Teil II, Elftes Kapitel
Der Name „romantische Poesie“ ist erst neuerdings in Deutschland zur Bezeichnung der Dichtweise bekannt geworden, die ihren Ursprung in den Liedern der Minnesänger hat und also vom Rittertum und vom Christentum erzeugt worden ist. Wenn man nicht zugibt, dass das Heidentum und das Christentum, der Norden und der Süden, das Altertum und das Mittelalter, das Lehnswesen und die griechischen und die römischen Institutionen sich das Reich der Literatur unter sich geteilt haben, wird man nie dazu gelangen, den antiken und den modernen Geschmack vom philosophischen Standpunkte aus zu beurteilen.
Man nimmt das Wort „klassisch“ zuweilen für ein Synonym von „vollkommen“. Ich bediene mich hier seiner in einem anderen Sinne, indem ich nämlich die klassische Poesie als die der Alten, die romantische aber als die Poesie betrachte, die gewissermaßen aus den Traditionen der Feudalzeit entsprungen ist. Diese Einteilung gilt auch in gleicher Weise für die beiden Zeitrechnungen, d.h. für die, welche der Stiftung der christlichen Religion vorausgegangen und für die, welche ihr gefolgt ist.
[…] Die Literatur der Alten ist bei den Neuen nur eine importierte Literatur, die romantische oder rittertümliche Literatur ist bei uns entstanden, und unsere Religion, unsere Institutionen haben sie zur Blüte gebracht. Die Nachahmer der Alten haben sich zu Sklaven der strengsten Geschmacksregeln gemacht, denn da sie weder ihre eigene Natur noch ihre Erinnerungen zu Rate ziehen konnten, mussten sie sich in die Gesetze schicken, nach denen die Meisterwerke der Alten unserm Geschmack angepasst werden können, obgleich alle politischen und religiösen Verhältnisse, die diese Meisterwerke hervorgerufen haben, verändert sind. Alle Poesien nach antikem Muster, so vollkommen sie auch sein mögen, sind jedoch selten populär, weil sie heutzutage keine nationale Seite mehr berühren.
[…] Auch unsere französischen Dichter werden von allen bewundert, die sich bei uns wie im übrigen Europa klassischer Bildung rühmen, aber den Leuten aus dem Volke und sogar den Bewohnern der Kleinstädte sind sie vollständig fremd, weil eben die Künste in Frankreich nicht wie in anderen Ländern dem Lande selbst entstammen, in welchem sich ihre Schönheiten entwickeln.
[…] Die romantische Literatur ist die einzige, die noch der Vervollkommnung fähig ist, weil sie, da sie in unserem eigenen Leben wurzelt, die einzige ist, die noch wachsen und von neuem Lebenskraft gewinnen kann: Sie repräsentiert unsere Religion, sie ruft unsere Geschichte ins Gedächtnis und ist alten, aber nicht antiken Ursprungs.
Die klassische Poesie muss die Erinnerungen an das Heidentum durchlaufen, um bis zu uns zu gelangen, die Poesie der Germanen dagegen ist die christliche Ära der schönen Künste. Sie bedient sich unserer persönlichen Empfindungen, um uns zu ergreifen und zu rühren; der Geist, der sie inspiriert, wendet sich unmittelbar an unser Herz und scheint unser eigenes Leben wie ein Phantom, das mächtigste und schrecklichste von allen, heraufzubeschwören.