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Marianne Holler wollte auf keinen Fall untätig zu Hause sitzen, und da sie in den dreirädrigen Lieferkarren keine zehn Pferde brachten, fuhr sie mit ihrem eigenen Wagen zur Salus-Apotheke. Deshalb war sie auch längst bei ihrer Freundin, als Maja den Lieferwagen im Hof abstellte. Hinter dem Cabrio parkte ein neuerer Kombi, den sie hier noch nicht gesehen hatte. Außerdem waren – nach den Autos auf dem Hof zu urteilen – Meret Rogler und Thomas Lonitzer gekommen.
Beim Betreten des Hauses hörte Maja Geräusche nur aus dem ersten Stock, also ging sie hinauf. Die Tür stand offen, und eine fremde Männerstimme drang aus dem Schlafzimmer der Apothekerin. Als sie dort angekommen war, sah sie Lonitzer und Meret an der Wand stehen. Marianne Holler hatte sich auf die Bettkante gesetzt, Frau Wenderoth saß im Bett und hatte sich ein Kissen unter den Rücken geschoben, und vor ihr – mit dem Rücken zu Maja – stand ein gedrungener Mann mit weißem Haarkranz und unterhielt sich mit der Hausherrin.
»Ich werde Ihnen kein Medikament verschreiben«, erklärte er, »weil ich vermute, dass Sie sich lieber mit Ihren eigenen Arzneien kurieren möchten. Ich rate zu Beruhigung und Kräftigung.«
Sie quittierte seine Vorschläge mit einem Lächeln. Der Arzt bat Lonitzer, unten in der Apotheke Avena-sativa-Tropfen zu holen. Meret kochte Lindenblütentee und brachte ihrer Chefin eine Tasse davon. Lonitzer holte aus der Küche etwas heißes Wasser in einer zweiten Tasse und löste darin zehn Tropfen aus dem Fläschchen mit dem Haferextrakt auf. Elisabeth Wenderoth trank erst die Lösung, die Lonitzer zubereitet hatte, und nippte dann ein paarmal am Lindenblütentee. Dann machte sie Maja und den Mann, der an ihrem Bett stand, miteinander bekannt.
»Das ist Dr. Rupert Hamer«, erklärte sie, nachdem sie Maja vorgestellt hatte. »Er ist ein guter Arzt, leider an die Schulmedizin verloren – er glaubt nicht daran, dass Homöopathie wirkt. Immerhin hält er sie auch nicht für schädlich, was in dieser Stadt schon mehr ist, als man von manchen seiner Kollegen behaupten kann.«
»Auch Kollege Krohn, auf den Sie jetzt vermutlich anspielen, ist ein guter Arzt«, warf Hamer ein. »Leider ist er etwas hysterisch, was homöopathische Anwendungen angeht. In diesem Punkt sind wir nicht derselben Meinung.«
»Zum Glück, Herr Doktor«, versetzte Elisabeth Wenderoth mit spöttischem Unterton, und der Arzt lachte.
Die beiden schienen sich gut zu verstehen.
»Und wenn Ihnen Ihre Heißgetränke nicht ausreichend helfen«, sagte der Arzt gutmütig, »dann melden Sie sich bitte. Ich hätte auch noch etwas für Sie, das ganz sicher wirkt.«
Hamer verabschiedete sich, und Maja begleitete ihn hinaus.
»Wenn ich es richtig mitbekommen habe, waren Sie der Hausarzt von Frau Dern, die so tragisch ums Leben kam«, sprach sie ihn noch einmal an, als er schon fast seinen Kombi erreicht hatte.
Hamer drehte sich um und musterte sie aus zusammengekniffenen Augen.
»Wie kommen Sie jetzt auf dieses Thema?«, fragte er schließlich.
