Kapitel 1

D ie Fliegengittertür quietschte und schlug hinter Raven Alby zu, während sie von der Veranda sprang und zum Tor des Alby-Hofs lief. Ein silberner Drache mit einem Reiter des berittenen Drachen-Schutztrupps, der von seiner Patrouille über das Königreich zurückkehrte, zog über sie hinweg. Sie waren auf dem Weg zurück ins Zentrum Brightons.

»Genau pünktlich«, befand die Jugendliche. Sie winkte dem Reiter im Rennen zu und duckte sich, als er über ihr vorbeizog und den Drachen zum Zeichen der Anerkennung kurz abtauchen ließ. Der lange Schwanz segelte hinterher und die perlmuttfarbenen Schuppen funkelten im Morgenlicht. Sie eilte an einem Stall mit Zwergziegen vorbei, die gerade ihr Frühstück genossen, während zwei Hofarbeiter am Zaun lehnten.

»Guten Morgen, Fräulein Alby.« Isaac Irving lüftete seinen Hut und nickte dem Mädchen zu.

»Wo willst du denn so schnell hin?« Deacon Smith klopfte mit seinem Stiefel gegen einen Zaunpfosten und wirbelte eine Staubwolke auf.

»Erster Schultag«, rief Raven und rannte das letzte Stück bis zum Tor.

»Das stimmt, Fowler-Akademie! Das ist eine große Sache.«

»Lerne einen Zauberspruch für mich, mit dem man viele kleine Ziegen in Schach halten kann«, bat Deacon.

»Dafür hast du einen guten Hund.« Isaac steckte zwei Finger in den Mund und gab einen scharfen Pfiff von sich. Ein schwarz-weißer Border Collie rannte von einer entfernten Weide auf sie zu.

Raven lachte, blieb aber nicht bei den beiden Männern stehen. »Ich muss los«, rief sie mit einem schnellen Winken und richtete den Gurt ihrer Schultasche.

Sie zog ihren langen, roten Pferdeschwanz fest und lief weiter. Oben am Tor wartete ihr bester Freund Henry Derks auf sie. Er war ein großer, muskulöser Junge mit dunklen Locken und gebräunter Haut von der Arbeit auf dem Land seiner Familie.

Zwei weitere Hofarbeiter saßen auf Stühlen vor dem Tor. Sie hatten das Kinn auf der Brust und schliefen tief und fest. Der größere der beiden schnarchte, eine leere braune Flasche lag in seinem Schoß.

Henry lächelte, als Raven sich näherte. »Sieh dir diese Jungs an. Ich hoffe, ihr hattet letzte Nacht keine Eindringlinge, denn die zwei hier wären gute Türstopper für das Tor gewesen.«

Raven verdrehte die Augen. »Lass sie in Ruhe, Henry. Viele der Männer hier trinken, wenn sie Wache stehen. Innerhalb der Farmmauern passiert nie etwas. Irgendetwas müssen sie ja tun, um sich die Zeit zu vertreiben.«

Die beiden gingen gemeinsam die Straße hinunter. »Was hat dein Opa heute Morgen gesagt? Hat er dir eingeschärft, dass du verantwortungsbewusst sein und fleißig lernen sollst?«

»Erschreckenderweise nicht.« Raven rückte abermals den Gurt ihrer Tasche zurecht. »Er war den ganzen Morgen ziemlich still. Ich habe noch nie erlebt, dass er eine Gelegenheit ausschlug, mir Ratschläge zu geben, wie ich in dieser Welt überleben kann. Ich glaube, in all den Jahren, die ich hier bin, hat er jeden Monat mindestens einen Vortrag gehalten. Wusstest du, dass Pestwurzblätter eine Verbrennung heilen und Kopfschmerzen lindern können? Oder dass ich aus einem stolzen Geschlecht von Magiern stamme, die schon seit Hunderten von Jahren im Dienst sind? Oder dass …«

Henry lachte. »Ich verstehe schon. Dein Opa ist schon immer so gewesen. Er ist ein wandelnder Historiker und er will, dass du diejenige bist, die davon profitiert. Du hast Glück. Meine Eltern haben mir einen Haufen Mist erzählt, dass ich erwachsen werde und nicht mehr ihr kleiner Henry bin.« Er schüttelte den Kopf, rückte den Lederriemen über seiner Schulter zurecht und schob seine Schultasche nach hinten. »Ich bin aufgeregt. Ich kann es kaum erwarten, endlich damit anzufangen, ein paar Zaubersprüche zu benutzen!« Er wackelte mit den Fingern. »Die ganze Magie wartet nur darauf, mir bei der Arbeit zu helfen.«

»Henry, komm schon. Das ist doch keine große Sache. Wir haben schon Zaubersprüche benutzt.«

Henry warf ihr einen Seitenblick zu. »Du vielleicht. Ich habe nur ein paar einfache gelernt – einige von dir – aber ich will die ganze Bandbreite kennen, weißt du? Ich werde mir den Arsch aufreißen, damit ich an die Front kann.«

Das Mädchen hob die Augenbrauen. »An die Front von was?«

»Okay, es gibt keinen Krieg mehr, aber die Geschichten sagen …«

Sie verdrehte die Augen. »Das sind nur Geschichten, Henry, alte Geschichten. Außerdem, glaubst du, du bist für den Krieg geschaffen?«

»Warum nicht?« Henry klang beleidigt und fuhr sich mit der Hand durch seine dicken Locken. »Ich muss nicht mein ganzes Leben lang Bauer sein.«

»Ich meine das doch nicht böse. Ich weiß nur, dass es schwer ist, für die Kader ausgewählt zu werden, die zur Ausbildung in die Weiten des Königreichs aufbrechen. Du musst wirklich gut sein.«

»Deine Zukunft ist bereits vorgezeichnet – du wirst eine Magierin sein, genau wie deine Mutter und deine Großmutter – seit Generationen. Jeder weiß, was eine Alby werden wird. So war es immer und wird es sein. Du brauchst dir über deine Zukunft keine Sorgen machen.«

Sie zuckte mit den Schultern und versuchte, ihren Frust nicht zu zeigen. »Steht das irgendwo in Stein gemeißelt? Ich habe auch Großes im Sinn.«

»Manche Dinge sind Tradition, Raven. Ich weiß nicht, wie du gegen Hunderte von Jahren davon ankämpfen willst.«

Die beiden erreichten das Stadtzentrum. In der Ferne ragten die hohen grauen Türme der Fowler-Akademie auf.

