R aven begann mit der Auslieferung ihrer letzten Bestellung. Sie verließ die Hauptstraße, die zur Stadtmitte führte und nahm stattdessen eine Seitenstraße, um die Menschenmassen zu umgehen.
Ein paar Blocks vom Stadtzentrum entfernt stieß sie auf einen alten, in Lumpen gekleideten Mann, der vor einem alten Buchladen auf der Kante des gepflasterten Gehsteigs saß. Im Schaufenster hing ein Schild, auf dem gebrauchte Bücher zum Kauf oder Tausch angeboten wurden. Sein Haar hing in schmutzigen Büscheln um seine rötlichen Wangen und die faltigen Gesichtszüge.
Obwohl die Sonne warm auf Ravens Haut schien, war der Mann in einen abgewetzten, olivgrünen Mantel gehüllt und hatte die Arme um seinen Körper geschlungen. Ein alter, waldgrüner Filzhut war gegen sein Holzbein gelehnt und auf seiner Schulter trug er das königsblaue Rautenabzeichen des Ordens der Meisterzauberer.
Während die Leute vorbeigingen, murmelte er oder rief laut. Die meisten bemühten sich, ihn zu ignorieren, aber Raven sah einen jungen Mann, der eine Münze in seinen Hut warf und schnell weiterlief. Viele Leute wechselten auf die andere Straßenseite.
Er schüttelte den Hut, die Münzen klirrten im Boden. »Das Ende der Welt. Sie kommen! Seid bereit zu kämpfen! Es ist das Ende der Welt. Ich habe es gesehen!« Er schlug seinen Gehstock auf den Boden und fuchtelte mit dem Arm.
Raven griff in ihre Tasche, um ein paar Münzen für seinen Hut herauszukramen, als drei Jungen lachend und sich gegenseitig schubsend auf den Mann zugingen.
»Verrückter alter Mann!«
»Du bekommst keinen Job, weil du dein Gehirn verloren hast, nicht dein Bein!«
»Hey, ich laufe mit dir um die Wette!«
Der Mann schwang seinen Stock in einem weiten Bogen, verfehlte sie nur knapp und erntete eine weitere Runde Gelächter. Einer der Jungen stieß ihm gegen den Kopf, sodass er auf die Seite fiel. »Komm schon, bist du nicht ein Kriegsheld? Ich kann dich fertig machen! Kein Wunder, dass du verletzt wurdest!«
Diese kleinen Scheißer. Raven ging über die Straße auf sie zu.
Ein anderer Junge packte den Hut des Mannes und schüttelte ihn wild. »Hör mal, wie er bimmelt! Hört sich an, als würdest du hier draußen ein Vermögen machen. Ich wette, es sind zwei, drei Münzen drin?« Er warf den Hut auf die Straße und stellte sich über ihn.
Raven fand das gar nicht lustig. Sie schätzte die Jungen ein, beobachtete, wie sie sich bewegten, wer der Anführer war und wo die Schwachstellen lagen.
Deacon hat recht, beobachte alles!
Der Junge, der den alten Mann geschubst hatte, stieß die anderen mit den Ellbogen an, trieb sie an und prahlte am lautesten. Das ist der Anführer .
Auf halbem Weg über die Straße zeigte sie auf den Jungen und flüsterte: »Mio de te ipso .«
Sofort drehte sich der Junge mit einem panischen Gesichtsausdruck um und stöhnte. Sein Bein zuckte und er schüttelte verwirrt den Kopf. »Nein, warte. Was …« Er biss die Zähne zusammen und stand still, während sich seine Muskeln entspannten. Als er sich wieder aufrichtete, war ein großer nasser Fleck auf der Vorderseite seiner Hose zu sehen.
»Alter!«, rief einer von ihnen, zeigte auf ihn und lachte. »Echt? Hast du dir gerade in die Hosen gepisst?«
»Ich … ich, ähh …« Der junge Mann wurde rot im Gesicht und ballte die Fäuste. Er knurrte den alten Mann an, sprintete dann aber davon und rief, er käme zurück. Seine Freunde lachten, rempelten sich gegenseitig an und liefen in eine andere Richtung.
