Staubteilchen tanzten im grellen Licht des Baustrahlers. Mit der Maurerkelle klatschte Wilma den Mörtel auf die Steinreihe, setzte einen Ziegelstein darauf, richtete ihn sorgfältig aus und setzte den nächsten daneben.
„Die Firma Weber!“, rief eine Männerstimme von oben, und der Ofenbauer kam die steile Kellerstiege heruntergelaufen, gefolgt von einem pickligen Jungen mit mehreren Ohrringen.
„Hab heute unseren Azubi mitgebracht, der kann Ihnen beim Mauern helfen.“
Wilma sah nicht von ihrer Arbeit auf. „Hab ich gesagt, dass ich Hilfe brauche?“
„Fürs Säcke-Schleppen und Anrühren tut jede Hand gut.“ Der Ofenbauer wandte sich an den Lehrling. „Misch mal eben neu an, Johannes, und dann hilfst du mir bei den Heizkörpern oben. Später schauen wir uns das Schmuckstück von Ofen genauer an.“
Der Jugendliche nickte und wartete, bis sein Lehrmeister verschwunden war.
„Ich soll Sie von meinem Opa grüßen.“ Er beugte sich zu Wilma vor. „Von Manfred Mellenthin.“
Ungerührt kratzte Wilma den Rest Mörtel aus dem Eimer.
„Und ausrichten, dass beim Lindenwirt morgen Abend eine Versammlung ist“, fuhr der Junge fort, „wegen den Flüchtlingen. Es kommen ja immer mehr, und irgendwann sind’s mehr als wir Deutsche. Mein Opa hat gesagt, dass wir rechtzeitig was gegen die Auflösung von Deutschland tun müssen.“ Er sah Wilma erwartungsvoll an.
„So so.“ Wilma reichte ihm den leeren Eimer. „Und warum lädt er ausgerechnet mich zur Versammlung ein?“
Das Gesicht des Jungen leuchtete auf. „Er hat gesagt, dass Sie ein anständiger Deutscher sind und das Herz auf dem rechten Fleck haben. Weil Sie den Christoff nicht verpfiffen haben damals.“
„Quatsch nich dusslig!“, brauste Wilma auf. „Mach deine Arbeit!“
Der Junge zuckte zusammen, mischte mit heruntergezogenen Mundwinkeln den Mörtel mit Wasser an, stellte den Eimer vor Wilmas Leiter und schlich die Stiege hinauf. Mit der Maurerkelle prüfte Wilma die Konsistenz des Mörtels.
„Zu fest“, murrte sie zornig, füllte einen kleinen Eimer zur Hälfte mit Wasser und goss es dazu. Mit schnellen Armbewegungen rührte sie so heftig, dass der nasse Mörtel über den Rand spritzte. Sie nahm einen alten Lappen, ließ sich ächzend auf die Knie sinken und wischte die frischen Kleckse vom Boden, putzte und rieb auch dann noch, als längst keine Spur Mörtel mehr zu sehen war. Ihre Hände zitterten. Sie kauerte sich auf den Steinboden, ihr Blick glitt verloren darüber, immer wieder, ohne Halt zu finden. Sie raunte ein paar Laute, doch ihr Kinn, ihre Lippen bebten, ließen keine Worte zu. Sie zitterte nun am ganzen Körper.
Anna, schoss es ihr plötzlich durch den Kopf, Anna wird den Keller sehen wollen. Bestimmt. Sie will doch immer alles ganz genau wissen. Muss gutes Licht installieren. Und die Kellertür und die Außentreppe wieder freilegen. Und aufräumen.
Sie zwang sich, ruhig und tief zu atmen, und zog sich am Mauervorsprung des Ofens hoch, setzte sich gleich darauf und wartete, bis sich ihre Beine wieder stabil anfühlten. Ihr Blick schweifte über den meterlangen, unter Armeeplanen verborgenen Gerümpelhaufen; davor lagerten Steinguttöpfe, schmiedeeiserne Gartenstühle und ein hölzernes Paddel.
Das gibt’s doch gar nicht, staunte sie.
Sie stand auf, lehnte sich über den Gartenstuhl, griff nach dem Paddel, hielt es mit beiden Händen und betrachtete es lange. Dann lachte sie lauthals auf.
„Wie dumm kann man sein!“
Zärtlich strich sie über das glatte, runde Holz und lehnte das Paddel vorsichtig an die Wand. Sie schob ein paar der Steinguttöpfe beiseite, beugte sich über das Gerümpel und erreichte mit den Fingerspitzen die Armeeplane. Einen kurzen Blick konnte sie darunterwerfen.
Ihr Gesicht strahlte, Tränen liefen über die faltigen Wangen.