»Wissen Sie denn nicht, was Frau Wenderoth heute so zugesetzt hat, dass sie Sie rufen ließ?«
»Doch, natürlich weiß ich das. Aber warum wissen Sie schon davon? Frau Wenderoth hat Sie als Krankheitsvertretung von Marianne vorgestellt, die aber oben recht fidel am Bett ihrer Freundin sitzt. Ich finde es erstaunlich, dass Ihre Chefin Sie, gewissermaßen eine Externe, so ins Vertrauen zieht.«
»Mein Großonkel ist ein alter Freund aus Studienzeiten, und er hat mich als kurzfristige Vertretung vermittelt. Ich habe gerade Urlaub, und Frau Wenderoth wollte ich schon länger mal kennenlernen – mein Spezialgebiet als Pharmazeutin sind nämlich Heilpflanzen. Also bin ich eingesprungen und wurde hier sehr freundlich ins Team aufgenommen. Ich habe auch ein Gästezimmer hier im Haus, und ab und zu trinken Frau Wenderoth und ich abends ein Glas Wein miteinander.«
Jetzt verflog das Misstrauen, das für kurze Zeit die Miene des Arztes dominiert hatte, und er schenkte ihr ein freundliches Lächeln.
»Das ist schön. Frau Wenderoth kann Freunde gut brauchen in dieser Zeit. Und ich verspreche Ihnen: Mit Kollege Krohn werde ich gleich morgen ein ernstes Wort reden. Ich kann mir nämlich gut vorstellen, dass entweder er oder einer seiner … nun ja … Jünger hinter dem neuen Verdacht steckt, den die Polizei gegen Ihre Chefin hegt. Und das, finde ich, geht gar nicht. Ich persönlich halte Homöopathie zwar für Humbug, aber Frau Wenderoth und ihr Team maßen sich nie an, Beschwerden mit Tinkturen oder Kügelchen behandeln zu wollen, die man unbedingt mit den Methoden eines Schulmediziners untersuchen sollte. Hat sie Ihnen erzählt, was wir mit Blick auf Frau Dern miteinander verabredet hatten?«
»Hat sie.«
»Und genauso hielt sie es im umgekehrten Fall auch. Sie können mit fast allen Ärzten in Marburg sprechen, mit deren Patienten sie zu tun hatte und hat, und Sie werden von keinem ein schlechtes Wort über Frau Wenderoth hören. Außer eben von Kollege Krohn.«
Er schüttelte unwillig den Kopf.
»Können Sie sich denn vorstellen, dass das unetikettierte Röhrchen mit den tödlichen Globuli womöglich doch aus der Salus-Apotheke stammte?«
»Einerseits nein.«
»Und andererseits?«
Er sah sie lange forschend an, bevor er mit den Schultern zuckte und sich zu seinem Wagen wandte.
»Andererseits«, brummte er im Weggehen, »liegt in der Uniklinik ein kleiner Junge auf der Intensivstation, dessen Mutter ihm Globuli verabreicht hat, die sie direkt von Frau Wenderoth bekommen hat.«
Meret Rogler und Thomas Lonitzer blieben noch fast eine Stunde, dann glaubten sie ihrer Chefin, dass es ihr wieder besser ging. Meret ließ ihren Wagen auf dem Hof stehen, Lonitzer nahm sie mit, und Maja schnappte auf, dass die beiden noch im Bistro in der Wettergasse einen Absacker trinken wollten. Verband Meret Rogler und Thomas Lonitzer vielleicht doch mehr als Freundschaft? Und legte es Meret womöglich darauf an, von ihrem Mann ausgerechnet in dem Bistro mit einem anderen gesehen zu werden, in dem er sich mit Saskia Conradi getroffen hatte?
Auch Marianne Holler, die völlig aufgelöst wirkte und den Beruhigungstee vielleicht sogar noch dringender gebraucht hätte als ihre Chefin, ließ sich eine halbe Stunde später abwimmeln. Maja hatte sich auf die Freitreppe gesetzt, um noch ein wenig die angenehme Nachtluft zu genießen, bevor sie unter ihre enge Dachschräge kriechen musste. Frau Holler tappte an ihr vorbei und schien sie gar nicht wahrzunehmen. Langsam ging sie an ihrem Auto vorbei und auf die Privatstraße zu.
»Frau Holler?«, rief Maja ihr noch nach, aber die Frau reagierte nicht. Maja stand auf und sah ihr nach, bis die Dunkelheit ihre Silhouette nur noch vage erkennen ließ und schließlich ganz verschluckte.