Der alte Mann setzte sich wieder auf, streifte seine schmutzige Jacke ab und stand dann mithilfe seines Stocks auf. Raven holte seinen Hut, legte ihn zurück inmitten der verteilten Münzen und begann sie mit ihrem guten Arm aufzusammeln.
Eine der Silbermünzen war ein paar Meter weit weggerollt. Raven ging zu der Münze hinüber, wurde aber von einem Mann überholt, der sich bückte, um das Geld aufzuheben. Der junge Mann schnippte die Münze, fing sie in seiner Handfläche auf und wollte sie in seine Tasche stecken.
Raven bedachte ihn mit einem strengen Blick. »Geben Sie sie her.« Sie streckte ihre Hand aus und blickte ihn an.
Er trat einen Schritt zurück und versuchte, an ihr vorbeizugehen, wobei er ein breites Grinsen aufsetzte. »Du musst ein bisschen schneller werden, wenn du etwas erreichen willst.«
»Sie sind nicht von hier, oder?« Sie fühlte, wie die Wut durch ihren Körper schoss. »Genug ist genug«, protestierte sie.
Sie kniff die Augen zusammen, sammelte etwas von ihrer Energie und ließ sie in ihre Hand strömen. Dabei ignorierte sie den zunehmenden Schmerz in ihrem anderen Arm, der von der Schulter ausstrahlte. Sie packte den Mann im Nacken und ließ die Energie durch ihn hindurch pulsieren, sodass sich seine Augen vor Überraschung weiteten und sich seine Brust zusammenzog. Er schnappte nach Luft. »Hat Ihre Mutter Sie nicht dazu erzogen, nichts zu nehmen, was Ihnen nicht gehört? Her damit.«
Sie ließ los, stieß hart die Luft aus und stolperte einen Schritt zurück. Sie fing sich wieder und kam in einen sicheren Stand, während sie darauf wartete, dass der junge Mann ihr aushändigte, was ihm nicht gehörte.
»Was hast du da gerade gemacht? Ach egal …« Er sah den entschlossenen Ausdruck auf Ravens Gesicht, trotz der Schlinge um ihren Arm. Seine Hände zitterten, als er ihr die Münze reichte. Er trabte los, die Hand an einem Messer an seiner Seite, das sie zuerst nicht gesehen hatte. Sie erstarrte für einen Moment und dachte darüber nach, was alle den ganzen Tag über zu ihr gesagt hatten. »Macht zu haben ist nur der Anfang«, murmelte sie.
Sie ging zu dem alten Mann und reichte ihm die Münze, während er sie mit einer hochgezogenen Augenbraue ansah. »Du hattest Glück«, sagte er. »Der einzige Grund, warum er das Messer nicht benutzt hat, war, dass du ihn mit deiner Aktion überrascht hast.«
Raven griff nach dem Hut und übergab ihn. »Es war ein langer Tag.«
»Hast du viele davon? Vielleicht solltest du mal über Meditation nachdenken.« Er rieb sich die Nase an seinem Ärmel und zog den Hut näher zu sich. »Ziemlich gut dein Zauberspruch. Ich habe nicht einmal gesehen, dass du etwas gesagt hast.« Er beobachtete sie eindringlich und neigte den Kopf zur Seite. »Als ob du nur darüber nachgedacht hättest.«
Der Mann begann vor sich hin zu summen und klopfte sich mit einem schmutzigen Fingernagel auf die Zähne.
Raven nickte und wollte weggehen, als er sie am Arm packte.
»Hey! Was machen Sie da?« Erschrocken ließ sie sich für einen Moment gegen ihn zurückfallen, der Geruch von Schweiß und Gras stieg ihr in die Nase.