Raven zeigte auf die Wimpel, die auf den Turmspitzen der Akademie flatterten. »Ich werde es herausfinden und du wirst mir dabei helfen.«

»Kennen wir uns? Hallo, ich bin Henry Derks, der dritte Sohn von Harvey Derks und dazu geeignet, etwas Großes von hier nach dort zu transportieren«, scherzte er und zeigte auf sich. »Meine Ziele in der Akademie sind erstens, zu lernen, wie man Heu dazu bringt, sich von selbst zu stapeln, was mein älterer Bruder übrigens schon kann, mir aber nicht sagen will. Und zweitens, das Büro des Schulleiters nie von innen zu sehen. Himmel, wenn Schulleiter Flynn meinen Namen nicht kennenlernt, wäre das perfekt. Eine echte Leistung.«

»Jeder kennt irgendwann deinen Namen. Deine Mutter hat dich an einen Küchenstuhl gefesselt, als du sieben Jahre alt warst, damit sie mal eine Pause machen konnte.«

»Ein simples Missverständnis.«

»Du hast meinem Opa diesen einen Zauberspruch abgeluchst und eines der Hühner in eine Ratte verwandelt. Die anderen haben einen Monat lang keine Eier gelegt.«

»Ja, wenn man nur ein Wort verändert …« Er zuckte mit den Schultern. »Das macht nichts! Ein Neuanfang. Wenn du mich in Zukunft suchst, findest du mich in der Mitte des Rudels.«

Raven lachte und schlug ihrem großen Freund auf den Arm. »Toller Plan. Genau so wird man für die Elite-Kampftruppe ausgewählt.«

Henry stieß ein lautes Tsk aus. »Ja, also, ich arbeite noch an dem Plan.«

Sie kamen an zwei Kaufleuten vorbei, die vor ihren Läden saßen, eng beieinander und zu sehr in ihr Gespräch vertieft waren, um Raven oder Henry zu bemerken.

Vor seinem Kurzwarengeschäft zeigte Jacob Lane auf die stabile Mauer, die die Stadt umgab. Ein großer Schlüsselbund baumelte an seinem Handgelenk, die Messingschlüssel klirrten aneinander. »Wilson hat mir erzählt, dass sie einen weiteren verlassenen Aussiedlerhof bei Farley auf der anderen Seite des Königreichs gefunden haben.«

Raven wurde langsamer und bog hinter dem Laden in die Seitenstraße ein.

In der Nähe stand Samuel Jones, der örtliche Metzger. Er trug eine blutige Schürze, die über seinen dicken Bauch gespannt war. Er stemmte die Hände in die Hüften und schüttelte den Kopf. »Wo zur Hölle gehen all diese Leute hin?«

Henry drehte sich um und zeigte ihr den neuen Zauberstab, den er geschnitzt hatte. »Was machst du …«

Sie brachte ihn zum Schweigen, riss an seinem Arm und zog ihn aus dem Blickfeld. Er wollte etwas sagen, aber sie hielt ihren Finger an die Lippen. Sie lehnte sich um die Ecke des Gebäudes und beobachtete die beiden Händler.

»Wir werden zu spät kommen und das am ersten Tag. Du zerstörst meinen Lebensplan«, murmelte Henry.

»Dein Lebensplan war ohnehin schon voller Lücken. Sei still, damit ich sie hören kann.« Raven legte die Hände um ihren Mund und flüsterte einen Zauberspruch. »Exaudi me .« Das Gespräch wurde zu ihr zurückgeworfen, wirbelte in ihrem Kopf herum und hallte in ihren Ohren wider.

Henry zog eine Augenbraue hoch und starrte sie an. »Du hättest mich wenigstens mithören lassen können. Wenn ich schon Ärger bekomme, weil ich zu spät komme, dann möchte ich auch etwas dafür bekommen.«

»Gut, aber sei leise.« Sie hob erneut die Hände und flüsterte: »Venite audite « und die Klangwellen breiteten sich aus und wirbelten um die beiden herum. Henry spähte über Ravens Kopf hinweg von der Ecke des Gebäudes zu den beiden Händlern am Ende des Blocks.

Jacob warf die Hände in die Luft und seine Augen weiteten sich. »Er sagte, er hatte die Möglichkeit, es sich selbst anzusehen. Es war unheimlich.« Die Schlüssel schlugen aneinander und machten ein Geräusch wie das eines Windspiels. »Ein Kesselflicker auf der Durchreise hat sie gefunden. Er war auf seiner jährlichen Runde.«

»Ja, richtig. Die ersten Keimlinge kommen schon durch den Boden und die Felder färben sich langsam grün. Ist er schon in der Stadt vorbeigekommen? Ich habe ein paar Stücke, die repariert werden müssten.«

»Du verstehst nicht, worum es geht, Samuel. Alles war an seinem Platz. Es war, als hätte jemand den ganzen Hof aufgebaut und wäre dann weggegangen. Aber hör zu, es gab keine Anzeichen dafür, dass ein Wagen weggefahren wäre. Wilson ist ein guter Jäger, er weiß, wie man Spuren liest, aber da war Nichts

Der dicke Mann rückte die Bänder an seiner Schürze zurecht. »Das ist lächerlich«, antwortete Samuel. »Vielleicht wurden sie fortgerufen oder so. Das könnte im letzten Frühjahr passiert sein. War da irgendetwas verstaubt? Niemand verlässt einfach so seinen Hof.«

»Der Kesselflicker hat nichts davon erwähnt. Ich sage euch, dass sie nicht weggegangen sind. Wir alle wissen ganz genau, was da gewütet hat.« Er stieß Samuel in die Brust.

Der Metzger schüttelte den Kopf, drehte sich um und ging zurück in seinen Laden. Er winkte die Anspielung ab. »Fang nicht wieder mit diesen Todesschwarm-Geschichten an.«

»Ernsthaft?« Jacob beugte sich schockiert zu ihm. »Du glaubst es immer noch nicht? Wie viele Menschen müssen noch verschwinden, bevor du es ernst nimmst? Irgendetwas lässt Menschen verschwinden. Was könnte es sonst sein?«

Samuel schnaubte. »Es sind Räuber und die Kampftruppen werden sie aufspüren.«

»Was muss passieren, damit du glaubst, dass die Dinger wieder da sind?«

»Dass diese Kreaturen vor meiner Tür auftauchen und beschließen, eine Packung Steaks zu kaufen.« Er lachte, als er zurück ins Haus ging und Jacob seufzte, bevor er in seinen Laden zurückkehrte.

»Glaubst du das, Raven?« Henry trat von dem Gebäude weg. »Dieses Todesschwarm-Ding? Viele Leute schwören darauf.«

Raven lehnte sich gegen die graue Holzverkleidung und atmete tief ein. Endlich ein Abenteuer. Na ja, vielleicht . »Es würde mehr Sinn ergeben, als dass die Leute einfach so verschwinden, denke ich. Ich weiß es nicht. Irgendetwas ist los. Verdammt, wenn ich nur wüsste, was es ist.«

Sie erreichten das Gelände der Akademie und hielten beide einen Moment inne. »Bist du bereit?«, fragte Henry.