Erst zögerte sie noch, dann ging sie erneut in Elisabeth Wenderoths Wohnung, klopfte leise an der Schlafzimmertür und trat ein, nachdem sie ein schwaches »Ja, bitte?« gehört hatte. Sie schilderte den Eindruck, den Marianne Holler auf sie gemacht und dass sie nicht ihren Wagen genommen hatte, sondern zu Fuß losgegangen war.
»Ach, die Marianne …«, sagte Frau Wenderoth und seufzte. »Dass sie sich das alles so zu Herzen nimmt! Man könnte fast glauben, die Polizei habe sie im Verdacht und nicht mich. Eine so gute Seele!«
»Soll ich ihr nachfahren und sie nach Hause bringen?«
»Nein, lassen Sie mal. Ich bin den Weg von hier zu ihrem Haus schon einmal mit ihr gegangen. Es sind nur etwa vier Kilometer, und um diese Zeit ist ja auch niemand sonst im Wald unterwegs, was soll ihr da schon zustoßen?«
»Aber ich …«
»Das geht schon in Ordnung. Marianne ist gut zu Fuß, und wirklich krank ist sie ja auch nicht, wie wir beide wissen. Außerdem braucht sie ihre Auszeiten. Sie lebt allein, seit ich sie kenne, und sie macht alles, was ihr zu schaffen macht, mit sich selbst aus. Da hilft ihr ein ausgedehnter Spaziergang auf jeden Fall.«
Maja war nicht ganz überzeugt, gab sich aber einstweilen zufrieden und überließ Elisabeth Wenderoth ihrer Nachtruhe. Die Apothekerin hatte recht ruhig und müde gewirkt. Sie selbst fand dagegen keine Ruhe, und an Schlaf war erst recht nicht zu denken. Vor ihrem geistigen Auge sah sie das wutverzerrte Gesicht von Krohn, dazu den kleinen Jungen, der in der Uniklinik um sein Leben kämpfte, und die verzweifelte Mutter, die sich jetzt vielleicht sogar noch bittere Vorwürfe von ihrem Mann anhören musste, der doch schon immer gewusst hatte, was für ein Teufelszeug diese Globuli waren.
Dann fiel ihr ein, wie Markus damals, als sie noch nicht zusammen gewesen waren, in Begleitung seines Kripokollegen in der Dachstein-Apotheke gestanden und ihr unverblümt mitgeteilt hatte, dass sie eine der Verdächtigen in gleich zwei Giftmordfällen sei. Sie spürte die Angst, die ihr die Kehle zuschnürte, den Zorn, der sie keinen klaren Gedanken fassen ließ, und den verzweifelten Wunsch, der Polizei eine Spur zum wahren Täter aufzeigen zu können.
Nur zu gut konnte sie nachfühlen, was in Elisabeth Wenderoth vorging, weitaus mehr, als die alte Apothekerin ahnte. Doch wie eng mussten die Besitzerin der Salus-Apotheke und ihre Mitarbeiterin und Freundin Marianne Holler verbunden sein, wenn sich der Druck, den die eine erlitt, so auf die andere übertrug?
Maja stand am Fenster der Dachgaube und ging im Zimmer auf und ab. Der Gedanke an Marianne Holler, die verzweifelt durch den nächtlichen Wald ging, ließ sie nicht los. Irgendwann schnappte sie ihre Jacke und fuhr ihr nach. Sie kam an der Heiligen Eiche vorbei und erreichte die Landesstraße, ohne Frau Holler zu Gesicht bekommen zu haben. Zu Fuß nahm sie sicher einen Weg, der sie quer durch den Wald und auf kürzerer Strecke zu ihrem Haus brachte, aber Maja traute sich nicht zu, mit dem Auto durch den Wald zu fahren. Was, wenn ihr unterwegs eine Schranke die Weiterfahrt verwehrte? Also folgte sie der Hauptstraße und erreichte bald darauf das Haus am Ortsrand von Bauerbach. Das Gebäude lag im Dunkeln. Selbst in dem Schlendertempo, in dem Marianne Holler losgegangen war, müsste sie eine Strecke von ungefähr vier Kilometern in der Zwischenzeit hinter sich gebracht haben.
