EINUNDVIERZIG
I ch habe über das, was Emilio gesagt hat, den ganzen Tag nachgedacht. Ich will ihm glauben. Glauben, dass Roman mich vermisst. Es ist nur so schwierig, weil es ihm so leichtfiel, mich wegzustoßen.
Ich fahre in die Einfahrt ein und steige aus, meine Gedanken sind ganz woanders, als eine Stimme hinter mir plötzlich sagt: „Allie?“
Ich kreische und wirbele herum, um zu sehen, wer hinter mir steht. Roman und Aaron stehen ein paar Meter von mir entfernt.
Ich presse mir eine Hand aufs Herz und bemühe mich, es langsamer schlagen zu lassen. „Erschrecke mich nicht so!“
Roman hebt beide Hände. „Ich wollte dich nicht erschrecken. Ich will nur reden.“
Ich runzele die Stirn und werfe einen Blick zu Aaron, der ein paar Schritte hinter Roman steht. Er schaut mich verlegen an und zuckt mit den Schultern. „Ich bin nur zur moralischen Unterstützung da.“
Mein Stirnrunzeln wird tiefer. „Für mich oder für ihn?“ Ich dachte, die zwei hassen sich.
Roman antwortet: „Er ist für dich da. Wir haben ein paar unserer Probleme begraben. Henderson ist ganz in Ordnung, wenn er will. Aber ich habe ihn gebeten, mit mir zu kommen. Ich will, dass er hier für dich da ist.“
Hat er das? „Warum?“
Roman macht vorsichtig einen Schritt nach vorn. „Weil ich mit dir reden will, und ich weiß, dass du ihm vertraust. Dass du dich wohlfühlst, wenn er da ist.“
„Ich habe auch kein Problem mit Dominique, und er ist dein Freund. Warum hast du ihn nicht gefragt?“
Er schüttelt den Kopf. „Weil ich dich nicht in die Enge treiben will. Dominique ist mein Freund. Deiner auch, aber ich wollte nicht, dass du glaubst, er sei eher auf meiner Seite als auf deiner, oder dass du niemanden hast, der auf deiner Seite ist. Henderson und ich waren früher mal Freunde, aber wenn er zwischen mir und dir wählen müsste, dann würde er sich immer zuerst für dich entscheiden. Er ist in deinem Team. Er ist dein Freund. Ich will, dass du dich sicher fühlst.“
Oh. Das ist… rücksichtsvoll von ihm.
Er reibt sich mit einer Hand übers Gesicht, und mir fällt auf, dass seine beiden Hände verbunden sind.
„Was ist mit deinen Händen passiert?“, frage ich, während sich mir der Magen vor Besorgnis zusammenzieht. Ist er verletzt? Ist etwas passiert?
Roman blickt auf, seine dunkelbraunen Augen schauen in meine. „Eigentlich bin ich genau deshalb hier. Ich will dir etwas zeigen.“
Aaron hinter ihm wirkt nervös, wie er von einem Fuß auf den anderen tritt.
„Ähm… Okay.“ Ich warte darauf, dass er mir das genauer erklärt, aber er tut es nicht. Seine Lippen sind fest zusammengepresst, seine Augen nach unten gerichtet. Er wickelt den Verband ab. Ich sehe, dass sich darunter neue Tattoos verbergen und keuche auf. „Du hast dir die Hände tätowieren lassen?“
Er nickt, sagt aber nichts, während er den zweiten Verband entfernt und in seine Hosentasche steckt. Ich schlucke schwer, als ich mir die neuen Tattoos anschaue und gegen den Wunsch kämpfe, sie mir von nahem anzusehen. Sie sind wunderschön. Auf seiner linken Hand hat er einen Anker, der von wogenden Wellen umgeben ist. Sie nehmen seinen gesamten Handrücken ein. Die Details sehen unglaublich aus, und bevor ich mich zurückhalten kann, trete ich näher, weil ich neugierig auf das Motiv bin.
„Möchtest du sie sehen?“, fragt er und hält absolut still, fast so, als ob er kaum zu atmen wagt. Mir wird klar, wie nahe ich ihm gekommen bin, und mein Herz beginnt zu rasen, aber ich kämpfe gegen die Welle der Angst an und nicke.
Er streckt seine Hände aus, und mit zittrigen Fingern fahre ich das Motiv auf seiner linken Hand nach, bevor ich zurückschrecke und einen halben Meter Entfernung zwischen uns bringe. Schmerz flackert in seinen Augen auf, bevor er ihn verbirgt.
Ich atme tief ein. Es ist nur Roman, rufe ich mir in Erinnerung. Ich zwinge mich, wieder seine Hände anzusehen, gebe mir Zeit, die dunkle Farbe und die großen Unterschiede zwischen seinen Händen und denen meines Angreifers zu sehen. Sekunden vergehen, und als sich mein Herzschlag beruhigt hat, gehe ich wieder näher zu ihm.
„Warum ein Anker?“, flüstere ich.
„Weil, wenn du keinen Halt hast, wenn du den Weg zurück nicht mehr finden kannst, ich derjenige sein will, der dir Sicherheit gibt.“
Mein Herz krampft sich zusammen. „Du hast das für mich gemacht?“, frage ich verblüfft.
Sein Lächeln ist voller Hoffnung.