»Ich habe darauf gewartet, dass endlich ein Abenteuer beginnt.«

»Schule ist deine Vorstellung von einem Abenteuer? Ich weiß ja nicht, Alby.«

»Der Anfang … Okay, okay. Lass ein Mädchen träumen.«

Henry stupste sie an, als sie die lange, gepflegte Kiesauffahrt hinaufgingen, die zum runden Vorhof der Fowler-Akademie führte. Es war eine alte, geschichtsträchtige Institution mit einer langen Tradition der Ausbildung der Klügsten und Besten.

Der Unterricht fand im alten Fowler Schloss statt, das nach dem großen Krieg jahrelang leer gestanden und schließlich für die Schule umgebaut worden war. Die wenigen verbliebenen Fowlers lebten immer noch auf dem Grundstück, in Landhäusern am hinteren Rand.

Die beiden Schüler drehten sich um und schauten in alle Richtungen, um alles in sich aufzunehmen.

Sie kamen an einer Gruppe von Mittelstufenschülern vorbei, die ein mit Bohnen gefülltes Säckchen mit den Füßen hin und her kickten. »Das habe ich auch gespielt, als ich klein war«, sagte Henry.

»Nein, so hast du das nicht gespielt. Schau genauer hin. Es schwebt.«

Henry ging ein paar Meter näher heran und schaute es sich genauer an. Er richtete sich wieder auf und grinste. Das Säckchen war wenige Zentimeter vom Boden entfernt, dazwischen befand sich nur Luft.

»Kann ich das auch mal probieren?«

Ein Schüler mit tiefschwarzem, kurz geschorenem Haar zuckte mit den Schultern. »Klar«, meinte er und warf das Bohnensäckchen in Henrys Richtung, wobei er eine schnelle Bewegung mit dem Handgelenk machte. Raven spürte den leichten Impuls der Magie, die er einsetzte.

Henry fing das Säckchen mit dem Fuß auf und probierte, es zu werfen, aber nichts passierte und es fiel zu Boden. Er drehte sein Handgelenk nach links und nach rechts und versuchte, etwas Wind unter das kleine Säckchen zu bringen, aber es blieb einfach liegen.

»Im nächsten Semester hast du es auch drauf«, sagte der Mittelstufenschüler und streckte ihm seine Hand entgegen. »Mein Name ist Daniel. Bist du aus der Stadt hier?«, fragte er und deutete auf die Tasche auf Henrys Rücken.

»Ja, ich helfe mit meinen Brüdern noch auf dem Hof meiner Eltern.«

»Ich verstehe schon. Würde ich auch, wenn ich nicht von der anderen Seite des Königreichs anreisen würde. Ich komme aus Yardley.«

»Klar, den Ort kenne ich. Er ist in der Nähe der Küste.«

Raven runzelte die Stirn und beobachtete Henry.

»Professor Ridley wird dir den Trick am ersten sonnigen Tag beibringen, wenn es sonst nicht viel zu tun gibt.« Daniel hob das Säckchen auf, schnippte es und lenkte es mit seinem Fuß. »Du bist neu hier auf der Akademie?«

Raven kam dazu und stellte sich neben ihn. Sie wartete darauf, dass Henry sie vorstellte, doch er war viel zu sehr damit beschäftigt, den silbernen Aufnäher an Daniels Ärmel anzustarren.

»Ja, erstes Jahr. Du bist in der Kampftruppe, nicht wahr?«

»Ja, das ist mein erstes Jahr in der Mannschaft. Jedes Frühjahr gibt es ein Probetraining. Bist du interessiert?«

»Sieht man das nicht an dem Sabber?«, murmelte Raven.

Die beiden jungen Männer drehten sich um und sahen sie an. Henry bedachte sie mit einem finsteren Blick. Daniel schien amüsiert und verschränkte die Arme vor der Brust.

Ravens Gesicht erwärmte sich. »Habe ich das laut gesagt?« Sie streckte ihre Hand aus und sagte: »Hallo, ich bin Raven Alby.«

»Ja, ich kenne dich. Eine Alby, hm? Bist du nicht so eine Art Magierin?«

Raven ließ ihre Hand fallen und seufzte. »So ähnlich. Komm schon, Henry, wir müssen reingehen zu den Ankündigungen.«

»Sehr erfreut, Magierin Raven Alby«, rief Daniel, als der Bohnensack in seine Richtung zurückkam und er drehte sich geschickt, sodass er in eine andere Richtung flog.

Raven neigte ihren Kopf und winkte. »Ebenso.«

»Schön, dich kennenzulernen«, brüllte Henry. »Wir sehen uns auf dem Gelände. Ich werde den Zauberspruch schon herausbekommen.«

Er ging rückwärts und stolperte fast über einen kleinen Magier im vierten Jahr, der ihn anschnauzte. »Neulinge!«

Er holte Raven mit einem breiten Grinsen im Gesicht ein. »Ich liebe diesen Ort!«

»Wir sind erst fünf Minuten hier und du bist schon ein Fanboy. Mach mal halblang. Was weißt du über Yardley?«

»Ich weiß das, was auf der Landkarte in deiner Küche steht. Das zählt.«

»Nicht wirklich.«

»Du hättest es leichter, wenn du aufhören würdest, jedes Mal beleidigt zu sein, wenn jemand das Wort ›Magierin‹ benutzt. Ganz zu schweigen davon, dass dich alle Magier hassen werden.«

»Ich bin gerne eine Magierin. Ich liebe es sogar, eine Magierin zu sein, genau wie meine Mutter. Es ist nur so, dass ich mehr will.«

»Noch etwas?«

»Vielleicht, ich weiß es nicht. Deshalb bin ich hier, um diesen Teil herauszufinden. Kann es nicht mehr sein?«

»Nicht in dieser Stadt. Noch nicht.« Henry blieb vor dem Hauptgebäude stehen, stieg die ersten beiden breiten Granitstufen hinauf und breitete die Arme aus. »Meine großartige Zukunft hat begonnen!«

Raven lachte und spürte, wie sie vor Aufregung bebte. »Warte ab, großer Krieger. Es kann ein paar Kurse dauern, bis wir da ankommen.« Sie trat einen Schritt zurück und betrachtete das Gebäude mit den hohen Fenstern, die sich an den Seiten entlangzogen. Es war der fantastischste Ort, den sie je gesehen hatte. »Das ist der Anfang von etwas Großem«, flüsterte sie.

»Das habe ich gehört«, rief Henry. Er sprang von der Stufe, legte seinen Arm um Ravens Schultern und erfasste mit der anderen Hand die Beschaffenheit der übrigen Gebäude. Es gab vier hohe, verschnörkelte Gebäude, die sich in einem Winkel um das alte Schloss gruppierten, das als Haupthalle bekannt war. Im Westen befanden sich die Schlafsäle – der Jungenschlafsaal auf der linken und der Mädchenschlafsaal auf der rechten Seite, getrennt durch einen kreisförmigen Garten in der Mitte.

Die gesamte Anlage erstreckte sich über mehrere Hektar, umgeben von grasbewachsenen Flächen, die zu beiden Seiten in sorgfältig gepflegte Baumgruppen übergingen.