Maja drückte den Klingelknopf, der neben dem Gartentor angebracht war. Sie drückte ein zweites und ein drittes Mal – doch weder regte sich im Haus etwas noch flammte ein Licht auf, und es meldete sich auch niemand über die Gegensprechanlage. Falls Frau Holler nicht verzweifelt auf ihrem Sofa lag und heulte wie ein Schlosshund und deshalb nichts um sich herum wahrnahm, konnte das nur bedeuten, dass sie noch unterwegs war. Irgendwo im Wald zwischen der Salus-Apotheke und ihrem Häuschen.
Eine Viertelstunde wartete Maja noch in ihrem Auto auf die Frau, dann stieg sie aus und ging ihr auf dem ersten Weg entgegen, der von Marianne Hollers Haus in den nachtschwarzen Wald führte. Es handelte sich um ein schmales, asphaltiertes Sträßchen, auf dem im Moment aber kein Verkehr herrschte. Nach einer Weile bog die Straße nach rechts ab, und Maja folgte einem weiter geradeaus verlaufenden Waldweg. Sie setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen, aber der geschotterte Untergrund war eben und schien keine Stolperfallen bereitzuhalten, also ging sie etwas schneller. Maja rief sich in Erinnerung, wie das Navi die Lage der Salus-Apotheke und des Hauses von Marianne Holler dargestellt hatte. Demnach musste sie den nächsten Weg nach links nehmen, um zur Apotheke zu kommen. Nach drei-, vierhundert Metern erreichte sie eine breite Straße und hielt sich nun parallel zu ihr in Richtung Süden, etwa auf die Apotheke zu. Über den Bäumen näherte sich ein tiefes Grollen, das sich als das Motorengeräusch eines Hubschraubers entpuppte. Zwischen den Baumwipfeln hindurch konnte sie einen Moment lang den Schriftzug der Johanniter-Unfallhilfe erkennen, dann hörte sie den Hubschrauber landen. Offenbar war sie in der Nähe des Uniklinikums. Hier irgendwo kämpfte Elias Bethmann um sein Leben.
Einen Moment lang blieb Maja stehen, dann setzte sie ihren Marsch fort, und als sie den Botanischen Garten erreichte, hörte sie, wie der Rettungshubschrauber wieder abhob und davonflog.
Maja entschied sich, einen anderen Weg durch den Wald zu suchen, der sie wieder zurück in Richtung Bauerbach führte. Immer wieder blieb sie stehen und horchte, vielleicht war Frau Holler im Dunkeln gestürzt und würde um Hilfe rufen, sobald sie Schritte in ihrer Nähe vernahm.
Als sie das größte Stück des Weges nach Bauerbach hinter sich gebracht hatte, raschelte und knackte es links von ihr. Erschrocken hielt sie inne.
Im nächsten Moment brach eine Gestalt durchs Unterholz und blieb schwer atmend vor ihr stehen.
Isa Bethmann ging auf dem Flur auf und ab. Wenn sie sich zwischendurch kurz setzte, rutschte sie auf dem harten Stuhl herum und konnte kaum die Füße stillhalten. Jedes Mal, wenn eine Krankenschwester vorbeieilte oder ein Arzt durch den Flur kam, sprang sie auf und erkundigte sich, doch niemand hatte Neuigkeiten über den Zustand ihres Sohnes. Der Streit, den ihr Mann vom Zaun gebrochen hatte, als er von der Arbeit nach Hause kam, war fürchterlich gewesen. Da war es Elias schon so schlecht gegangen, dass sie ohnehin schon kurz davor gewesen war, den Notarzt zu rufen. Das hatte dann ihr Mann übernommen.
