Die Visitenkarte des Maklers warf Anna in den Papierkorb an der Bushaltestelle. Sie hatte beobachtet, wie ihm einer der zwanzig oder dreißig Mitbewerber einen Umschlag zugesteckt hatte, den der sogleich diskret in seiner Jackentasche verschwinden ließ.
Nun lief sie die Straße bereits zum dritten Mal auf und ab, vorbei an den voll besetzten Straßencafés, der gotischen Kirche und dem Schaufenster des Herrenausstatters. Die Kirchturmuhr schlug zehnmal. Anna steckte die Hände in ihre Jeans und schlenderte zur Eingangstür des Blue Moon, an der ein handbeschriebenes Papierschild klebte: Heute Ladies only. Bitte klingeln.
Anna holte tief Luft. Jetzt oder nie. Sie klingelte, und die Tür wurde weit aufgerissen. Eine ältere, vollbusige Frau in einem tiefausgeschnittenen Etwas aus schwarzem Leder lachte sie an.
„Na, da hat es aber jemand eilig. Komm rein!“
Anna spürte eine kräftige Hand auf ihrem Rücken, die sie zum Tresen schob. Bis auf den zierlichen Barmann, der mit Flaschen und Getränkekisten hantierte, war der Raum menschenleer.
„Setz dich und trink schon mal was“, sagte die Türsteherin, „vor halb zwölf, zwölf ist hier meist nicht viel los. Und wir haben noch zu tun.“
„Ich wollte nur …“, begann Anna, doch sie sah nur noch das Tattoo auf dem Rücken der Türsteherin.
Sie wandte sich an den Barmann.
„Ich wollte Flyer abgeben, das ist mit Lony abgesprochen.“
„Lony müsste jeden Augenblick hier sein.“ Der Barmann warf mit einer Kopfbewegung eine Strähne aus seinem dezent geschminkten Gesicht. „Bier?“
„Nein, eine Apfelschorle.“
Anna stieg zögernd auf den Barhocker ganz am Rand des Tresens. Der Barmann drehte sich um, als hätte er sie nicht gehört, füllte dann aber ein Glas mit Apfelsaft und Mineralwasser und stellt es vor Anna auf den Tresen.
„Dein Name?“
„Anna Nowak.“ Sie schluckte. „Warum?“
„Vornamen reicht. Für die Getränkeliste.“
Er kritzelte etwas auf einen Block und schaltete die Musikanlage ein, schneller Elektropop ertönte. Anna hatte Durst und trank hastig.
Wie blöd bin ich eigentlich, dachte sie, natürlich muss man nicht um 22 Uhr da sein, wenn da ‚Einlass 22 Uhr‘ steht. Aber wenn ich jetzt gehe, traue ich mich nie wieder.
Der Barmann hatte ein zartes Gesicht, das auch die Piercings an Augenbrauen und Oberlippe nicht erhärten konnten. Er polierte Gläser und schaute kurz auf, als schien ihm Annas Blick unangenehm zu sein. Anna drehte sich zur Seite und sah sich um. Eine kleine Tanzfläche mit Discokugel, umgeben von kunstlederbezogenen Bänken, die jeweils einen kleinen Tisch umrundeten. Über der Kellertreppe stand in großen neongelben Buchstaben der Hinweis DARKROOM, ein riesiger Pfeil zeigte nach unten. Anna schluckte. Doch dann fiel ihr ein, wie sie das irgendwann einmal ihrer Mutter ganz lässig erzählen könnte: Nein, Mama, ’ne Beziehung hab ich grade nicht, aber ab und zu geh ich zu Erotikpartys.
„Felix!“ Die Türsteherin, die gerade mit zwei Bierkisten hereinkam, riss Anna aus ihren Gedanken. „Mach unserer Süßen hier mal ein paar Pornos an, sie langweilt sich doch!“
„Nicht nötig“, stammelte Anna, doch der Barmann hantierte bereits mit der Fernbedienung.