„Ich hab’s vergessen rauszuholen, bevor ich die Kellertür zugemauert hab! Und dann ganz und gar vergessen!“
Anna legte Nadel und Heftfaden beiseite, als Simones Name auf dem Display ihres Handys erschien.
Hi Anna, las sie, heftig, was du mir geschrieben hast. Von meinen Eltern weiß ich, dass damals Brandbeschleuniger gefunden wurde, von dem dann aber plötzlich jede Spur fehlte. Meine Eltern sagen auch, dass der gesamte Kuhn-Clan stramm rechts steht. Soll bekannt sein, dass die für die NPD sind und auch oft nach Dresden zu Pegida fahren. Ich hab am Freitag in Berlin zu tun und würd dich gern sehen und mir auch deinen Laden angucken. Adresse? Öffnungszeiten?
Anna tippte sofort die Antwort ein und griff wieder nach Nadel und Faden. Aus dem Verkaufsraum ertönte Jales Stimme, die laut und falsch ein Sezen-Aksu-Lied schmetterte. Der Geruch von Farbe zog herüber.
„So. Das letzte Regal ist lackiert.“ Jale blieb mit dem Pinsel in der Hand im Türrahmen stehen. „Übermorgen können wir die Sachen einsortieren.“
Anna nickte. „Am Freitag kommt übrigens Simone.“
„Cool, dann wird sie unsere erste Kundin.“
„Ach nein.“ Anna winkte ab. „Sie hat bestimmt kein Geld, hat doch erst fertig studiert.“
„Falscher Ansatz“, widersprach Jale grinsend, „Simone startet ins Berufsleben, will weg vom Studi-Schmuddel-Image und braucht dafür neue Kleidung. Du solltest versuchen, dich in die potenziellen Kunden hineinzuversetzen. Auch das ist Geschäftssinn.“
Anna zuckte mit den Schultern. „Irgendwie liegt mir das nicht.“
„Aber mir!“, lachte Jale. Sie schloss den Deckel der Klarlackdose und verschwand damit im Flur.
Sengende Hitze empfing Wilma, als sie die Stadtbibliothek verließ. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite flanierten drei Afrikanerinnen in langen, leuchtenden Gewändern, und Wilma, die sie nicht anstaunen wollte, drehte sich dann doch nach ihnen um. Eine trug einen offenen Schirm als Sonnenschutz.
Als Wilma in die nächste Straße einbog, erblickte sie an deren Ende eine riesige Staubwolke. Beim Näherkommen erkannte sie, dass der große Plattenbau bereits zur Hälfte abgerissen war. Ein paar Fußgänger wirkten irritiert, hielten inne, änderten ihren Weg und gingen auf die Baustelle zu. Wilma folgte ihnen, wurde wie die Leute vor ihr von den anderen Schaulustigen am Absperrgitter mit einem kurzen Lächeln empfangen. Etwas Erhabenes lag in ihren Blicken.
„Ein Prachtbau war’s ja nicht gerade“, sagte ein älterer Herr mit verklärtem Gesichtsausdruck zu ihr. „Hat aber dazugehört, vierzig lange Jahre.“
Mit ruckartigen Bewegungen näherte sich ein Schaufelbagger dem dritten und nunmehr obersten Stockwerk des Gebäudes, das bereits sein Inneres, einer Puppenstube gleich, preisgab. Die Schaufel verbiss sich zuerst zögernd, dann zupackend in die Betonplatte einer Zwischenwand, schlenkerte das meterlange Stücke in der Luft und warf es dann auf einen Schutthaufen, dessen Staubwolke ein Arbeiter mit einem Wasserstrahl einzudämmen versuchte.
„Wär besser gewesen als der Baumarkt“, bemerkte Wilma, „für die Flüchtlinge, meine ich.“
Der Herr zuckte mit den Schultern.
„Die Gelder für den Abriss sind bewilligt und müssen bis zum Jahresende wohl ausgegeben werden.“
Wilma wandte sich ab und lief weiter. Am Anfang des kleinen Parks nahm sie ihren Armeerucksack ab, stellte ihn auf eine Bank im Schatten einer Kastanie und setzte sich. Auf einer niedrigen Mauer saßen mehrere Frauen mit Kopftüchern. Zwei Mädchen schaukelten, ein paar Jungen tobten auf dem Klettergerüst.
Endlich mal was anderes als nur ein paar alte Leute, dachte Wilma.
Eine der Frauen rief den Kindern etwas zu.
Tschetschenen, stellte Wilma fest, sieh an.
Sie zog ein Buch aus ihrem Rucksack, rückte die Brille zurecht, betrachtete den Titel mit dem körnigen Foto eines schnauzbärtigen Manns und blätterte in den Seiten.
Es war hier irgendwo, dachte sie, ganz bestimmt.