Bis der Rettungswagen eintraf, hatte Robert sie so angeschrien, wie sie es von ihm nicht kannte. Sie hatte aus Sorge um den Jungen nicht mehr die Kraft aufgebracht, sich gegen seinen anmaßenden, herabwürdigenden Tonfall zu wehren, und irgendwann hatte sie selbst alles geglaubt, was er ihr wieder und wieder an den Kopf warf. Dass sie das Leben ihres Sohnes wegen ihres naiven Glaubens an die Heilkraft von Zuckerkügelchen aufs Spiel gesetzt habe. Dass sie hinter seinem Rücken mit der Gesundheit von Elias experimentiert habe. Dabei habe sie es doch wirklich besser müssen als Ehefrau eines MKE -Pharma-Mitarbeiters, der definitiv mehr von der Materie verstand als sie. Seit Jahren habe er ihr gepredigt, wie gefährlich es sei, mit ernsthaften Beschwerden zu homöopathischen Kurpfuschern zu gehen, wie er Elisabeth Wenderoth und ihre Mitarbeiter nannte, anstatt der erprobten Schulmedizin zu vertrauen.
Die beiden Sanitäter, die kurz vor dem Notarzt in ihrem Haus eintrafen, hatten ihn sogar zurechtgewiesen, als er gar keine Ruhe geben wollte. Ob er denn mit seiner Rechthaberei die Behandlung seines Sohnes erschweren und womöglich sogar sein Überleben gefährden wolle? Das hatte ihn vorübergehend zum Schweigen gebracht, doch hier im Krankenhaus hatte er ihr wieder Vorhaltungen gemacht, wenn auch in etwas gedämpfterem Ton.
»Und jetzt«, hatte Robert sie schließlich angeblafft, »da diese verdammten Kügelchen unseren Sohn beinahe umgebracht haben – wo sind sie jetzt, diese verfluchten Kräuterhexen? Ich sehe sie nirgends! Jetzt müssen doch wieder die Schulmediziner ran, was? Jetzt müssen sie retten, was hoffentlich zu retten ist!«
Schnaubend und kopfschüttelnd war er nach diesem letzten Ausbruch zum Ausgang gestürmt, seither wartete sie allein auf eine Nachricht über Elias’ Zustand.
Schritte näherten sich, und Isa drehte den Kopf. Ihr Mann kam auf sie zu. Schlimm sah er aus, nicht nur krank vor Sorge, sondern auch auf eine Art erregt, die sie nicht zuordnen konnte. Er wirkte verschwitzt, und in seinem Gesicht hatte er blutige Kratzer.
»Was ist denn mit dir passiert?«, fragte sie ihn, nachdem er sich schweigend neben sie gesetzt hatte. Er roch nach Schweiß, nach Moos und Erde.
»Ich musste an die Luft. Dieser Irrsinn mit Elias … ich …«
Einen Moment lang befürchtete sie, er würde sie sofort mit neuen Anschuldigungen eindecken, aber er klang müder als vorhin, schien nicht mehr so auf Krawall gebürstet. Der Spaziergang schien ihm gutgetan zu haben. Sie konnte sich gut vorstellen, wie er draußen auf und ab gegangen war und zu sich selbst gesprochen hatte – das machte er manchmal, wenn er mit einer Situation nicht zurechtkam, und ab und zu hörte sie es mit an, ohne dass ihm das bewusst wurde. Isa besah die Kratzer in seinem Gesicht. Sie waren nicht tief, und das Blut war bereits getrocknet. Da musste wohl nichts verarztet werden.
»Ich bin ein Stück in den Wald hineingegangen«, erklärte er, als er bemerkte, dass sie ihn musterte. »Das hätte ich wohl besser bleiben lassen sollen. Die Schrammen hat mir ein Ast verpasst, den ich nicht rechtzeitig gesehen habe.«
»Bist du denn nicht auf dem Weg geblieben?«
»Ich … nein, weil …«
In diesem Moment kamen zwei Männer und eine Frau den Flur entlang. Die Frau war sportlich leger gekleidet und unterhielt sich mit dem einen Mann, den ein Arztkittel umflatterte, während der andere Mann Jeans und Windjacke trug und wortlos nebenherging. Der Mediziner führte die beiden zu Elias’ Eltern und stellte sich als der Arzt vor, der die Behandlung des Jungen leitete.
»Elias hat meiner Einschätzung nach das Schlimmste hinter sich. Wir werden ihn durchbekommen, und wenn nicht noch Komplikationen eintreten, hoffe ich, nein, bin ich überzeugt, dass er wieder völlig gesund wird. Aber etwas Geduld müssen Sie bitte noch haben.«
Bevor er sich verabschiedete, stellte er seine Begleiter vor, zwei Beamte von der Kriminalpolizei. Hauptkommissarin Sabine Wehner ergriff das Wort, während sich ihr Kollege stumm beobachtend im Hintergrund hielt.