Anna nippte an ihrem Glas und warf einen Seitenblick zum Bildschirm an der Wand: geschminkte Augen und leicht geöffnete Lippen in Großaufnahme, sekundenlang. Unbehaglich rutschte Anna auf dem Barhocker, als wollte sie eine bequemere Sitzposition finden. Die Türsteherin brachte Bierkisten herein und grinste Anna im Vorbeigehen aufmunternd an. Anna versuchte, ihrem Gesicht einen selbstsicheren Ausdruck zu geben. Als ein älterer Herr in Anzug und Krawatte plötzlich im Raum stand, stellte die Türsteherin die Bierkisten auf den Boden. „Heute ist Frauenabend, immer am ersten Donnerstag im Monat.“ Sie legte ihm den Arm um die Schultern und schob ihn zum Ausgang. „Aber ab morgen triffst du hier wieder die geilsten Männer.“
Sie schloss die Tür hinter ihm und stapelte die Bierkästen hinter dem Tresen. „So, das waren die letzten!“
Der Barmann polierte nach wie vor Gläser, und Anna nippte an ihrer Apfelschorle. Nicht gleich morgen, nein, irgendwann würde sie Jale beiläufig erzählen, dass diese Erotikpartys im Blue Moon ja ganz nett, aber einfach nicht ihr Ding wären. Sie lächelte in ihr Glas. Ein Surren übertönte die Achtziger-Jahre-Hits. Anna drehte den Kopf zur Tür, über der ein gelbes Licht aufleuchtete. Zwei junge Frauen kamen händchenhaltend herein, begrüßten die Türsteherin mit Wangenküssen und Scherzworten und setzten sich an den anderen Rand des halbrunden Tresens.
„Ein Pils, ein Weizen?“ Der Barmann lächelte.
Das Türsignal ertönte wieder. Eine Gruppe gutgelaunter Frauen mit erhitzten Gesichtern stürmte herein. Sie trugen Sporttaschen, die sie an der Garderobe aufeinanderstapelten. Ihre Kapuzenjacken gaben sie der Türsteherin, die sie hinter den Vorhang brachte. Die Sportlerinnen besetzten den Tresen, so dass nur noch ein Barhocker zwischen ihnen und Anna frei blieb, und führten ihre lauten und fröhlichen Gespräche fort. Während Michael Jackson Dirty Diana besang, strichen auf dem Bildschirm an der Wand schmale Frauenhände über pralle Pobacken.
Schöne Bilder, dachte Anna, aber nicht aufregender als welche von Männern. Oder als Bilder von Sonnenuntergängen. Der ganze Hype um Sex … ich kapier’s einfach nicht.
Nach dem nächsten Leuchten des Türlichts erschien eine dünne Frau mit zwei schweren Einkaufstüten, aus einer schauten mehrere Petersilienbüschel heraus. Die Türsteherin wirkte nicht irritiert, sondern brachte die Tüten sogleich hinter den Vorhang. Die Petersilienfrau stellte sich zu dem jungen Paar, das seine Küsse für eine Begrüßung unterbrach, und starrte dann auf den Bildschirm. Drei der Sportlerinnen wagten sich, von den anderen angefeuert, auf die Tanzfläche. Das gelbe Licht an der Tür leuchtete jetzt in kurzen Abständen auf. Drei Jugendliche kamen herein und fläzten sich gleich auf das beigefarbene Kunstleder. Dann eine ältere Frau, deren Blicke schnell zwischen den Anwesenden und Bildschirm hin und her wechselten und die ihr unerwartet zuzwinkerte. Anna lächelte verlegen zurück und leerte den Rest Apfelschorle aus ihrem Glas.
Lony ist immer noch nicht da, dachte sie, egal.
Sie holte den Stapel Flyer aus ihrer Tasche und gab dem Barmann ein Zeichen. Sie würde nach Hause fahren und endlich mal wieder früh schlafen gehen. Der Barmann stellte ihr eine neue Apfelschorle hin, machte einen Strich auf seiner Liste und eilte zum anderen Ende des Tresens. Anna seufzte. Eine der Sportlerinnen hatte den Blick der Petersilienfrau gefangen und flirtete heftig mit ihr. Die Tür öffnete sich wieder, und eine junge Frau trat ein, ihre weiße Kleidung leuchtete im schummrigen Licht. Ihre Zähne blitzten kurz auf, als sie die Türsteherin anlächelte. Aufrecht stand sie am Eingang, sah sich gelassen um.
So selbstbewusst wär ich auch gern, dachte Anna.
Die Fremde trug ein Designerhemd mit asymmetrischem Schnitt und in Dreiergruppen angeordneten Knöpfen, das sehr gut zu den Leinenhosen passte. Sie schien Annas Blick zu spüren und ging die wenigen Schritte zum letzten freien Barhocker am Tresen.
„Entschuldigung“, eine wohlklingende Altstimme, „ist hier noch Platz?“
Anna nickte freundlich. Der Barmann grüßte die Frau, stellte ohne zu fragen ein Glas Weißwein vor sie hin und verschwand wieder.
Wer das Hemd wohl gemacht hat, dachte Anna, ob’s okay ist, das zu fragen?
„Das Blau steht dir sehr gut.“ Die Fremde strich sich die dunklen Haare aus der Stirn. Anna erwiderte ihr Lächeln und trank einen Schluck.
„Bist du zum ersten Mal hier?“, wollte die Frau wissen.
Anna nickte. Dann wieder diese tiefe Stimme.
„Und was macht eine Frau wie du in so einem Laden?“
„Wie bitte?“, fragte Anna verblüfft.
