosa seiner Handflächen. Ich zwinge mich dazu, zu erkennen, wie sehr sich seine Hände, von denen der Männer unterscheiden, die mir wehgetan haben. Er macht noch einen Schritt. Dann einen weiteren. Mein Atem wird langsamer, und ich schaudere.
Dominique hockt sich vor mir nieder, seine Hände immer noch ausgestreckt. Ich nehme eine seiner Hände in meine. Ich drehe seine Handfläche herum. Ungefährlich. Dom ist ungefährlich. Emilio tritt näher, seine Hände sind ebenfalls ausgestreckt.
Seine sonnengebräunte Haut sorgt dafür, dass sich meine Brust immer hastiger hebt und senkt. Ich schließe die Augen. „Es tut mir leid. Ich ...“ Ich schüttele den Kopf. Dom winkt ihn mit der Hand weg und tritt weiter von mir weg, ohne dass ich ihn darum bitten muss.
„Was hat es mit den Händen auf sich?“, fragt Dominique.
Ich schüttele den Kopf. Ich will nicht darüber reden. Ich weiß, ich drehe durch, und ich weiß, dass sie Antworten haben wollen, aber ich kann nicht ...
„Wir wissen, dass du überfallen wurdest.“ Seine Stimme ist sanft, aber seine Worte fühlen sich wie ein Schlag an.
Was?
Ich werde blass.
„Baby ...“
Ich reiße den Kopf zu Roman herum. Seine Stimme ist schmerzerfüllt, als seine weit aufgerissenen, gequälten Augen in meine blicken. Seine Fäuste sind an seinen Seiten so fest geballt, dass die Fingerknöchel weiß hervortreten. Er tritt näher und ich zucke zurück.
Fluchend geht er ums Auto herum auf die andere Seite. „Verdammt.“
„Du hilfst gerade nicht. Reiß dich zusammen“, sagt Dominique zu ihm. Er dreht sich wieder zu mir. „Kannst du erklären, was es mit den Händen auf sich hat. Wir wollen nur helfen. Wir hatten keine Ahnung. Erst gestern Abend…“
Gestern Abend, nachdem Romans Dad aufgetaucht ist. Er muss es ihnen erzählt haben. Die Schande spült in Wellen über mich hinweg, die mich in Selbsthass und Ekel ertrinken lassen. Sie wissen Bescheid. Alle drei wissen Bescheid. Meine Tränen lassen alles vor meinen Augen verschwimmen, und ich drücke die Handballen gegen die Augen, um sie am Überfließen zu hindern.
„Allie ...“
„Deine Hände sehen anders aus“, krächze ich hervor. Ich schnappe nach Luft und zwinge mich, mehr Worte über meine Lippen zu bringen. „Der Mann, der mir wehgetan hat… Ich habe nur seine Hände gesehen. Ich… Deine Hände sehen anders aus. Ich weiß, dass du mir nicht wehtun wirst. Ich sage nicht, dass Roman es würde. Ich weiß, es ergibt keinen Sinn, aber…“ Ich schaue ihn bittend an, bettele ihn, mich zu verstehen.
Doms Augen werden schmal und er fährt sich mit einer Hand über sein fest geflochtenes Haar. „Dein Verstand kapiert es, aber dein Körper nicht.“ Er schüttelt den Kopf. „Es ist in Ordnung. Ich verstehe das.“
Meine Schultern sacken erleichtert nach unten. „Deine Hände sehen anders aus. Er war kein Schwarzer. Es ist leicht, mich davon zu überzeugen, dass du keine Gefahr darstellst.“
Er nickt. „Und bei Roman und Emilio?“
Ich zucke mit den Schultern. „Ich glaube, dass er vielleicht auch ein Latino war. Ich weiß es nicht, aber seine Hände waren gebräunt. Dunkler als meine. Wie…“
„Wie ihre.“
Ich nicke, kann die beiden dabei nicht ansehen. Gott, was sie jetzt wohl denken müssen.
„Der Typ, der die ganze Woche bei dir war…?“ Dominique spricht nicht zu Ende, aber ich weiß, wonach er fragt.
„Ist wie ein Bruder. Ich kenne ihn seit der Grundschule. Und er hat Tattoos.“ Ich fahre mit einem Finger meinen Handrücken entlang. „Sie bedecken seine Handrücken. Ein Totenkopf und Rosen… Rosenkranzperlen…“, sage ich in der Hoffnung, dass er versteht. Ich weiß, dass das alles eigentlich keinen Sinn ergibt, aber ich kann nicht anders in Worte fassen, warum Hände von solcher Bedeutung sind.