»Es tut mir leid, wenn wir Sie mit unseren Fragen behelligen müssen, während sie noch in Sorge sind um Ihren Jungen«, wandte sie sich an das Ehepaar Bethmann. »Aber wenn Sie sich in der Lage sehen würden, mit uns zu reden, würde uns das sehr helfen.«
Isa und Robert Bethmann sahen sich an.
»Was meinen Sie, ginge das? Wir fragen jetzt auch wirklich nur das Nötigste, um Sie nicht über Gebühr zu belästigen, okay?«
»Fragen Sie, wir können im Moment ohnehin nichts für unseren Sohn tun«, entgegnete Isa Bethmann.
»Die Globuli, die Ihr Sohn eingenommen hat, stammen aus der Salus-Apotheke Marburg?«
Isa nickte.
»Wer von Ihnen war dort, um sie zu holen?«
»Na, ich geh zu diesen Quacksalbern im Leben nicht!«, schnaubte Robert.
»Ich war dort«, sagte Isa und legte ihrem Mann beruhigend eine Hand auf den Unterarm.
»Und wann waren Sie dort?«
»Gestern Vormittag …« Sie unterbrach sich und sah auf die Uhr. Es war weit nach Mitternacht. »Am Mittwochvormittag war ich dort«, korrigierte sie sich. »Elias hat mich begleitet.«
»Und wer hat Sie in der Salus-Apotheke beraten?«
»Das war Frau Wenderoth selbst, die Besitzerin.«
»Und sie hat Ihnen auch die Globuli gegeben?«
»Ja. Ich habe ihr das Problem von Elias geschildert, daraufhin hat sie mir zu Belladonna D6 geraten.«
»Was war das Problem Ihres Sohnes?«
»Er … ist schon sieben Jahre alt und nässt sich noch ein. Und weil das auch tagsüber passiert, zieht er sich immer mehr von seinen Freunden zurück. Um ihm das zu ersparen, war ich auch schon bei unserem Kinderarzt. Er hatte einige Tipps, wollte Elias aber nur sehr ungern Medikamente verschreiben. Und als ich erwähnte, dass ich auch Frau Wenderoth noch um Rat fragen wollte, fand er das gut.«
»Was ist das denn für ein Arzt?«, brauste Robert auf, beherrschte sich aber wieder, als die beiden Kommissare ihm mahnende Blicke zuwarfen.
»Haben Sie gesehen, ob Frau Wenderoth die Globuli aus einem Medikamentenschrank nahm oder ob das Fläschchen, das Sie bekamen, irgendwo gelagert war, wo es … wie soll ich es ausdrücken … weniger offiziell aussah?«
»Dazu kann ich nichts sagen. Sie hat mir die Globuli empfohlen, die ich genannt habe, und dann ist sie nach drinnen gegangen, kam kurz darauf mit dem Fläschchen wieder und gab es mir. Das Fläschchen mit den Globuli habe ich dem Notarzt gegeben.«
»Das war gut, danke. Wir haben sie mittlerweile ins Labor geschickt und wissen hoffentlich bald, was mit der Arznei nicht in Ordnung ist.«
»Das ist ja wohl klar! Da war viel zu viel Atropin drin!«, meinte Robert Bethmann und funkelte die Kommissarin wütend an. »Mein Sohn kämpft um sein Leben, weil er eine Überdosis Atropin abbekommen hat!«
»Sie sind vom Fach?«, fragte Sabine Wehner in gelassenem Tonfall.
»Ja, ich arbeite für MKE Pharma. Übrigens habe ich meiner Frau auch ein Medikament meiner Firma mitgebracht, mit dem Elias ganz sicher besser gefahren wäre als mit diesem Humbug von diesen Kräuterhexen …«
»Ach, wie praktisch, Sie können Medikamente aus Ihrer Firma mit nach Hause nehmen? Ganz ohne Rezept?«
Bethmann schluckte und senkte den Blick. Der Kommissar konnte sich ein leichtes Grinsen nicht verkneifen, doch seine Kollegin tat, als sei nichts gewesen, und wandte sich wieder an die Mutter des vergifteten Jungen.