Die Fremde nippte an ihrem Wein. „Du passt nicht hierher“, sagte sie bestimmt, „auch, wenn sie dir sehr wehgetan hat.“
„Mir hat niemand wehgetan.“ Anna stellte ihr Glas mit einem harten Klang auf den Tresen und lachte auf. „Ich habe nur ein paar Flyer vorbeigebracht und geh auch gleich wieder.“
„Was für Flyer?“
Anna schob einen über den Tresen. Die Fremde beugte sich interessiert darüber.
„Wow.“ Sie zog anerkennend die Augenbrauen hoch. „Da haben wir etwas gemeinsam. Ich hab’s zwar nicht studiert, entwerfe aber seit über zehn Jahren für eine kleine Boutique in Charlottenburg.“
„Echt? Und dieses Hemd? Ist das von dir?“
Die Fremde nickte. „Die Hose auch.“
„Cool, total cool! Ist mir gleich aufgefallen, als du hereingekommen bist. Leinen und der Materialmix mit aufgesetzten Paspeln, großartig.“
Die Fremde lächelte huldvoll. „Ich heiße Mona. Und du?“ Sie lehnte sich etwas zurück und ließ ihren Blick langsam über Annas Körper gleiten.
Wilma blieb im Türrahmen stehen, die Klinke in der Hand.
„Wir wollten gerade schließen!“, rief Jale gegen das Gebläse des Staubsaugers an.
„Ich möchte nur eine Auskunft.“
Der Staubsauger verstummte.
„Ja bitte?“ Semih kam mit zwei leeren Getränkekisten aus der Küche.
„Es ist nur … ich suche … Anna.“
Jale und Semih starrten Wilma an, die ein paar Schritte näher kam.
„Sie ist nicht zu Hause.“ Wilma wankte leicht. „Ich hab lange gewartet, vor ihrer Tür. Ich bin ihre Großmutter.“
Wilma suchte Halt an einer Stuhllehne. Semih stürzte herbei und griff mit beiden Armen unter ihre Achseln, Jale zog den Stuhl heran. Semih löste seine Hände nur langsam vom Oberkörper und beobachtete aufmerksam, ob sie stabil sitzen konnte.
„Geht schon wieder“, stammelte Wilma, „nur ein Schwindel, ganz kurz, geht schon wieder.“
Jale brachte ihr ein Glas Wasser, das Wilma in einem Zuge austrank.
„Danke. Wo ist Anna?“
„Anna geht es gut“, sagte Jale mit sanfter Stimme.
„Ja, wir haben sie heute gesehen“, fügte Semih hinzu, „sie war auf dem Weg zu einem Vermieter.“
Wilma sank in sich zusammen. „Zu einem Vermieter!“
„Ja, wegen der Schneiderwerkstatt.“ Semih übersah Jales mahnenden Blick. „Ein Laden ganz hier in der Nähe und …“
„Bestimmt möchte sie erst mal einen Teller Linsensuppe“, unterbrach ihn Jale und wies mit einer leichten Kopfbewegung zur Küchentür. Semih zuckte mit den Schultern und ging.
Wilma richtete sich auf. „Sie sind bestimmt Annas Freundin Tünya?“
Jale zog die Augenbrauen hoch. „Freundin ja, aber ich heiße Jale.“
„Ach ja, Jale, natürlich.“
„Ich ruf Anna jetzt gleich mal an.“ Nach einem herzlichen Händedruck zog Jale ihr Telefon aus der Hosentasche und drückte eine Nummer. Wilma beobachtete sie mit aufgerissenen Augen.
„Sie nimmt nicht ab“, klagte sie schließlich, „auch bei dir nicht!“
Jale steckte ihr Telefon wieder ein. „Anna vergisst öfter mal ihr Handy. Ich hab einen Schlüssel von ihrer Wohnung, ich geh mal gucken, ob es da liegt. Bis gleich.“
Sie lief zum Seitenausgang, kehrte dann aber noch einmal um und öffnete die Küchentür.
„Sie ist eine alte Frau“, flüsterte sie, „und muss erst einmal wieder zu Kräften kommen.“
„Was denn?“ Mit den Handflächen nach oben breitete Semih beide Arme aus und sah sie mit übertrieben unschuldigem Gesicht an. „Koch ich ihr gerade Suppe oder nicht? Obwohl sie einen Mordanschlag auf unsere Leute deckt! Ja, eine Suppe bekommt sie trotzdem!“
„Erst einmal ist es ein alter Mensch, der unsere Hilfe braucht.“ Jale verließ die Küche.
Semih schnitt Fladenbrot auf, füllte die kochende Suppe in eine Schale und servierte beides mit einem scheinbar fröhlichen „Guten Appetit!“
Wilma, die Hände links und rechts neben der Schale, starrte auf die Suppe.