»Das ist auch der coolste Ort, den ich je gesehen habe, aber, liebe Freundin, das ist nicht der Punkt. Es geht nicht um die Ziegel und den Mörtel, sondern um das, was drinsteckt

»Henry Derks, plädierst du etwa für das Lernen?« Raven lachte und verschränkte die Hände vor der Brust.

»Ich habe dieses Jahr eine neue Strategie. Abgesehen davon, dass ich unbemerkt in den Elitekader aufsteigen will, werde ich einfach immer ja sagen.«

»Das gefällt mir«, bestätigte Raven und nickte. »Besser als das ›die ganze Woche dasselbe tragen‹ vom letzten Jahr.«

Henry behielt seinen Arm um ihre Schultern und drehte sie so, dass sie in alle Richtungen blickte. »Ich gebe zu, der Plan hatte ein paar Schwachstellen. Jeder großartige Plan braucht ein bisschen Feinjustierung …«

Raven rümpfte die Nase. »Und ein heißes Bad. Du hast gestunken wie ein Kaninchenstall.«

»Du machst Witze, aber diese Idee hat mir viel Zeit bei der Auswahl meiner Tunika erspart.« Er atmete tief ein. »Riechst du das? Das ist Potenzial! Die Scheunen sind gleich hinter den Gebäuden«, sagte Henry und seine Aufregung wuchs. »Dort halten sie die Pferde und alle möglichen Tiere, sogar Feuerdrakos. Dahinter befindet sich die Arena für Schülerkämpfe und gleich dahinter liegen die großen Wälder. Ich habe das Gelände den ganzen Sommer über erkundet. Ich habe sogar ein paar Tipps von einem Lehrer für Krafttier-Training bekommen.« Er rieb seine Hände aneinander.

»Weißt du, für jemanden, der unsichtbar bleiben will, gibst du dir viel Mühe, dich zu zeigen.«

»Sag einfach ja und laufe leise und still mit. Ist ne Doppelstrategie.«

»Widersprüchlich, Derks. Dieses Jahr sollte lustig werden.«

»Ich bin ganz deiner Meinung.«

Hunderte von Schülern wuselten herum, unterhielten sich und probierten heimlich kleine Zauber aus, bevor sie die Haupthalle betraten.

Schafe weideten im Gras, dicht gefolgt von zwei Hunden. Auf dem Hügel wachte ein Hirte, der sich auf einen krummen Wanderstock stützte.

Henry und Raven warteten nicht länger, sondern gingen gleich in die Haupthalle. Im Inneren des Gebäudes erstreckten sich Dutzende Reihen roter Holzstühle mit gepolsterten Sitzen auf beiden Seiten eines Mittelgangs. Sie gingen den Gang entlang, bis sie genau in der Mitte standen. Henry schaute sich um, bevor er sie die Reihe hinunterführte.

»Was machst du da? Das ist die Ausführung deines Plans, oder?«, fragte Raven. »Setzen wir uns nach vorn.«

Henry starrte sie mit versteinerter Miene an.

Raven lachte und zerrte an seinem Arm. »Wir machen einen Kompromiss. Dritte Reihe. Wie wär’s damit? Du kannst dich zurücklehnen, vielleicht bemerkt dich niemand.«

»Lustig. Vielleicht … « Er folgte ihr und nickte einem dünnen Jungen aus einer Nachbarstadt zu, der in den hinteren Reihen saß. »Glückspilz«, brummte er, als er Raven nach vorn folgte.

»Du bist voller Widersprüche, Henry.« Raven setzte sich neben ein Mädchen mit langen blonden Zöpfen.

Das Mädchen streckte ihre Hand aus und lächelte. »Murphy. Anne Marie Murphy, aber meine Freunde nennen mich Murphy.«

»Raven Alby, du musst von der Nordseite des Königreichs sein?«

Murphy nickte. »Ja, ich bleibe ein Semester lang in der Stadt und ziehe dann in das Wohnheim. Du?«

»Ich bin von hier. Ich lebe mit meinem Großvater auf einem Hof.«

»Ooooh, dann können wir zusammen in der Stadt rumhängen und Zaubersprüche üben.« Das Mädchen machte eine Faust und schlug sie gegen ihre Handfläche, wobei sie ihre Finger langsam öffnete. Eine kleine leuchtende Kugel wippte in ihrer offenen Hand. Sie öffnete sie ein paar Zentimeter und zeigte einen wässrigen Spiegel mit einem kleinen silbernen Drachen darin. »Der ist nicht echt. Das ist ein Teleskopzauber. Mein bester Trick«, flüsterte Murphy. »Das ist einer der Drachen des berittenen Drachen-Schutztrupps.«

Raven spähte über ihre Schulter, fasziniert von dem Anblick des Drachen. »So schön!« Auf seinem Rücken lag ein Ledersattel. Murphy schaute sie an. »Das will ich lernen, wie man auf einem Drachen reitet.«

In Raven regte sich etwas. »Einen Drachen reiten«, wiederholte sie. Sie sah auf die silbrigen Schuppen auf dem Rücken des kleinen Drachen hinunter, dessen lederne Flügel raschelten, als Murphy ihre Hand zusammendrückte. Raven erschrak.

»Was machst du da?« Henry stand neben ihr und versuchte, an Raven vorbeizukommen.

Murphy schaute ihn mit großen Augen an und dann zu Raven.

»Ist schon gut. Das ist Henry und er gehört zu mir.«

Murphy lächelte ihn an und wurde rot, während sich die Plätze um sie herum mit weiteren Schülern füllten.

Henry saß neben Raven und grüßte ein paar Jungen in der Nähe, die magische Funken austauschten, sich gegenseitig in die Arme und Beine stießen und lachten. Als er sich wieder zu ihr zurückdrehte, sah er, dass Raven ein Zauberbuch hervorgeholt hatte und darin blätterte, während ihr Finger die Seite entlangfuhr.

»Lernst du schon?« Henry stupste sie mit seinem Ellbogen an. »Vielleicht solltest du in der ersten Reihe sitzen.«

»Halt den Mund.« Sie hob einen Finger und versetzte ihm einen Funkenregen auf den Arm, der ihn flach gegen die Stuhllehne stieß.

»Au«, maulte er und griff sich an den Arm. »Lerne, konstruktive Kritik anzunehmen, Alby.«

Ein erwartungsvolles Summen ging durch die Menge, als ein hochgewachsener Mann in schwarzer Robe, mit tiefen Falten im Gesicht, langen, weißen Haaren und einem gestutzten Bart auf die Bühne schritt. Er drehte sich um und verschränkte die Hände hinter dem Rücken, während er die Schüler musterte und darauf wartete, dass sie leise wurden.