Der Mann hielt ihr Handgelenk fest und zog sie näher zu sich, bis sie ihm direkt in die Augen sah. Sein heißer Atem schlug ihr direkt ins Gesicht.
»Im Ernst, ich bin in meiner Intimsphäre gern für mich allein und Sie werden mich jetzt loslassen.« Raven zog sich zurück und er ließ sie widerwillig los.
»Du musst mich anhören«, sagte er. »Ich sehe , dass du etwas Besonderes bist. Du könntest helfen. Sie denken, ich sei verrückt, aber das bin ich nicht. Ich habe den Tod gesehen. Ich habe ihm direkt in sein seelenloses Gesicht gestarrt. So etwas Böses kann nicht sterben! Es kommt zurück. Deine Magie könnte uns helfen! Sie ist stark in dir, das habe ich gesehen! Wenn wir nicht vorbereitet sind, wird das wirklich das Ende der Welt sein.« Er stupste sie mit seinem Finger an und stützte sich auf seinen Stock. »Oder zumindest unser Ende!«
Raven wich, entsetzt von seinem Geschrei, zurück und schaute sich um, um zu sehen, wer seine Tiraden gehört hatte, aber niemand schenkte ihnen große Beachtung. Sie trat einen Schritt näher an ihn heran. »Geht es Ihnen gut?«
»Sie kommen zurück. Beobachte den Horizont, achte auf roten Himmel. Die alte verräterische Warnung. Der Kampf ist noch nicht vorbei und deine Art muss diesmal den Weg anführen!« Er zischte die Worte und ballte seine Hand zu einer Faust. »Sag es den anderen und sag ihnen, dass Peter immer noch bereit ist zu kämpfen!
»Was kommt zurück? Gegen wen wollen Sie kämpfen?«
»Der Smithey-Hof! Erinnere dich an den Smithey-Hof!« Seine Augen füllten sich mit Angst und er klappte den Mund zu, starrte sie nur an. »Nein! Nein! Achte auf die Warnung!«
Raven presste sich frustriert den Handrücken auf den Mund. »Sie durchleben die Vergangenheit noch einmal, nicht wahr?«, fragte sie mit leiser Stimme. Sie klopfte ihm auf die Schulter und ging ein paar Schritte zurück, um ihn im Auge zu behalten.
»Sei wachsam. Nur so wirst du es rechtzeitig wissen. Versammle die deinigen, die, die so sind wie du. Ihr alle werdet gebraucht werden.«
»Das Motto des Tages: ein bisschen verrückt mit einer Prise ›sei vorsichtig‹.«
Der alte Mann setzte sich. Er atmete aus und zog den grünen Hut neben sein Holzbein. Er blickte Raven an. »Vergiss es nicht«, flüsterte er und starrte auf einige Kunden, die aus dem Buchladen strömten.
Raven trat einen weiteren Schritt zurück, schüttelte ihren Arm und versuchte, das Gefühl der Vorahnung loszuwerden. »Es ist der Beginn eines Abenteuers, aber was für eines? Zwei vermisste Hofarbeiter, eine Familie, die ihren Hof verlässt und ein alter Veteran, der sich in Rage redet. Das ist noch keine richtige Geschichte. Ich brauche mehr Informationen.« Sie drehte sich um und ging die Straße zurück zum Wagen. »Ich meine, bin ich eine Alby oder nicht?«
Als sie den Wagen erreichte, saß Deacon darauf und wippte mit dem Fuß. Presley war losgebunden und zog vorsichtig an den Zügeln. »Das wurde aber auch Zeit! Warum hast du so lange gebraucht? Hast du dich in deiner eigenen Heimatstadt verlaufen?« Er lachte und klopfte sich aufs Knie. »Der war gut.«
Raven starrte geradeaus. »Nein. Ich habe nur mit einem alten Mann geredet und«, es hat keinen Sinn, das zu erklären , »eine Pause gemacht. Meine Schulter hat mich geplagt.« Nicht mal gelogen .