„Lange her“, sagte sie leise, „dass mir jemand Suppe hingestellt hat. Danke.“
Sie nickte Semih zu, bevor er sich wieder in die Küche zurückzog, und begann zu essen. Als die Tür klappte, ließ sie den Löffel sinken und sah Jale erwartungsvoll entgegen.
„Ihr Handy liegt in der Wohnung. Ich glaube, Anna ist bei einer ihrer Mitstudentinnen. Ich fahr mal schnell mit dem Auto hin!“
„So viel Umstände meinetwegen“, nuschelte Wilma und sah sie durch die vergrößernden Brillengläser dankbar an.
„Es könnte eine halbe oder Dreiviertelstunde dauern“, rief Jale im Gehen, „bis dann!“
Sie schloss die Tür hinter sich.
Semih kam mit einer Flasche Raki und zwei hohen gefrosteten Gläsern zurück. Seine dunklen Augen blitzten verwegen.
„Kennen Sie den türkischen Anisschnaps?“
„Hallo, ich such ganz dringend meine Freundin“, sagte Jale atemlos, bevor die Türsteherin zurückgrüßen konnte, „blonde, kurze Haare, blaue Bluse, helle Jeans. Ist die da?“
„Süße, ich verpfeif doch nicht meine Gäste.“ Ein raues Lachen. „Entspann dich, komm rein und schau ganz relaxed, was ihr beide heute Nacht so alles erleben könnt! Aber keine Szene, hörst du?“
Jale nickte und stürmte an ihr vorbei. Es dauerte einen Moment, bis sich ihre Augen an das schummrige Licht gewöhnt hatten. An der Bar saß Anna nicht. Auch unter den Paaren, die sich im Discofox über die Tanzfläche schoben, konnte sie sie nicht finden. Drei Jugendliche auf den beigefarbenen Sitzelementen grinsten Jale an.
Ratlos sah sich Jale um. DARKROOM stand über der Kellertreppe.
Nein, dachte sie, das würde Anna nie …
Sie ging zur Toilettentür, öffnete sie und rief Annas Namen. Ein Lachen perlte aus einer der geschlossenen Kabinen.
Jale drehte sich um und lief die Kellertreppe hinunter. Ein schwaches bläuliches Licht empfing sie und wies ihr den Weg durch einen schmalen, gewundenen Flur. Sie hielt inne, als sie keuchenden Atem hörte. In einer der dunklen Nischen schien sich ein Paar aneinanderzuklammern. Jale konnte an den Umrissen erkennen, dass beide Frauen kräftiger als Anna waren, und ging weiter. Am Ende des Flurs öffnete sich ein größerer Raum, der völlig finster war. Atmete hier jemand? Jale lauschte.
„Anna?“, fragte sie. Ein paar kräftige Arme griffen von hinten um ihre Hüften und zogen sie an einen blumig duftenden Körper. Entschlossen löste Jale die fremden Hände und drehte sich um.
„Entschuldigung, ich such hier nur jemand“, sagte sie bestimmt dem unsichtbaren Gegenüber. Dann lief sie den Flur zurück und die Treppe nach oben. Sie ging auf die Jugendlichen zu.
„Ich such eine Frau, mein Alter, blonde, kurze Haare, blaue Bluse, helle Jeans.“
„Ja“, meinte eine von ihnen, „die war vorhin da. Ist vor ungefähr zehn Minuten gegangen.“
„Allein?“, fragte Jale.
Die Jugendlichen sahen sich unsicher an, eine von ihnen schüttelte zögernd den Kopf.
„Mist.“ Jale strich sich über die Stirn. „Wie bring ich das jetzt ihrer Großmutter bei?“
„Was?“ Die drei lachten lauthals.
Jale hob grüßend die Hand und ging.
„Nicht noch einen!“ Wilma schüttelte den Kopf. „Ich spür schon den Alkohol.“
„Wie sagt ihr Deutsche?“ Semih schenkte Wasser und Raki nach. „Auf einem Bein steht man nicht gut.“
Wilma zögerte, hob dann ihr Glas. „Was heißt ‚Prost‘ auf Türkisch?“
„Serefe.“
„Na dann, serefe!“ Wilma nahm einen kräftigen Schluck, schüttelte sich und schnaufte. „Ist der scharf!“
Sie lehnte sich zurück und schloss einen Moment lang die Augen. „Ah, der zieht wie Wodka. Früher hab ich immer mit den Russen getrunken. Aber jetzt bin ich’s nicht mehr gewohnt.“
„Dass Sie bei den Russen gearbeitet haben, hat Anna mal erzählt.“ Semih sah sie aufmerksam an.