Nach weiteren Minuten wurde sie fündig und las sich murmelnd die Textstelle vor:
„‚Das habe ich getan‘, sagt mein Gedächtnis. ‚Das kann ich nicht getan haben‘, sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich – gibt das Gedächtnis nach.“
Da gab’s wohl schon mal so einen Versager wie mich, dachte Wilma, und ein leichtes Lächeln faltete sich um ihre Augen.
Aus dem Rucksack nahm sie ein gefaltetes, handbeschriebenes Blatt und fand nach einigem Suchen auch den Kugelschreiber, den sie in Berlin gekauft hatte. Auf den oberen Rand des Papiers notierte sie in Schönschrift das Zitat und faltete es dann wieder zusammen. Sie drückte sich an der Lehne ab und ging weiter bis zu einem großen Flachbau, in dem es angenehm kühl war. Am Ende des Flurs öffnete sie eine Zimmertür. Ein Mann saß an einem großen Schreibtisch und ließ seinen Blick über Wilmas altmodisches Hemd und die verblichene Anzughose gleiten.
Wilma grüßte kurz. „Ich möchte einen Redakteur sprechen.“
Eine junge Frau kam aufgeregt durch die Tür.
„Ich habe ihn nicht hereingelassen“, entschuldigte sie sich bei ihrem Vorgesetzten, der ihr kurz zunickte und sich dann wieder an Wilma wandte.
„Ich bin der stellvertretende Chefredakteur der Oder-Spree-Stimme. Worum geht es?“
„Um eine Gegendarstellung.“ Wilma reichte ihm das Blatt Papier. „Das Kleingeschriebene oben in der Ecke gehört dazu.“
Sie beobachtete, wie die Augen des Redakteurs über ihre Zeilen glitten:
‚Das habe ich getan‘, sagt mein Gedächtnis. ‚Das kann ich nicht getan haben‘, sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich – gibt das Gedächtnis nach.
Nietzsche, aus Jenseits von Gut und Böse
Am 25. August 1995 war ich Zeuge des Brandanschlags auf das von meinen türkischen Nachbarn bewohnte Haus im Spreeweg 2. Ich habe beobachtet, wie Christoff Kuhn einen Brandsatz in das Gebäude warf und wie er danach eine zufällige Zeugin – meine fünfjährige Enkelin – durch Schläge eingeschüchtert hatte. Leider habe ich aus Feigheit und mir zum Teil noch immer unverständlichen Gründen die ganze Sache vertuscht und dann ganz aus dem Gedächtnis verloren. Jetzt, da wieder Häuser von Flüchtlingen brennen, erinnere ich mich wieder genau und möchte allen, die sich für diesen Teil unserer Stadtgeschichte interessieren, anbieten, mit mir in Kontakt zu treten.
W. Nowak, Spreeweg 1, Ratzlow
„Als Gegendarstellung können wir es nicht bringen.“ Der Redakteur sah auf. „Ich schlage Ihnen vor …“
„Dann machen Sie sich mitschuldig!“, polterte Wilma los.
„Herr Nowak“, sagte der Redakteur nachsichtig, „ich schlage Ihnen vor, Ihr Schreiben als Leserbrief einzureichen. Sind Sie damit einverstanden?“
Wilmas grimmiger Blick löste sich nur langsam. „Hm, na gut, einverstanden.“
Der Redakteur schrieb ein paar Worte auf das Blatt Papier und reichte es der jungen Frau.
„Meine Sekretärin bringt Sie jetzt nach draußen. Auf Wiedersehen!“
Wilma wandte sich zum Gehen. „Ich brauch keinen Begleitschutz“, fauchte sie die junge Frau an, die ihr die Tür öffnete.
Die Sonne blendete, die Hitze der Straße war fast unerträglich. Wilma trottete nach Hause, trank dort im Stehen ein großes Glas Wasser und ließ sich im Wohnzimmer in den Ohrensessel sinken. Der kühlste Raum des Hauses war früher die gute Stube gewesen, die ihre Mutter nur für den sonntäglichen Besuch öffnete.
Ein schöner Platz für eine Schneiderwerkstatt, dachte Wilma, aber vorbei.
„Hallo, hallo! Jemand zu Hause?“ Eine Mädchenstimme riss Wilma aus ihren Gedanken.
„Küken? Hier bin ich, hier! In der Stube!“
Die Zimmertür öffnete sich, und Marie kam herein.