„Ich verstehe nicht“, sage ich. „Das ist bleibend, Roman. Du musstest nicht ...“
Er unterbricht mich. „Ich musste, Allie. Ich will, dass du verstehst, wie wichtig du mir bist. Wie viel du mir bedeutest und wie unglaublich leid es mir tut. Ich will einfach… Ich will eine zweite Chance. Damit ich alles richtig machen kann. Damit ich dich so behandeln kann, wie du es verdienst.“
Eine Träne rollt meine Wange hinab, und ich wische sie hastig weg. Ich schlucke den Kloß hinunter, den ich plötzlich im Hals habe, und frage: „Und was ist das hier? Ist das eine Orchidee… oder vielleicht eine Narzisse?“ Ich begutachte seine rechte Hand. Das Motiv ist kleiner, bedeckt aber immer noch den Großteil seiner Hand.
Roman schüttelt den Kopf. „Nein. Keine Orchidee und keine Narzisse.“
„Was dann?“
„Es ist Vanilla planifolia.“ Auf meinen verwirrten Gesichtsausdruck hin fügt er hinzu: „Mexikanische Vanille.“
Ich ringe nach Luft und lasse seine Hand los. Ich schaue weg, da die Gefühle in mir fast überfließen. Es ist, als ob er seine Hand in meinen Brustkorb geschoben und mein Herz gedrückt hat, sodass es nur noch für ihn schlägt. Die Mauern, die ich um mich herum zum Schutz errichtet habe, fangen an zu bröckeln.
Ich schaue zu Aaron. Er hat sich zu seinem Auto zurückgezogen und sitzt auf der Kühlerhaube, um uns das Gefühl zu geben, dass wir unter uns sind. Er fängt meinen Blick auf und nickt kaum wahrnehmbar, als ob er sagen will: Ja, das ist gerade passiert. Ich drehe mich zurück, um Romans Blick zu treffen.
„Warum?“, zwinge ich mich, zu fragen. Nichts von all dem ergibt Sinn. „Warum versuchst du so sehr, etwas in Ordnung zu bringen, das nie wirklich begonnen hat?“
„Weil du es wert bist. Du bist all das wert. All das Kämpfen, den Schmerz, die Gefühle. Du bringst mich dazu, dass ich fühle, verdammt, Allie.“ Er schlägt sich mit einer Hand direkt auf sein Herz. „Genau hier. Du hast mein eiskaltes Herz zum Schlagen gebracht, und es will nur für eine Person schlagen. Für dich. Nur für dich. Ich will dich nicht nur. Ich brauche dich so verdammt sehr.“ Er tritt vor und drückt seine Stirn gegen meine und nimmt mein Gesicht in seine starken, tätowierten Hände. Ich schließe meine Augen und atme ihn ein, kämpfe mich durch die Angst, einem Jungen nahe zu sein, bei dem ich mir nicht sicher bin, ob ich ihm vertrauen kann. „Alejandra Ramirez, ich brauche dich in meinem Leben.“
Mein Instinkt sagt mir, dass Roman mir niemals wehtun würde. Zumindest nicht körperlich. Aber die Angst, diesem Jungen mein Herz zu schenken, lässt mir die Luft in meinen Lungen gefrieren.
„Roman, noch jemanden zu verlieren ...“
„Das wirst du nicht“, sagt er voller Inbrunst. „Du wirst verdammt niemanden verlieren. Das kann ich dir versprechen. Ich weiß nicht, wie die ganze Beziehungssache funktioniert. Ich lerne hier durch praktische Erfahrungen. Aber ich werde dich nie wieder so im Stich lassen. Niemals, Allie. Gib mir einfach noch diese Chance. Nur eine Chance. Ich werde es nicht vermasseln.“
„Ich bin zerbrochen“, sage ich zu ihm, denn das ist die Wahrheit. Ich bin zerbrochen, meine Scherben sind spitz und scharf. Ich weiß nicht, ob ich fähig oder überhaupt bereit bin, mit ihm, nach allem, was ich durchgemacht habe, intim zu sein, und so jemanden braucht er nicht. Er braucht nicht meinen Ballast. Wofür? Für ein paar Monate Glück? Wir machen in ein paar wenigen Monaten unseren Abschluss. Und was dann?
„Lass mich all die Scherben aufsammeln und dich wieder ganz machen. Lass mich dein Anker sein, wenn du dich verloren fühlst und die Welt um dich herumwirbelt.“
Ich ziehe mich zurück, und mein Herz schmerzt, als ich die pure Verletzlichkeit in seinem Gesicht sehe. Seine Hände lassen meine Wangen los und legen sich um mich, und ich bin fast überrascht, als ich mich nicht versteife. „Und was passiert, wenn wir unseren Abschluss gemacht haben?“
Er drückt sein Gesicht in meine Haare. „Wir lassen uns etwas einfallen. Ich lasse dich nicht gehen, Vanille. Ich brauche dich viel zu sehr.“
Mein Herz wagt den Sprung, und ich bete, dass er es dieses Mal nicht vor seinen Füßen auf dem Boden zerspringen lässt. Mein Vertrauen ist ein geschundenes, abgeschlagenes kleines Ding. Aber ich glaube, ich liebe diesen Jungen, der vor mir steht. Und ich glaube, dass er mich auch liebt. Keiner von uns beiden weiß, wie er es sagen kann. Worte scheinen dafür nicht auszureichen.
Aber Roman hat gesagt, dass er mich braucht, also gebe ich ihm einen Vertrauensvorschuss und lasse die Wahrheit flüsternd über meine Lippen kommen: „Vielleicht brauchen wir uns beide.“