„Nicht direkt bei den Russen. Deutsch-sowjetische Freundschaft, ich war Leiter des Kreisverbands Ratzlow, achtzehn Jahre lang, bis, ja, bis zum Schluss.“
„Was haben Sie da so gemacht?“, fragte Semih.
„Fahrten organisiert zum Beispiel. Ans Brandenburger Tor, nach Sanssouci, zum Pferdegestüt nach Neustadt/Dosse. Ich hab immer drauf geachtet, dass auf jeden mitfahrenden Offizier zehn einfache Soldaten kamen. Für die Jungen war das eine Auszeichnung, die waren ja sonst eingesperrt.“
Semih fixierte sie mit seinem Blick. „Wieso eingesperrt? Waren Sie Wachmann?“
„Nein, nein, ich mein, im Objekt eingesperrt. Das war ja groß, wie eine Stadt, Wohnungen für zehntausend Leute, mit Schulen, Restaurants, einem Theater. Aber dennoch: Die einfachen Soldaten, die nur ihren Wehrdienst abgeleistet haben, durften es nicht verlassen. Die Offiziere schon, die haben dort mit ihren Familien jahrelang gelebt. Nastrovje!“
Sie hob das Glas. Semih prostete ihr zu.
„Einen der Offiziere, den Aljoscha, den hab ich später in Nowomoskowsk besucht“, fuhr Wilma fort. „Wir haben zusammen eine Dampferfahrt auf dem Don gemacht. Und in Tschetschenien war ich auch, in Grosny, 93, kurz vor dem Krieg dort.“
„Demnach haben Sie sich ja gut mit denen verstanden“, sagte Semih lauernd. „Und wie steht’s mit Türken?“
„Es gibt keine Türken in Ratzlow.“ Wilma griff nach ihrem Glas und trank den Rest der milchig-trüben Flüssigkeit. Semih schenkte ihr sofort nach.
„Nein, lass das.“
„Nur den einen noch“, sagte Semih bestimmt. „Es gab aber mal eine Familie Çetinkaya. Und das wissen Sie.“
Wilma warf Semih einen unsicheren Blick zu und nickte dann.
„Und?“ Semih beugte sich vor und sah sie herausfordernd an.
„Das waren unsere Nachbarn.“ Wilma strich mit beiden Händen an ihrem Glas auf und ab. „Sie sind weggezogen, nachdem ihr Haus gebrannt … nachdem ihr Haus angesteckt wurde.“
„Brandstiftung?“, schoss es aus Semih heraus.
„Ja.“
„Wissen Sie, wer es war?“
„Ja, ein Jugendlicher aus dem Ort, hatte gerade Abitur gemacht, der Sohn des Bäckers. Christoff Kuhn heißt er. Das Verfahren gegen ihn wurde eingestellt.“
„Aber es waren rassistische Motive?“ Semih ließ ihr keine Pause zum Nachdenken.
„Du meinst, weil’s Ausländer waren?“ Wilma sah hoch, nickte dann. „Ja, das war kein Zufall. Es war … die Stimmung … das war fast wie in den Dreißigern. Ich hab gedacht, jetzt geht es wieder los. Die ganze Hetze. Wie in den Dreißigern, da wurde doch auch immer schlimmer gehetzt, gegen die Kommunisten und die Juden und gegen alle, die keine Nazis waren.“
„Und die Hintermänner bei diesem Bäckersohn? NPD? Andere Naziorganisationen?“
„Nichts Offizielles.“
„Weshalb ist er freigekommen?“
„Hatte ein Alibi“, nuschelte Wilma, „Vater, Mutter und Onkel haben ausgesagt, mit ihm an diesem Abend zusammen gewesen zu sein. In der Backstube. Torten für eine Hochzeit. Bei den Kuhns sind Nazis Familientradition. Ein Großonkel von dem Burschen, der war Pastor, und stand sonntags in SS-Uniform auf der Kanzel.“
„Und weshalb sind Sie sich so sicher, dass der Bäckersohn Çetinkayas Haus angezündet hat?“
Wilma stöhnte auf. „Deshalb bin ich doch hier. Ich muss mit Anna sprechen! Unbedingt!“
Bisschen spät, schoss es Semih durch den Kopf, doch als er den flehenden Blick in dem runzligen Gesicht sah, schwieg er.
Wilmas Hand zitterte, als sie nach dem Glas griff und einen tiefen Schluck nahm.