»Willkommen an der Fowler-Akademie.« Seine Stimme donnerte laut und tief, jugendlich und mit einem Elan, der seinem gealterten Aussehen widersprach. »Ich bin Schulleiter Flynn. Ich leite diese Einrichtung, die Ihre jungen Köpfe auf Ihrem Weg zu mächtigen Hexen und Zauberern begleiten wird.«

»Wow, es ist, als ob er dich direkt ansieht, Raven.« Henry rutschte auf seinem Sitz herunter und lehnte sich zur Seite.

Raven neigte sich zu ihm, als er versuchte, sich abzuwenden. »Man sieht, dass der Typ im Kampf war. Schau dir diese Narbe an«, flüsterte sie. Eine lange, dünne Narbe zog sich von seinem rechten Auge über seine Wange bis zum Kinn.

»Du solltest den anderen Typen sehen.« Henry kicherte.

Der Schulleiter räusperte sich.

»Ich glaube, er schaut dich an, Henry.«

Der Schulleiter hob eine buschige, weiße Augenbraue und schien darauf zu warten, dass Henry sich aufsetzte.

»Dein Plan scheitert«, flüsterte Raven.

Im nächsten Moment saß Henry gerade und aufrecht auf seinem Stuhl und runzelte die Stirn. »Ich gehe einfach zu ›Plan B‹ über.«

Schulleiter Flynn holte tief Luft und begann erneut. »Ihre Zeit in Fowler wird nicht verschwendet sein. Hier werden Sie eine Vielzahl nützlicher Zaubersprüche und die Geschichte der Magie in diesem Königreich kennenlernen. Sie werden lernen, wie man sie einsetzt und, was noch wichtiger ist, wann man sie einsetzt.«

Raven saß auf der Kante ihres Stuhls.

»Heute sind Sie alle auf dem gleichen Stand, aber das wird sich ändern. Im Laufe der Wochen und Monate werden sich für Sie verschiedene Wege ergeben. Diejenigen von Ihnen, die an der Spitze der Klasse stehen, werden in der Kriegsführung ausgebildet. Andere werden andere Wege einschlagen, wobei auch jeder von Ihnen eine wichtige Rolle spielt. Einige werden, je nach Ihren magischen Stärken, in die Medizin gehen und andere werden sich um die täglichen Aktivitäten in unserer Stadt kümmern.«

»Ich werde an der Front sein und sie werden dich wahrscheinlich zum Tellerwäscher machen«, flüsterte Henry.

Raven schaute finster drein und wurde aus ihren Tagträumen gerissen. »Jeder weiß, dass Zwerge das Geschirr abwaschen und Schüler mit genug Minuspunkten. Mach nichts kaputt, wenn du da angelangt bist. Pssst, er schaut in unsere Richtung.« Raven wandte sich von Henry ab, bevor er antworten konnte und lächelte, als sie zu dem Schulleiter hochblickte, der die erste Reihe überragte.

»Viele von Ihnen fragen sich, welche Art von Macht Sie hier bei Fowler entwickeln werden. Natürlich gibt es augenfälligere Verwendungen für Zaubersprüche, zum Beispiel in Konflikten. Unser Stolz liegt jedoch darin, dass Sie die vollständige Kontrolle über Ihre Umgebung entwickeln.«

Der Schulleiter blickte in eine schattige Ecke des Raumes, wo drei wilde Katzen mit ausgefahrenen Krallen knurrend und fauchend miteinander rangen. Er streckte die Hand mit seinen langen, knochigen Fingern aus und rief: »Veni ad me, et pedes ejus intellexerunt! «

Sofort hielten die Katzen inne und schlichen sich nach vorn auf die Bühne. Sie setzten sich in einer ordentlichen, geraden Reihe neben ihn, den Schülern zugewandt und sahen ihn aufmerksam an, als warteten sie auf weitere Anweisungen.

Ein paar Schüler applaudierten.

Schulleiter Flynn lächelte und senkte sein Kinn. Stille senkte sich über den Saal. Er blickte wieder auf und lächelte immer noch. »Das ist ein ganz einfacher Zauberspruch.« Er deutete in die Luft, wobei sein bauschiger Ärmel von seinem Ellbogen herabhing. »Aber er zeigt die Macht, die wir als Zauberer und Hexen über die Natur haben. Das werden Sie während Ihrer Zeit hier zu beherrschen lernen.«

Henry zuckte mit den Schultern. »Er kann also Katzen hüten. Was ist daran so großartig?«

Ein Mädchen, das vor ihnen saß, drehte sich mit überraschtem Gesichtsausdruck um. »Ernsthaft? Katzen sind berüchtigte Schutzgeister. Sie hören nicht immer auf solche magischen Befehle, sondern machen, was sie wollen. Dazu braucht man eine Menge Macht!«

Henry hob seine Hände. »Ich nehme alles zurück.«

Raven beugte sich nach vorn und beobachtete die Katzen, die regungslos vor der Versammlung saßen.

Schulleiter Flynn hob die Arme und die Katzen schreckten auf, miauten laut und huschten wieder in die Schatten. »Was Sie gerade gesehen haben, war kein fortgeschrittener Zauberspruch. Es war ein einfacher Zauberspruch, der allerdings nicht leicht zu beherrschen ist. Er erfordert Training, Geduld und Übung. Wenn man es richtig macht, sollte das Zaubern mühelos aussehen. Die meisten von Ihnen werden das lernen … irgendwann. Sie werden mit einem Krafttier zusammenarbeiten und eine so enge Verbindung mit ihm eingehen, dass der Zauber funktionieren kann.«

Er schritt auf der Bühne umher, die Hände immer noch hinter dem Rücken verschränkt. »Sie alle sollten sich bis zum Beginn des Schuljahres Ihre Krafttiere ausgesucht haben und werden sie auf dem Fest zur Einschulung vorstellen. Wenn Sie das nicht getan haben, haben Sie genau einen Monat Zeit, das zu ändern und das erste echte Ziel Ihrer Zaubererkarriere zu erreichen. Versäumen Sie es …!« Er bellte die Worte und ließ alle aufschrecken. Raven rutschte auf ihrem Platz herum und biss sich auf die Lippe. »Versäumen Sie es, müssen Sie sich nächstes Jahr neu bewerben

Eine große Magierin mit grauen Haaren in der ersten Reihe stand auf und klatschte in die Hände. Murphy stupste Raven an und wisperte: »Das ist Professor Gilliam. Sie unterrichtet grundlegende und fortgeschrittene Zaubersprüche. Meine ältere Schwester hatte sie und schwört, dass sie eine Liste mit guten und schlechten Schülern führt. Wenn du einmal draufstehst? Puh! «

»Also gut, Schüler, erheben Sie sich.« Sie streckte ihre Arme aus und wartete. »Jetzt, bitte.« Ihre Lippen waren zusammengepresst. »Sie sind in eine kurze Pause entlassen. Wenn Sie den Krähenruf hören, verteilen sich die älteren Schüler auf ihre Klassen. Die neuen Schüler versammeln sich vorn zur Orientierung. Jeder sollte bereits einen Stundenplan erhalten haben und ihn bei sich haben. Heute ist ein kürzerer Tag und morgen findet kein Unterricht statt, während wir uns auf das Schulfest vorbereiten. Aber danach geht es richtig los und zwar mit Ihren Krafttieren. Seien Sie vorbereitet. Gehen Sie nun schon raus. Im Gänsemarsch, geordnet.«

Die kreisförmige Eingangshalle summte vor Erwartung, als sich die Versammlung auflöste. Raven blieb auf ihrem Platz sitzen und starrte auf die leere Bühne. Murphy folgte einer Gruppe von Mädchen durch die hohen Doppeltüren auf den breiten Flur.

