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oman ruft mich jetzt immer an. Alle Teufel tun das. Emilio schickt mir jeden Morgen einen Witz. Oder ein lustiges Meme, dass er online gefunden hat. Er will mich zum Lächeln bringen. Auch wenn ich die Geste zu schätzen weiß, muss ich erst einmal alles verarbeiten. Ihren plötzlichen Sinneswandel.
In der einen Sekunde hassen sie mich. Jetzt überschütten sie mich mit Zuneigung aus der Ferne.
Dominique ist der Einzige, mit dem ich in der Schule rede. Er läuft mit mir manchmal zum Unterricht, wenn Aaron nicht da ist. Er stellt sicher, dass mir niemand zu nahekommt. Ich habe ihn nicht gebeten, für mich Wachhund zu spielen, und als ich ihm das gesagt habe, hat er mich nur ernst angeschaut und genauso weitergemacht, als ob ich gar nichts gesagt hätte. Ich habe eingesehen, dass es sinnlos ist, ihn davon abzuhalten. Wenn er unbedingt jeden Tag zu spät zu seinem Unterricht kommen will, dann ist das sein gutes Recht.
Roman schreibt mir jeden Morgen eine Nachricht. Immer eine Variation von guten Morgen, meine Schöne
, und ruft mich abends an. Ich reagiere nicht auf seine Mitteilungen und nehme seine Anrufe nie an. Er hinterlässt nichts auf der Mailbox, was wahrscheinlich am besten ist. Es ist schlimm genug, wenn ich seine Stimme in
der Schule höre. Wenn er Nachrichten hinterlassen würde, dann würde ich, so wie ich mich kenne, sie immer und immer wieder abhören und von dem Klang seiner Stimme nicht genug kriegen. Ich würde versuchen, versteckte Botschaften zu entschlüsseln. Das mache ich auch schon mit seinen Nachrichten. Manchmal fügt er ein Emoji hinzu, und das reicht bereits, damit ich herumrätsele und hoffe. Worauf, das weiß ich eigentlich nicht.
Aber unfehlbar jeden Abend um neun Uhr leuchtet mein Handy auf, und sein Name blinkt auf dem Display. Ein Teil von mir freut sich mittlerweile auf diesen Anruf. Wenn es acht Uhr fünfzig ist, beginne ich, die Minuten zu zählen, und hoffe, dass er anruft. Und das macht mir Angst. Denn früher oder später wird er aufgeben. Er wird aufhören, anzurufen. Er wird aufhören, zu schreiben. Und er wird weiterziehen. Ich will, dass er weiterzieht.
Ich kann es mir nicht leisten, dass ich noch einmal jemanden in meinem Leben brauche. Ich habe zu viel verloren, und ich glaube nicht, dass mein Herz noch weitere Verluste verkraftet. Es ist egal, dass ich ihn vermisse und mein Herz in seiner Nähe schneller klopft.
Was passiert, wenn er nicht mehr da ist?
Ich fürchte mich schon vor dem Tag, an dem die Anrufe aufhören.
Vor einer Woche hat er herausgefunden, was mir passiert ist. Seit einer Woche tue ich so, als ob ich ihn nicht will. Eine Woche, in der ich versucht habe, mir einzureden, dass ich ohne ihn besser dran bin. Aber meine Selbstbeherrschung lässt nach.
Ich erwische mich dabei, dass ich ihn anstarre, wenn er nicht zu mir schaut. Und ich sauge jedes Wort von Dom auf, wann immer er Roman erwähnt. Wie es ihm geht. Wo er ist. Was sie zum Mittag essen. Es geht fast in Richtung Zwangsstörung und das ist mir auch klar, aber ich will verzweifelt jede kleine Einzelheit hören.
Aaron hat ihn auch ein paar Mal erwähnt, was mich zuerst überrascht hat. Er hat immer ganz klar gesagt, was er von Roman hält. Ich weiß, zwischen den beiden ist irgendetwas vorgefallen, auch wenn es mich interessiert, weiß ich, dass es mich nichts angeht. Aber sogar er hat versucht, mich zu überreden, mit Roman zu sprechen. Ihn wenigstens anzuhören. Er glaubt, dass es therapeutisch für mich wäre. Vielleicht wäre es das ja. Aber…
„Hey, Allie?“, ruft eine Stimme zögerlich nach mir. Ich drehe mich von meinem Spind weg, und sehe, dass Emilio ein Stückchen entfernt von mir steht. Er presst
seine Lippen aufeinander, seine Augen sind auf den Boden in der Nähe meiner Füße gerichtet. „Geht’s dir gut?“
„Hey. Ähm, ja. Und dir?“ Ich schaue mich im Gang um. Der Unterricht fängt gleich an.