„Der Onkel von Christoff war damals Bürgermeister von Ratzlow …“
„Ein ganzes Nazi-Kaff.“ Semih wurde wieder lauter. „Und da laden Sie meine Frau ein?“
„Seitdem ist doch nichts mehr passiert in Ratzlow!“, verteidigte sich Wilma. „Zum Glück kam es ja ganz anders, als ich damals befürchtet habe! Das ist nicht wie in Freital oder Zossen. In Ratzlow ist seitdem Ruhe.“
„Leben denn viele Migranten dort?“
Wilma dachte nach. „Ich weiß, dass ein paar Russen geblieben sind. Dann kamen jüdische Aussiedler aus der SU. Und in der Seidelstraße wohnen ein paar polnische Familien.“
„Denen sieht man’s ja nicht an. Wie ist es mit Türken, Arabern, Afrikanern, Asiaten? Gibt’s da welche in Ratzlow?“
„Nur die Ausländer vom Döner und vom Markt. Aber ich glaube, die wohnen in Berlin.“
„Also Leute, die hier leben und arbeiten. Keine Ausländer.“
Wilma sah ihn verständnislos an.
„Ein türkisches Sprichwort heißt: Heimat ist nicht da, wo man geboren ist, sondern da, wo man satt wird“, erklärte Semih, „ich bin hier zur Schule gegangen und spreche besser deutsch als türkisch. Und trotzdem sehen Sie mich als Ausländer.“
Wilma öffnete den Mund, verharrte einen Moment lang und schloss ihn dann wieder. Sie löste ihren Blick von Semih erst, als hinter ihr die Tür ins Schloss fiel und Jale sich an den Tisch setzte.
„Ich komme leider allein.“ Sie sah Wilma in die Augen, senkte dann den Blick und fegte mit der Handkante ein paar Krümel vom Tisch. „Ich hab Anna nicht gefunden.“
„O nein.“ Wilma sank in sich zusammen. „Was kann dem Mädel nicht alles passiert sein!“
„Ach, Anna kennt hier doch jeden Stein.“ Jale legte die Hand auf Wilmas Unterarm. „Wahrscheinlich sitzt sie mit einer Freundin auf dem Balkon oder vor dem Fernseher.“
Wilma hob langsam den Blick.
„Kann es sein“, fragte sie mit heiserer Stimme, „ist es möglich, dass Anna zu ihrer Mutter gefahren ist?“
„Das glaube ich nicht.“ Jale strich beruhigend über den Arm.
Auch Semih schüttelte den Kopf. „Zumal die Mutter ja so weit draußen wohnt“, bekräftigte er, „da wäre sie ja die halbe Nacht unterwegs.“
Wilma wandte sich ihm zu. „Wohnt Petra denn nicht mehr in der Gemeinschaft in Moabit?“
„Doch, aber den Sommer über ist sie auf so einem Militärgelände“, plauderte Semih, ohne Jales mahnenden Blick wahrzunehmen, „irgendwo mitten im Wald, zwei Stunden Fahrtzeit von hier, hat Anna gesagt.“
Es dauerte einen Moment, bis Wilma begriff. Dann stöhnte sie laut auf. „Was? Aber warum denn? Ist sie da ganz allein? Das geht doch nicht!“
„Sie hat einen Wachhund bei sich“, erklärte Jale. „Weshalb sie dort ist, weiß ich allerdings auch nicht.“
„Aber da ist doch niemand mehr! Die sind doch alle schon in den Neunzigern zurück in die Heimat!“
Jale sah ihr aufmerksam in die Augen.
„Bestimmt weiß Anna mehr. Vielleicht kommt sie ja noch. Ich hab ihr eben einen Zettel an die Wohnungstür geklebt, dass Sie hier unten sind. So oder so können Sie ja in ihrer Wohnung übernachten. Und wenn Anna doch noch kommen sollte, kriegt sie unsere Couch.“
„Na, ich weiß nicht. Ich könnte ja auch ein Hotelzimmer …“
„Auf gar keinen Fall“, unterbrach sie Jale, „ins Hotel geht man nur in einer Stadt, in der man keine Familie hat.“
Das gedämpfte Rauschen der Stadt war bis auf die Dachterrasse zu hören. Anna ließ ihren Blick über das nächtliche Blinken schweifen. Leiser Barjazz setzte ein. Mona brachte zwei Gläser und eine Flasche Wein. Ein Funkeln in den dunklen Augen, bevor sie einschenkte. Sie reichte Anna ein Glas und hob dann ihr eigenes.
„Auf diese Nacht, auf unsere.“
Anna senkte den Blick und nahm einen Schluck Wein.
„Zeig mir jetzt deine Entwürfe“, sagte sie, „ich will dann auch bald wieder nach Hause, hab morgen ’nen langen Tag.“
Mona lächelte und schwieg. Anna leerte ihr Weinglas zur Hälfte und setzte es gerade ab, als sie eine Hand auf ihrem Rücken, ihrem Nacken spürte. Sanft, doch bestimmt.
„Es wird kühl.“ Mona führte Anna zur breiten Ledercouch, stellte sich ihr gegenüber und strich lächelnd mit der Fingerspitze über Annas Oberlippe.