Henry hielt im Gang inne. »Willst du einfach so dasitzen? Komm schon, wir haben eine Pause. Lass sie uns nicht vergeuden!«

»Einen Monat«, sagte sie und schaute auf die Bühne.

»Ja, aber das ist jedes Jahr so. Niemand scheitert jemals an diesem Teil. Du musst nur herausfinden, welche Kreatur deine Berufung ist und dich entscheiden. Das ist das Einfachste, was du das ganze Jahr über tun wirst. Komm schon, lass uns gehen.«

Aber Raven hielt ihren Blick auf die Bühne gerichtet. »Geh schon mal raus. Ich komme gleich nach.«

»Wie auch immer. Ich gehe los und lerne andere Schüler kennen. Vielleicht finde ich ein paar Freunde, die wirklich unter Leute kommen wollen

»Okay, ich komme gleich nach.«

Das geschäftige Summen wurde leiser, bis Raven schließlich allein neben der Bühne in der großen Halle war. Sie warf einen Blick über die Schulter, um sich zu vergewissern, dass tatsächlich niemand im Raum war und richtete dann ihre Aufmerksamkeit auf die Katzen, die wieder in den Schatten rangen und knurrten.

Sie stand auf und ging an den Rand der Bühne, die ihr bis knapp unter die Schulter reichte. Mit den Armen stützte sie sich auf dem Podest ab und blickte quer über die Bühne zu den Tieren, die sich mit angelegten Ohren gegenseitig anfauchten und kratzten.

»Ihr seid nicht sehr freundlich, oder?«

Raven hievte sich auf die Bühne, näherte sich langsam den Katzen und hockte sich auf deren Höhe. Die größte Katze, schwarz mit weißem Bauch, zischte sie an und streckte eine Pfote mit ausgefahrenen Krallen aus. Die anderen verharrten auf der Stelle, eine über der anderen, während die schwarze Katze sich einige Meter entfernte und sich putzte.

Sie schauten Raven in die Augen und beobachteten jede ihrer Bewegungen. Sie streckte ihre Hand ein paar Zentimeter weit aus. Die gelb getigerte Katze ganz oben fauchte, schlug nach ihrer Hand und zerkratzte zwei ihrer Finger.

Raven zuckte zurück. »Au! Du bist ja ganz schön wild.« Sie kniff sich in die Haut und ließ das Blut heraussickern. »Sana me .« Die Wunde schloss sich in einer geraden Linie und heilte, bis sie ganz verschwand. »Der erste Zauber, den Opa mir beigebracht hat.«

Sie stand auf und ging auf die andere Seite der Bühne. Sie hob die Arme und sagte mit fester und ruhiger Stimme: »Veni ad me, et pedes ejus intellexerunt! «

Die drei Katzen hielten inne und eilten zu ihr hinüber, um sich zu ihren Füßen zu setzen. Raven kicherte, fuchtelte mit ihrer Hand herum und beobachtete, wie die einst wütenden Biester ihr auf Schritt und Tritt folgten. »Das nenne ich Macht!«, raunte sie gedämpft.

Sie hob ihren Arm, entschied sich um und ließ die Katzen frei. Sie beeilten sich, ihre rasiermesserscharfen Aktivitäten wieder aufzunehmen. Raven drehte sich um, um von der Bühne zu springen und erstarrte beim Klang einer dröhnenden Stimme.

»Sehr gut gemacht!«

Raven drehte sich um und entdeckte Schulleiter Flynn, der mit verschränkten Armen am Rande der Bühne stand.

»Oh, das tut mir leid. Ich war nur …«

»Sie testen nur Ihre neuen Grenzen. Eine gute und eine schlechte Angewohnheit. Ich bin beeindruckt, Fräulein …?«

Sie legte ihre Hand auf ihre Brust. »Alby. Raven Alby, Sir.«

Er nickte. »Fräulein Alby, Sie haben da etwas. Entweder Sie sind ein Naturtalent oder jemand, der sich mit Zauberei auskennt, hat Sie unterrichtet.«

»Mein Großvater.«

»Alby …ah, ja, jetzt sagt mir der Name etwas.« Eine schwarze Krähe landete in einem hohen Fenster und krächzte. Der Schulleiter zog eine Messing-Taschenuhr heraus und blickte darauf. »Sie sollten sich besser beeilen. Die Pause ist schon vorbei. Viel Spaß bei der Orientierung.«

»Ja, Sir.«

Raven schritt selbstbewusst aus der Halle. Ich schaffe das. Ich weiß, dass ich es kann . »Das wird ein guter Tag.«

Schulleiter Flynn beobachtete sie beim Hinausgehen. »Du hast noch viel vor dir, Raven Alby.« Er schüttelte den Kopf und verschränkte die Hände hinter dem Rücken, als er hinter die Bühne ging. »Ich werde dich im Auge behalten.«

* * *

Raven stürmte die Eingangstreppe hinunter und fand die anderen Erstklässler bereits im Kreis um eine kleine, aufgeregte Magierin aus dem Büro. »Zurücktreten, zurücktreten!« Sie klatschte dreimal in die Hände und huschte auf die Schüler zu. »Mein Name ist Frau Feldman. Ich bin die Leiterin der Verwaltung und werde Sie zur nächsten Station führen. Stellen Sie sich zu viert in einer Reihe auf und wir machen uns auf den Weg zur Arena, die als Begrüßungszentrum eingerichtet wurde.«

Henry bahnte sich einen Weg durch eine Gruppe von Schülern, bis er bei Raven ankam. »Wo bist du gewesen? Ich habe Freunde gefunden und Geschichten erzählt. Ich dachte, du würdest mich unterstützen.«

»Was ist denn mit dir los? Du siehst glücklich und verschwitzt aus. Die Pause hat fünfzehn Minuten gedauert. Was hättest du in der Zeit denn alles erreichen können?«

»Ich habe noch nie so viele Leute in unserem Alter auf einem Fleck gesehen«, sprudelte es aufgeregt aus Henry heraus. Er drehte sich im Kreis und sah sich die Menge an. »Ich wollte bei möglichst vielen einen guten Eindruck hinterlassen, bevor der Unterricht in zwei Tagen beginnt. So können sie sich an diesen Moment erinnern, egal, was im Unterricht passiert.«