Er zuckt mit den Schultern und schenkt mir ein kleines Lächeln. „Mir geht’s gut. Ich, äh…“ Er verstummt und schaut weg. „Ich wollte etwas ausprobieren. Wenn du einverstanden bist?“
Ich nicke und wappne mich.
„Ich weiß, du hast gesagt, dass Hände für dich wichtig sind. Also, habe ich, ah…“ Er hebt seine Hände so hoch, dass die Handrücken zu mir zeigen. Er hat seine Nägel tiefschwarz lackiert und am Daumen und Mittelfinger seiner linken Hand steckt jeweils ein Goldring. „Ich hatte gehofft, dass das für dich vielleicht einen Unterschied macht.“ Er zuckt mit den Achseln und sieht fast verlegen aus. Ich kann nicht anders, als zu lächeln, als ich mir sein Werk ansehe und mich auf seine Nägel und den Schmuck konzentriere. Ich mache vorsichtig einen Schritt nach vorn. Als mein Herzschlag normal bleibt, tue ich einen weiteren Schritt. Die Gefühle schnüren mir die Kehle zu, und ich gehe weiter.
Emilio beißt in seine Oberlippe, seine Augen voller Unsicherheit, während er darauf wartet, dass ich das letzte Stückchen zwischen uns zurücklege. Als ich es getan habe, nehme ich eine seiner Hände in meine, drehe sie um, um die Linien auf seinen Handflächen nachzufahren. Ich lächele ihn vorsichtig an. „Wirst du jetzt immer Nagellack tragen? Das könnte dir deinen Ruf als taffer Kerl sowohl auf dem Spielfeld als auch außerhalb versauen.“
Er grinst. „Ich finde, ich sehe cool aus mit dem Schwarz. Ich strebe einen Emo-Rocker-Look mit Latino-Flair an.“
„Ah, deshalb also die Goldringe?“
Er lächelt und streckt zögerlich die Hand nach meinem Ellbogen aus, um mich an sich zu ziehen. Als ich nicht protestiere, schlingt er seine Arme um mich, und ich atme seinen Geruch ein. Gewürze und Minze. Seine Umarmung wird für einen Sekundenbruchteil fester und ich versteife mich, aber er lässt mich schnell los und macht einen Schritt zurück. „Ich habe dich vermisst, Vanille.“
„Ich habe dich auch vermisst.“
Er zwinkert. „Also, äh, willst du vielleicht–“ Sein Blick huscht über meine
Schulter zu jemandem, und ich drehe mich um und sehe, dass Roman genau vor der Tür von unserem ersten Kurs steht.
„Er vermisst dich auch“, sagt Emilio hinter mir.
Ich schüttele den Kopf. „Ich kann das nicht reparieren, E. Rom und mich.“ Ich streiche mir die Haare aus dem Gesicht und schenke ihm ein schmallippiges Lächeln. „Wir haben uns nur miteinander die Zeit vertrieben. Das haben wir beide von Anfang an gesagt. Ein Happy End bis in alle Ewigkeit war nie geplant. Es ist Zeit, dass wir weiterziehen.“
„Glaubst du das echt?“, fragt er.
Ich zucke mit den Schultern. „Ja. Ich weiß nicht. Vielleicht. Es ist jetzt nicht von Bedeutung.“
Er schüttelt den Kopf. „Ich kenne Roman schon fast mein ganzes Leben lang. Er steht mir näher als mein eigener Bruder. Er ist nicht der Beste darin, seine Gefühle zu zeigen, aber er hat dich gern, Allie. Sehr gern. Ich will dich nicht drängen. Du hast genug durchgemacht, aber… gib ihn noch nicht auf, okay?“
Ich beiße mir auf die Unterlippe und schaue weg. „Ich glaube nicht, dass ich es mir leisten kann, mir noch mehr aus ihm zu machen, als ich es schon tue. Es tut weh ...“
„Ich weiß, Süße. Ich weiß. Aber ich glaube, Rom kann dich glücklich machen. Du verdienst es, glücklich zu sein.“