»Hat Ihnen Frau Wenderoth gesagt, wie Ihr Sohn die Globuli einnehmen soll? Und für wie lange?«
»Ja«, sagte Isa Bethmann und beschrieb genau die Anweisungen der Apothekerin. »Außerdem sagte sie, dass ich mich jederzeit an sie wenden könne, wenn das Mittel nicht helfen sollte.«
»Waren Sie schon häufiger in der Salus-Apotheke?«
Robert sah auf und musterte seine Frau.
Sie zögerte. »Ja«, sagte sie schließlich, und er senkte kopfschüttelnd den Blick. »Ab und zu habe ich mir Arnika geholt. Elias hatte nämlich mal eine Phase, in der er sich ständig irgendwo angestoßen hat. Die Globuli wirken prima gegen blaue Flecken.«
Der Kommissar hatte Robert Bethmann schon länger schweigend beobachtet. Jetzt wandte er sich direkt an ihn.
»Wie haben Sie sich eigentlich Ihre Verletzungen zugezogen?«, fragte er.
»Ich war im Wald. Das Warten im Krankenhaus macht einen ja irre, da musste ich mal an die frische Luft. In der Dunkelheit habe ich einen Ast übersehen. War aber nicht schlimm, das sehen Sie ja.«
»Ich kann mir kaum vorstellen, dass ein Ast so in einen Waldweg ragt, dass Sie sich dort den Kopf anstoßen können.«
»Ich bin auch mal kurz vom Weg abgekommen.«
»Das ist gefährlich, Herr Bethmann. Haben Sie denn die Schilder nicht gesehen, die vor Explosionsgefahr warnen?«
Bethmann schüttelte den Kopf, er wirkte erschrocken. Der Blick des Polizisten blieb misstrauisch, er hakte aber nicht nach.
»Haben Sie jemals Probleme mit Globuli oder anderer Arznei aus der Salus-Apotheke gehabt, Frau Bethmann?«, setzte Sabine Wehner die Befragung fort.
»Nein, da gab es nie irgendwelche Probleme, aber …«
»Aber?«
»In der Stadt gehen Gerüchte um, dass eine ältere Dame gestorben sein soll, nachdem sie Globuli von Frau Wenderoth eingenommen hatte.«
»Und obwohl Ihnen das Gerücht zu Ohren gekommen war, sind Sie zur Salus-Apotheke, um sich Globuli geben zu lassen?«
»Ich gebe nichts auf Gerüchte.«
»Das ist gut, so halten wir es auch.« Die Hauptkommissarin zückte eine Visitenkarte und gab sie Isa Bethmann. »Sollte Ihnen etwas einfallen, was uns weiterhelfen könnte, rufen Sie mich bitte an, ja? Und wir drücken Ihrem Sohn ganz fest die Daumen, dass es ihm bald besser geht.«
»Alles in Ordnung?«, erkundigte sich Maja, die sich von ihrem ersten Schrecken erholt hatte.
Marianne Holler schaute sich unsicher um und kniff die Augen zusammen, um in der Dunkelheit zu erkennen, wer da vor ihr stand.
»Ich bin’s, Maja Ursinus. Ich habe mir Sorgen gemacht, weil Sie einen so mitgenommenen Eindruck gemacht haben, als Sie an der Apotheke losgelaufen sind. Und als ich zur Sicherheit nach Ihnen schauen wollte und Sie noch nicht daheim waren, bin ich Ihnen durch den Wald entgegengegangen. Am Botanischen Garten bin ich umgekehrt, weil ich Sie nicht gefunden habe. Deshalb war ich jetzt schon wieder auf dem Rückweg nach Bauerbach.«
Maja zückte ihr Handy und schaltete die Taschenlampenfunktion ein. Frau Holler sah furchtbar aus. Kratzer im Gesicht, Blutspuren unter der Nase, am Hals und auf der Jacke. Einer ihrer Wangenknochen schillerte in dunklem Rot und schwoll schon an. Im Stoff der Jacke klafften zwei Risse, die linke Hand hing kraftlos nach unten. Die ältere Frau zitterte am ganzen Leib.