Raven lachte und verschränkte ihren Arm mit dem ihres besten Freundes. »Das ist eigentlich ziemlich schlau. Komm, orientieren wir uns.«

»Wusstest du, dass ich einen ungewöhnlich guten Orientierungssinn habe? Ich kann meine Augen schließen und mich drehen und weiß immer noch, wo Osten ist.«

»Das wusste ich. Ich kenne dich schon dein ganzes Leben lang. Du hast eine Menge interessanter Eigenschaften. Heb dir das für die anderen Neulinge auf. Folge mir. Wir bahnen uns einen Weg in die Mitte der Gruppe. Dann kannst du noch mehr Hände schütteln.«

»Ich liebe es, wenn ein Plan funktioniert!«

Frau Feldman hob ihre Hand, den Zauberstab fest umklammert. »Sparen Sie sich das Geplauder, bitte. Wir haben heute viel zu tun, bevor wir Sie auf Ihren Weg schicken.«

Die Frau winkte mit dem Arm und machte sich auf den Weg zur Arena hinter den Hauptgebäuden und Schlafsälen. Die Jugendlichen strömten hinter ihr her, schnatterten durcheinander, zeigten auf die verschiedenen Gebäude und lernten sich gegenseitig kennen.

»Glaubst du, dass wir mit den älteren Schülern Unterricht haben werden?« Henry nickte einem großen Mädchen grüßend zu, das neben ihm lief. Sie errötete und nickte zurück, wandte sich dann schnell ab und drängte sich zu ihren Freundinnen. »Ich bin nicht sicher, ob das ein positives Feedback war oder nicht.«

»Ich würde sagen, das war ziemlich gut, mein Freund. So sagt ein schüchternes Mädchen ›Du bist heiß‹. Komm schon, wir sind fast da.« Raven ergriff seine Hand und zog ihn mit sich, während sie voranschritt und die große Arena betrat.

Frau Feldman stellte sich in die Mitte, ihre Absätze sanken in den feinen Sand. Sie schwenkte ihren Zauberstab und rief: »Magis clamabat «, um ihre Stimme zu verstärken. »Gehen Sie in beide Richtungen und besuchen Sie jede Station, bis Sie bei fünf Stück gewesen sind.« Sie hielt ihre Hand hoch. »Zählen Sie an Ihren Händen, liebe Leute. Wenn Sie nicht bei fünf gewesen sind, haben Sie nicht alles, was Sie benötigen.«

»Komm, wir gehen hier lang.« Raven zerrte an Henrys Ärmel und stürmte auf den ersten Tisch zu, auf dem sich viele Bücher stapelten.

»Nimm eins von jedem«, sagte die jugendliche Magierin mit lockigem, dunklem Haar hinter dem Tisch. Sie streckte Raven ihre Hand entgegen und lächelte. »Hi, ich bin Avery. Ich bin eine Oberstufenschülerin, kandidiere für den Schülerrat und bin Magierin.«

»Raven Alby und ich nehme an, ich bin eine Magierin in Ausbildung.«

Avery lachte und pustete in die Luft. »Du bist hier und kannst mindestens zwei ordentliche Zaubersprüche, richtig? Okay, dann bist du eine Magierin. Sieh zu, dass du von jedem Stapel ein Buch nimmst.«

Raven nahm das Buch ›Grundlegende Zaubersprüche‹, in die Hand und ging zu den Zaubertränken und Giften, wobei sie sich von jedem Stapel eines nahm, während sich die Bücher auf magische Weise stapelten. Sie hörte Avery hinter sich sagen: »Hi, ich bin Avery. Ich bin eine Oberstufenschülerin und kandidiere für den Schülerrat …«

Raven nahm ihre Tasche ab, schob die Bücher hinein und hievte sie wieder auf ihre Schulter. Henry kam hinter ihr her und balancierte seine Bücher. »Ich hoffe, wir müssen die nicht alle jeden Tag mitbringen. Ich fange an, die ganze Sache mit dem Wohnen zu Hause zu überdenken.«

»Deine Eltern haben gesagt, du musst, damit du mithelfen kannst.«

»Ja, nun, so ist das. Oh, hey, am nächsten Tisch sind Zauberstäbe.« Henry hielt sich an seinem Bücherstapel fest und lief zum nächsten Tisch. Raven war direkt hinter ihm und lehnte sich näher heran, um zu sehen, was sie taten. »Streck deine Hand aus«, sagte ein großer, breiter Jugendlicher hinter dem Tisch. Henrys Hand schoss hervor, gespannt darauf, was als nächstes kam.

Der Junge probierte verschiedene Zauberstäbe in Henrys Hand und wartete einen Moment. »Nein, den nicht. Nein, der wird auch nicht funktionieren. Warte mal, woher sagst du, kommst du? Aus welchem Teil des Königreichs?«

»Brighton, hier in der Nähe.«

»Richtig, okay, lass mich mal sehen.« Der junge Mann schaute unter den Tisch, holte einen glatten, dunklen Rotholz-Stab hervor und legte ihn in Henrys Hand. Der Stab zitterte leicht und glitt über seine Handfläche. »Das kitzelt!«

»Ja, das ist er! Der Nächste!«

»Warte, was soll ich damit machen?«

»Bewahre ihn sicher auf und fuchtle nicht damit herum, bis dir jemand zeigt, wie man ihn benutzt. Der Nächste!«

Raven streckte ihre Hand aus. »Ich komme auch aus Brighton.« Sie wartete, während der junge Mann den gleichen Prozess durchführte und mit dem glatten Rotholz begann, aber nichts funktionierte. Der Jugendliche kratzte sich am Kopf. »Normalerweise ist das viel einfacher.« Er stieß einen frustrierten Seufzer aus. »Ich habe noch ein paar. Bist du sicher, dass du zaubern kannst?«

Raven war überrascht, dass ein wütender Ruck durch sie ging bei der Unterstellung, sie könne keinen einzigen Zauber zustande bringen. »Ich bin mir sicher.« Sie schob ihre Hand ein wenig weiter. »Versuch noch einen.«

»Okay, aber …«

»Versuch es einfach … bitte.«

»Gut, aber das ist der letzte, glaube ich. Er ist aus Weidenholz gemacht. Ich glaube nicht, dass er je bei jemanden funktioniert hat.« Er legte ihn auf Ravens Hand und erschrak, als er sich langsam in ihrer Handfläche zu drehen begann. Seine Augenbrauen schnellten hoch und er trat einen kleinen Schritt zurück, als er sah, wie der Zauberstab sich mit Raven verband.