Er nickt wieder. „Okay. Okay. Lass mich überlegen.“ Er steht auf und geht zurück zum Auto. Er sagt etwas zu Roman und Emilio, und Roman geht in die Luft, wirft seine Arme in die Luft, flucht und rauft sich die Haare. Doch als er mich anschaut, verfliegt seine Wut und macht purem Bedürfnis und Verzweiflung Platz.
Meine Brust wird eng. Er verbirgt seine Gefühle nicht vor mir. Nicht diesmal. Er zeigt mir alles. Jedes schmerzliche Gefühl, das in ihm steckt. Und das bringt mich aus dem Konzept. Ich weiß nicht, wie ich seinen Kummer interpretieren soll. Ist er so bestürzt wegen dem, was passiert ist? Weil ich so verkorkst bin?
Er kommt nicht näher. Starrt mich nur mit unverhüllten Gefühlen an, und plötzlich ist es zu viel. Ihn zu sehen, schmerzt zu sehr.
Ich schlucke schwer und stehe auf. Meine Augen wandern zu seinen geballten Fäusten, und mir fällt auf, dass er immer noch mein Armband trägt. Das, was ich ihm vor dem Spiel gegeben habe. Ich versuche, nicht zu viel hineinzulesen, aber bedeutet das ...
„Allie, Baby.“ Seine Stimme ist rau. „Ich habe nie ...“ Seine Stimme bricht, und er schaut weg. „Ich habe es verkackt. Ich habe Dinge angenommen, und sie waren nicht wahr, und ich war nicht für dich da, als du mich gebraucht hast.“ Er dreht sich wieder zu mir, und ich kann die Verzweiflung in seinen Augen sehen. „Ich habe Scheiße gebaut. Aber ich bin jetzt hier. Ich will für dich da sein. Du musst mir
erlauben, für dich da zu sein.“
Ich schüttele den Kopf. Im Moment kann ich nicht damit umgehen. Ich schlinge meine Arme um mich selbst, mache einen Schritt zurück und gehe den Weg zurück, den ich gekommen bin. „Ich… Ich kann das nicht. Es tut mir leid.“
„Allie!“
Ich halte inne, hasse es, wie schwach ich mich jetzt fühle. Wie zerbrochen und kaputt ich innerlich bin.
„Ich werde dir nicht wehtun. Ich würde dir niemals
wehtun.“ Er macht vorsichtig einen Schritt in meine Richtung und ich weiche zurück. Er hält an und lächelt mich traurig an. „Ich würde dir niemals wehtun. Das musst du wissen.“
„Niemals?“ Meine Stimme bricht, als die Worte von ganz allein über meine Lippen kommen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich ihn frage oder herausfordere, aber er hat
mir wehgetan. Er hat mir die ganze Zeit Schmerzen zugefügt.
Roman Miene ist bestürzt. Er reibt sich den Nacken und blickt weg. „Es tut mir so verdammt leid. Ich hatte keine Ahnung. Wenn ich gewusst hätte, hätte ich nie… Allie, ich wollte nie…“
„Aber du hast nie gefragt.“ Tränen strömen nun über meine Wangen. Ich mache mir nicht mal mehr die Mühe, sie wegzuwischen. Ich will, dass er sie sieht. Ich will, dass er jede hässliche, kaputte Seite an mir sieht und weiß, dass er mit Schuld daran hat. Ich möchte, dass es ihm genauso wehtut wie mir. Denn genau wie Ryder hat er mich verlassen. Genau dann, als ich ihn am meisten brauchte. „Ich habe versucht, mit dir zu reden. Am ersten Tag, als ich zurück zur Schule gekommen bin. Sobald ich dich gesehen habe, bin ich direkt zu dir gekommen, und erinnerst du dich daran, was du gesagt hast? Wie du mich genannt hast?“
Sein Blick ist voller Qual, aber ich kann mich nicht zurückhalten.
„Du hast mich Hure genannt.“ Ich schüttele den Kopf. Lautlos strömen Tränen mein Gesicht hinunter, so viele, dass Roman vor mir nur noch ein verschwommener Schatten ist, sodass seine Gesichtszüge nicht mehr erkennbar sind. „Ich kann das nicht. Lass mich… einfach nur in Ruhe. Ich glaube, ich habe schon genug durchgemacht.“
Ich drehe mich um und jogge nach Hause. Gott sei Dank, folgt mir niemand.