„Weißt du, dass du einen sehr erotischen Mund hast?“
Wer, ich? Fast hätte Anna diese Frage laut ausgesprochen.
Mona beugte sich zu ihr und küsste sie zart auf die geschlossenen Lippen. Dann wich sie einen Schritt zurück und knöpfte langsam ihr Hemd auf, ohne Anna aus den Augen zu lassen. Das Weiß der Bluse im Kontrast zur braunen Haut, schöne kleine Brüste.
Wie soll ich wissen, dass mir’s nicht gefällt, dachte Anna, wenn ich’s nicht probiere. Hat Jale mal gesagt.
Mona schob Anna sacht auf die Couch, rückte ihr lächelnd das Kissen zurecht, schmiegte sich an sie.
„Ich muss mal“, stammelte Anna und löste sich aus der Umarmung.
Mona atmete heftig aus und zeigte auf eine Tür.
Das Bad war geräumig und steril sauber. Während Anna sich Wasser über ihre Handgelenke laufen ließ, betrachtete sie sich im Spiegel. Sie sah gut aus, die Unsicherheit war ihr nicht anzusehen. Nur die Wimperntusche war ein wenig verschmiert. Mit etwas Toilettenpapier wischte sie sie weg, beugte sich über den laufenden Wasserhahn, trank ein paar Schlucke, kontrollierte ihr Spiegelbild, lächelte sich Mut zu.
No risk, no fun, dachte sie, einmal muss es ja sein.
Dann holte sie tief Luft und öffnete die Tür.
Mona lag halb aufgerichtet, die nackten Beine zeichneten sich unter einer dünnen Decke ab. Sie ließ ihren Blick langsam über Annas Körper gleiten.
Anna schluckte, ging ein paar zögerliche Schritte und setzte sich steif auf den äußersten Rand der Couch. Mona lächelte sie einladend an, öffnete die Arme.
Bloß nicht, dachte Anna, ich will das nicht.
Sie schüttelte den Kopf.
„Was hast du denn?“ Mona zog die Augenbrauen zusammen.
Anna musste sich räuspern, bevor sie ihre Stimme wiederfand. „Ich geh jetzt mal nach Hause.“
„Was?“
„Tut mir leid.“ Anna stand auf. „Ich bin ganz durcheinander.“
„He“, Mona lächelte, „da können wir doch vorher drüber reden.“
„Es liegt nicht an dir“, sagte Anna.
Als Mona aufstand, glitt die Decke an ihren Hüften und Beinen herunter, die Haut glatt und braun. Anna schaute schnell weg.
„Nun bleib doch!“, bat Mona.
Anna schüttelte den Kopf.
„Du hast noch nie mit einer Frau geschlafen“, stellte Mona fest.
Anna schluckte schwer, griff nach ihrer Tasche und ging zur Tür.
„Und jetzt gehst du wieder nach Hause zu deinem Typen.“ Monas Stimme klang nicht mehr sanft.
„Nein!“ Anna drehte sich rasch um.
Mona stand aufrecht, die Arme vor der Brust verschränkt. Ihre Augen wirkten dunkler, verletzt.
„Es hat nichts mit dir zu tun“, stammelte Anna, „mit dir als Frau. Ich … ich hab auch noch nie mit einem Mann geschlafen.“
Ein kurzes, raues Lachen. „Eine Nonne, wie süß! Sag mal, wie alt bist du eigentlich?“
Anna zog die Wohnungstür hinter sich zu, rannte am Aufzug vorbei und die Treppen von vierzehn Stockwerken hinunter, erwischte gerade noch den Nachtbus, lief dann die Bismarckstraße entlang, löste ihr Fahrradschloss und schwang sich auf den Sattel. Die Straßen waren jetzt frei genug, um schnell fahren zu können. Sie raste über eine Spreebrücke, dann ein Stück am Fluss entlang; die gelben Lichter spiegelten sich im Wasser. Als die Sirene eines Krankenwagens hinter ihr aufheulte, zog sie ihren Lenker hoch, stellte sich in die Pedale und sprang mit dem Rad auf den Bürgersteig, fuhr einen Bogen um die beiden Wartenden an der Bushaltestelle und lenkte zurück auf die Straße. Sie raste in eine Seitenstraße und drosselte ihr Tempo, als ihr Blick einen Flachbau streifte.
Ach, der Jugendclub, dachte sie, unsere alten Graffiti übermalt. Jale, immer die kleinen Geschwister dabei. Aber trotzdem hat sie irgendwann gemerkt, dass ich sie immer angucke. Und ab da waren wir immer zusammen.
Nach einem wehmütigen Lächeln trat Anna wieder kräftiger in die Pedale.