Er sah zu der jungen Magierin auf. »Das ist interessant.« Er nickte. »Respekt, du hast deinen Zauberstab gefunden.« Dann wandte er sich dem nächsten Schüler zu. »Okay, wer ist der Nächste? Streck deine Hand aus.«

Henry stand bereits mit seiner geöffneten Schultasche am Tisch mit den Vorräten und sammelte getrocknete Kräuter und Glasfläschchen ein. Raven steckte den Zauberstab in ihre Tasche neben die Bücher und schloss ihre Hand fest um ihn, wobei sie ein Kribbeln verspürte. Sie machte sich auf den Weg zum nächsten Tisch und nahm sich von jedem Stapel etwas mit, schnappte sich einen Musselinbeutel am Ende des Tisches und legte alles hinein.

»Nur noch zwei«, sagte Henry. »Was kommt eigentlich danach?«

»Ich schätze, wir hängen hier rum, bis wir uns auf den Weg machen müssen.«

»Super! Der beste Tag aller Zeiten.« Er rannte im Trab zum Waffentisch und stieß dabei einen lauten Juchzer aus. Raven holte ihn ein, als der mürrische Zwerg hinter dem Tresen sagte: »Langsam, langsam, Junge. Das ist eine fantastische, ernste Angelegenheit. Wir vertrauen Ihnen Ihre erste offizielle Schulwaffe an.« Der Zwerg hielt einen kleinen Dolch mit einem schlanken Griff hoch. »Er sieht vielleicht nicht nach viel aus, aber ein Dolch ist immer dann nützlich, wenn man es am wenigsten erwartet. Der Griff ist perfekt ausbalanciert und die Klinge ist auf beiden Seiten fein geschliffen.« Er schob ihn in die Lederscheide und reichte ihn Henry, wobei er den Blickkontakt mit ihm hielt und einen finsteren Blick aufsetzte. »Lassen Sie mich nicht hören, dass Sie damit herumfuchteln und heute Nachmittag auf den Putz hauen.«

»Nein, Sir. Nein, das werden Sie nicht.« Henry machte einen steinernen Eindruck, bis der Zwerg wegschaute. Er zeigte Raven einen Daumen hoch. Sie lächelte ihren Freund an, doch der Zwerg fixierte sie mit demselben finsteren Blick. Sie biss sich auf die Lippe und stand stocksteif.

»Junge Dame, Ihr erster Schuldolch.« Der Zwerg legte ihn in ihre ausgestreckten Hände, den Griff zu ihr gewandt und zog eine Augenbraue hoch. »Machen Sie keine Dummheiten«, knurrte er.

»Nein, Sir, keine einzige. Nicht eine.«

Raven wich einen Schritt zurück, drehte sich langsam um und entfernte sich vom Tisch. Sie ließ den Atem, den sie angehalten hatte, erst aus, als sie schon fast am letzten Tisch angelangt war. »Das war gruselig«, sagte Raven. Sie schaute Henry an, aber der war mit dem beschäftigt, was auch immer sie an dieser Station taten. Raven beugte sich um ihn herum, um einen besseren Blick zu erhaschen und ihre Augen weiteten sich.

Professor Gilliam nahm einen kleinen Stein mit einer eingemeißelten Rune in die Hand und legte ihn auf den Unterarm einer Schülerin. »Ab aliis «, beschwor sie und bewegte ihre Hand in einer kontinuierlichen Kreisbewegung über den Stein. Langsam wurde der Stein zu Asche, die Rune erschien auf der Haut der Schülerin und verschwand, als sie in ihrem Arm versickerte.

Professor Gilliam blickte auf und sagte scharf: »Der Nächste!«

Henry schob Raven vor sich her und Professor Gilliam starrte sie mit einem weiteren Stein in der Hand an, während sie auf Ravens Arm wartete. »Ihr Arm.«

Raven zögerte und holte tief Luft. »Darf ich fragen, wofür das genau ist?«

Die Professorin neigte ihren Kopf zur Seite. »Haben Sie den Lehrplan nicht gelesen, den wir zu Ihnen nach Hause geschickt haben? Das ist Ihr Ausweis, mit dem Sie Essen bekommen oder Zugang zu bestimmten Bereichen wie dieser Arena haben. Es ist völlig harmlos und verschwindet, sobald Sie nicht mehr bei Fowler eingeschrieben sind. Jetzt kommen Sie schon, hinter Ihnen warten noch viele andere. Wenn Sie auf diese Akademie gehen wollen, brauchen Sie eine Rune.«

Sie wedelte mit ihren Fingern vor Raven herum, bis diese ihren Arm ausstreckte. Sie spürte die kühle, glatte Oberfläche des Steins, der leicht auf ihrer Haut balancierte. »Ab aliis «, sagte Professor Gilliam und der Stein begann sich langsam aufzulösen und wärmte Ravens Unterarm. Eine Rune erschien kurz, bevor sie sich tief in ihren Arm manifestierte und ein schwaches Kribbeln hinterließ, das bis zu ihrer Schulter hinaufwanderte und wieder verschwand.

»Das war so cool«, flüsterte Raven mit großen Augen.

»Und wie«, bestätigte Henry und streckte seinen Arm aus.

Raven wartete, bis er fertig war, schob die schwere Tasche auf ihre Schulter und sie gingen gemeinsam nach draußen, wobei sie immer noch ihre Arme ausgestreckt vor sich hielten und die Stelle betrachteten, an der die Rune erschienen war. Die meisten Schüler draußen taten das Gleiche.

Die nächsten Stunden vergingen wie im Flug und die Erlebnisse verschwammen. Neue Leute kennenlernen, Henry dazu bringen, seinen Dolch wegzustecken, über das Gelände wandern, in jedes Gebäude sehen und versuchen einen Ort zu finden, an dem sie die Rune noch einmal aktivieren könnten, ohne Erfolg.

Als Raven wieder am Tor des Alby-Hofs ankam, konnte sie kaum noch ihre Schultasche halten. »Sehen wir uns in ein paar Tagen?«

»Wenn ich dich nicht vorher sehe«, antwortete Henry, seine übliche Antwort, seit sie klein waren.

Raven stapfte an den Feldern, den Zwergziegenställen und den Hütten für die Gehilfen vorbei zu dem Haus, das sie mit ihrem Großvater teilte.

»Wie war dein erster Tag?«, fragte Connor Alby und strich sich sein schneeweißes Haar glatt.

Raven sah ihn mit großen Augen an und gähnte verschlafen. »Erstaunlich, fantastisch, der beste Tag überhaupt!«

Ihr Großvater gluckste und stemmte die Hände in die Hüften. »Bist du hungrig? Ich habe einen Eintopf auf dem Herd.«

»Klar, ja … ich könnte was vertragen«, antwortete Raven verträumt, als sie in ihr Zimmer ging, um ihre Tasche abzustellen.

Als ihr Großvater ihr später folgte, um nach dem Rechten zu sehen, fand er Raven, die sich den Arm mit der neuen Rune hielt, fest schlafend vor. Er lächelte und zog ihr die Stiefel aus, deckte sie zu und küsste sie auf die Stirn.

»Morgen gibt es ein neues Abenteuer zu erleben, mein Schatz. Schlaf gut bis dahin.«