„Ach, du bist’s.“ Wilma sackte ein wenig zusammen, nahm jedoch gleich wieder Haltung an. „Marie, du kommst ja jetzt jeden Tag. Ist deine Mutter nicht gesund?“
„Doch, die macht Wahlkampf“, erklärte Marie und sah sich neugierig im Zimmer um. „Das ist ja echt wie im Heimatmuseum!“
Wilma schmunzelte. „Hat deine Mutter etwas wegen einer Gedenktafel gesagt?“
„Voll aufgeregt hat die sich darüber. ‚Das darf mir jetzt nicht dazwischenschießen‘, hat sie zu Papa gesagt. Ich hab ihr gesagt, dass ich’s cool fände, da hat sie sich erst richtig aufgeregt. Ich versteh nichts von Politik, hat sie gesagt, und dass ich’s bloß nicht rumerzählen soll. Aber im Jugendclub wussten alle gar nicht, dass bei uns mal ein Brandanschlag war.“
„Was treibt ihr denn heutzutage im Jugendclub?“
„Musik hören, quatschen, abhängen.“ Marie ging ein paar Schritte durch das Zimmer und sah sich um. „Manchmal kochen wir Spaghetti oder so. Mit unserer neuen Betreuerin waren wir am Mittwoch im Flüchtlingsheim. Du, das ist echt krass. Der ganze Baumarkt voller Betten. Und voll laut da!“
„Und was habt ihr dort gemacht?“
„Ein paar von uns helfen den Kids beim Deutschlernen. Simone hat Spiele mitgenommen, Memory und so. War aber Megachaos, weil immer mehr Kinder dazugekommen sind und die ja auch die Spielregeln nicht verstanden haben. Nächstes Mal spielen wir draußen, aber Ball geht nicht, gleich daneben ist ja die Tankstelle und die Schnellstraße. Simone hat gesagt, sie bringt Straßenkreide für den Parkplatz mit.“
Marie betrachtete das mit Schellack lackierte Vertiko und die Kristallgläser in der Vitrine.
„Was ist das?“, rief sie aus und zeigte auf das alte Stern-Radio auf dem Beistelltisch.
„Ein Rundfunkempfänger“, erklärte Wilma, „der stand früher in der Küche. Ich hab’s mir gekauft, als Petra ein Säugling war, für die langen Tage, bis meine Eltern von der Arbeit wieder nach Hause kamen.“
Gedankenverloren starrte sie auf das Radio.
„Ich hau mal ab, hab morgen Englisch-Test. Tschüs, Oma Nowak!“
Das Radio hatte einen einzigen handtellergroßen Knopf. Kinderfinger, die daran drehten. Petra mit ihren Zöpfen, ihr Entzücken, wenn das Morgenlied des Kinderfunks ertönte. Wie sie stehend vor dem Radio verharrte, wenn sonntags das Hörspiel mit den Findigs ausgestrahlt wurde.
Wilma stand entschlossen auf und holte Briefpapier aus dem Vertiko.
Achmed räumte die Teller und das Besteck zusammen und stellte alles auf den Tresen.
„Ach, heute ist ein Brief für euch gekommen“, sagte er, an Jale und Semih gewandt, und legte ein Kuvert auf den Tisch. Anna erkannte die geschwungene Schrift auf den ersten Blick. Jale riss den Umschlag auf und las vor:
Liebe Tschale, lieber Semi,
herzlichen Dank für Eure freundliche Hilfe sowie für Speis und Trank. Ich hoffe, es geht Euch gut. Ihr beiden seid die Letzten, mit denen ich vor Petras Tod gesprochen habe. Die Obduktion hat ergeben, dass Petra tatsächlich an Erbrochenem erstickt ist.
Anna geht mir derzeit aus dem Weg, und ich kann ihr das nicht verübeln. Ich habe schwere Fehler gemacht, die nicht mehr gutzumachen sind. Nicht einmal mehr anzeigen kann ich den Brandstifter, habe mich bei einem Rechtsanwalt erkundigt.
Ich kann lediglich versuchen, die Folgen zu lindern.
Gerne würde ich bei der Familie Çetinkaya anklopfen. Ich weiß nicht, wo sie leben, ich habe nur in Erfahrung bringen können, dass sie Deutschland nach dem Brandanschlag verlassen haben. Da die Stadtverwaltung mir keine Auskunft über ihren Verbleib geben kann, frage ich nun Euch, ob man die Adresse der Familie vielleicht in einem türkischen Computer finden könnte. Ich wäre Euch für jeden Hinweis dankbar.
Mit vielen Grüßen, auch an Anna,
Wilma
Unter den gesenkten Blicken der anderen faltete Jale den Brief wieder zusammen und steckte ihn zurück in den Umschlag. Das Papier raschelte. Dann war es ganz still.
„Öğrenmenin yaşı yoktur“, brach Semih schließlich das Schweigen.
Achmed sah Anna an. „Zum Lernen ist keiner zu alt“, übersetzte er, „so sagt man bei uns.“
„Ich weiß“, sagte Anna leise.