„Kartoffeldöner“ haben uns die anderen genannt. Die haben sich verliebt und getrennt und wieder neu verliebt. Aber Jale und ich – wir beide erobern die Welt, das war mein Gefühl damals. Fünf, nein, sechs Jahre lang.
Die Muskeln ihrer Oberschenkel brannten.
Aber dann ist Semih aufgetaucht. Klar hätte ich mir so etwas denken können, ist ja auch normal. Jetzt bin ich die Übriggebliebene, die Ausnahme. Liebe ohne Sex – wer, außer mir, will das schon?
Annas Bewegungen pegelten sich auf einen ruhigen gleichmäßigen Fahrstil ein.
Ich sag’s Jale nicht, das mit Mona.
Sie bog auf eine breite Straße ein und stutzte, als sie die Leuchtschrift von Möbel-Meyer sah. Gegenüber dem Haus, in dem sie aufgewachsen war, hielt sie an und sprang vom Rad. Schwarz und leer die Fenster der Wohnung, davor das kalte weiße Licht der Straßenlampe. Zwei große Lastwagen brausten vorbei und nahmen ihr die Sicht. Als Stimmengewirr und Schlagermusik von hinten zu ihr herandrangen, drehte Anna sich um und sah zwei ältere Männer aus der Skatklause heraustorkeln. Kurz entschlossen sicherte sie ihr Fahrrad an einem Laternenmast und ging in die Kneipe. Durch den Dunst des Zigarettenrauchs erkannte sie, dass die Männer an der Bar die Gespräche ihretwegen unterbrachen. Die dick geschminkte ältere Frau hinter dem Tresen sah sie prüfend an.
„Na, biste nich das Mädel von gegenüber?“
Anna nickte.
„Man sieht viel, wenn man immer hier steht.“ In ihren Worten schwang etwas Stolz mit. „Ihr wohnt aber nicht mehr hier?“
„Nein, vor sieben oder acht Jahren bin ich ausgezogen.“
„Und jetzt mal wieder Heimatluft schnuppern, wa?“ Die Wirtin lachte lauthals. „Was willst’n?“
„Kaffee.“
„Tasse oder Pott?“
„Pott.“
Die Männer an der Bar nahmen ihre Gespräche wieder auf. Anna setzte sich an den kleinen Tisch am Fenster und betrachtete das Haus gegenüber. Die Fenster waren erneuert worden. Hinter dem Balkongitter stand noch der Blumentopf, den Anna im Werkunterricht getöpfert hatte.
Der hat Mama so gefallen, dachte sie, die Lasur, grün mit gelbem Zickzackmuster drauf.
Der Kaffee war heiß und stark. Bei Möbel-Meyer schaltete sich die Schaufensterbeleuchtung aus.
Schon morgen?, wunderte sich Anna und beugte sich vor, um einen Blick auf den Himmel zu erhaschen. Erfolglos. Aber, doch, ja, der Autoverkehr schwoll bereits an.
In ihrem ehemaligen Zimmer leuchtete jetzt ein warmes Licht hinter gelben Vorhängen. Undeutlich konnte Anna dahinter eine Silhouette erkennen, die sich im Zimmer bewegte und schließlich die Vorhänge beiseitezog. Ein hennaroter Kopf erschien, Eva öffnete das Fenster, schaute hinaus auf die Straße und gähnte ausgiebig.
Die gibt Mama Halt, hab ich geglaubt, dachte Anna und runzelte die Stirn, von wegen.
Sie beobachtete, wie Eva ihr Bett machte, und kniff die Augen zusammen.
Ist das nicht der Schrank, den Mama mit irgendeinem Freund vom Flohmarkt für mich angeschleppt hat? Wieso wollte ich den damals nicht mitnehmen? Schade eigentlich.
Eva schloss das Fenster.
Auch wenn Mama da wäre, überlegte Anna, ich würde ihr sowieso nicht erzählen, dass ich mich blamiert hab. Mama hat ja immer einen Liebhaber gehabt. ‚Sex ist der Schweinebraten des armen Deibels‘, hat sie manchmal ganz vergnügt gesagt. Ich glaub ihr das, auch, wenn’s für mich total unvorstellbar ist.
Anna trank einen weiteren Schluck Kaffee. Die Autos fuhren bereits Stoßstange an Stoßstange, auch müde wirkende Fußgänger eilten am Fenster vorbei. Anna stellte die leere Tasse zurück auf den Tisch.
Aber bei anderen Sachen hat Mama manchmal gemerkt, wenn’s mir schlecht gegangen ist, dachte sie, dann hat sie mir das Trostlied gesungen, und das hat immer geholfen. Ach, Mama.
Mit einem wehmütigen Zug um den Mund öffnete Anna ihr Portemonnaie und zählte das Kleingeld für den Kaffee.