Maja legte der Kollegin stützend den Arm um die Schultern.
»Sollen wir rüber zur Klinik?«, schlug sie vor. »Da sind wir schneller als bei Ihnen zu Hause, und vielleicht sollte besser kurz ein Arzt nach Ihnen schauen.«
Marianne Holler versteifte sich sofort und schüttelte den Kopf.
»Nein, nicht in die Klinik! Auf keinen Fall!«
»Was ist denn mit Ihnen?«
»Nichts ist mit mir, gar nichts. Ich will jetzt nach Hause. Sie können mich ruhig loslassen, mir geht es gut.«
»Von wegen! Ich begleite Sie, und loslassen kann ich Sie auch noch, wenn Sie wieder etwas sicherer auf den Beinen sind.«
Widerstrebend ließ sich Marianne Holler führen. Mit der Zeit ging es besser, und als sie kurz vor ihrem Haus aus dem Wald traten, konnte sie schon wieder gut allein gehen. Am Gartentor verabschiedete Frau Holler ihre Begleiterin, aber Maja blieb stehen und fragte noch einmal danach, was ihr denn zugestoßen sei.
»Ich habe mich im Dunkeln verlaufen.«
»In einem Wald, den Sie kennen wie Ihre Westentasche? Damit hat mich jedenfalls Frau Wenderoth beruhigt, als ich mir Sorgen machte, ob Sie wohl heil nach Hause kommen.«
»Den Wald kenne ich wirklich gut und die meisten Wege darin auch. Heute wollte ich einen kleinen Pfad nehmen, der eine Abkürzung nach Bauerbach ist, aber in der Dunkelheit bin ich wohl vom Weg abgekommen und über eine Wurzel gestolpert. Das Ergebnis sehen Sie ja.«
»Und das da?«, fragte Maja und deutete auf den Wangenknochen und die Nase, die ziemlich lädiert aussahen und eher an die Folgen einer kräftigen Maulschelle erinnerten.
»So blöd kann man fallen«, versetzte Marianne Holler leichthin und versuchte ein gequältes Lächeln. »Da können Sie mal sehen. Vor zehn, zwanzig Jahren wäre mir so etwas nicht passiert.«
Maja blieb stehen, und die andere wedelte mit der rechten Hand.
»Sie können wirklich fahren, mit mir ist alles okay.«
»Ist was mit Ihrer linken Hand?«, unternahm Maja einen letzten Versuch und deutete auf Frau Hollers Linke, die seltsam schlaff herunterhing.
»Auch auf den linken Arm bin ich gestürzt. Er tut ein bisschen weh, deshalb schone ich ihn jetzt erst mal.«
»Ich nehme an, Ihre Hausapotheke ist mit allem ausgerüstet, was Sie jetzt brauchen.«
»Ich würde vor Scham im Boden versinken, wenn es anders wäre«, antwortete Marianne Holler und brachte nun tatsächlich ein kurzes Lachen zustande. »Fahren Sie heim, und legen Sie sich schlafen. Ich kann mich selbst verarzten, und morgen sieht das alles schon wieder viel besser aus.«
Maja verabschiedete sich, stieg in ihren Wagen und fuhr zurück zur Salus-Apotheke.
Marianne Holler sah der jungen Apothekerin nach, bis ihr Auto nicht mehr zu sehen war. Dann warf sie einen langen Blick auf den Weg, der im dunklen Wald verschwand, zog mit der rechten Hand ihre Jacke fester um sich und ging zum Haus.
Ja, sie würde sich verarzten. Ihrem Gesicht und ihrem Arm würde es morgen schon wieder besser gehen. Auch die Jacke ließ sich vermutlich flicken. Anderes würde nicht so schnell in Ordnung kommen. Verheilt waren diese Verletzungen nie, nur notdürftig vernarbt, und heute Nacht waren die Narben brutal aufgerissen worden. Durch ein einziges Wort. Durch einen einzigen Namen.
Ihre Gedanken gingen in die Ferne. Und weit zurück in der Zeit. Dass ihr die Tränen dabei hinunterliefen, merkte sie lange nicht.