Sie fuhren größtenteils schweigend zurück, wobei Deacon vereinzelt auf einen Rehbock deutete, der zwischen den Bäumen umherlief oder auf einen hin und her huschenden Fuchs. Raven versuchte, aufzupassen, war aber gedanklich noch damit beschäftigt, alle Aspekte des Tages Revue passieren zu lassen und sich einen Reim darauf zu machen. Als sie wieder auf dem Hof ankamen, hatten die anderen Arbeiter schon Feierabend gemacht. Raven sammelte die Rechnungen ein, während Deacon Presley zum Stall zurückbrachte. »Danke für deine Hilfe heute. Das weiß ich sehr zu schätzen«, bedankte er sich und führte Presley weg.
Raven winkte müde und mit den Taschen voller Münzen betrat sie das Haus. Ihr Großvater saß in der Küche, Rauch quoll aus der Pfeife in seinem Mundwinkel. »Hallo, Enkeltochter. Wie sind die Lieferungen gelaufen?«
»Gut. Nichts allzu Ungewöhnliches. Es gab eine Einberufung in der Stadtmitte.« Sie lud das Geld auf dem Tisch ab und ließ ein paar Münzen im Kreis rollen, bis sie am Rande des Tisches landeten.
Connor lächelte, ohne sie anzuschauen. »Wirklich? Früh in diesem Jahr. Danke, dass du Deacon Gesellschaft geleistet hast. Das war bestimmt nicht einfach.« Er starrte sie an. »Du siehst erschöpft aus. Geh dich hinlegen. Ich sorge dafür, dass du und Deacon eine kleine Belohnung für eure Mühen heute bekommt. Wirst du heute hier zu Abend essen?«
Sie nickte. »Später. Wir schulden dem Moss-Hof noch eine Lieferung. Ich dachte, ich bringe sie zuerst noch raus.«
Er beäugte seine Enkelin. »Du bist eine Magierin in Ausbildung, Raven. Lass dich nicht von einem Drachen blenden.«
»Was, neeee. Pfffft .« Sie schlug aus Protest in die Luft.
»Sei einfach vorsichtig und sei zurück, bevor es dunkel wird. Morgen ist Schule.«
»Falls es dunkel wird, verspreche ich, William dazu zu bringen, mich zu begleiten.«
Connor gab zögernd nach. »Pass auf dich auf und geh nicht in die Nähe der Mauer.« Er wackelte mit dem Zeigefinger in ihre Richtung und schaute schnell zurück auf die Quittungen. »Denk daran, was ich dir beigebracht habe. Nicht nur Magie, sondern auch, wie man kämpft.«
»Ich weiß, ein Gleichgewicht von allem. Auf diese Weise bist du nie völlig unvorbereitet. Ich erinnere mich.« Bevor er noch etwas sagen konnte, ging sie in ihr Zimmer zu der Kiste, die sie unter ihrem Bett aufbewahrte. Sie zog sie hervor und flüsterte: »Tantum enim mihi .« Ein Wirbel grünen Rauchs erschien an ihren Lippen, sie hielt die Schachtel hoch und blies den Rauch in das Messingschloss. Die Zuhaltungsstifte fielen mit einem ›Klick, klick, tink‹, an ihren Platz und der Deckel sprang auf.
Raven klappte ihn auf und schob einen verblassten, grünen Flicken, einige Sammelkarten mit Zeichnungen großer Magier der Vergangenheit und ein paar Stiele mit den seltenen blauen Blüten der Binsenlilie beiseite. »Da ist er«, murmelte sie zufrieden.
Sie schnappte sich einen kurzen Dolch in seiner Scheide und schloss die Schachtel vorsichtig. Sie hörte auf das vertraute klick, klick, tink , bevor sie die Schachtel wieder unter ihr Bett schob. Der Zauber war vollendet. Sie ging zurück in den Flur und blieb kurz stehen, um in die Küche zu schauen.
Raven besah den Dolch in ihren Händen und betrat den kleinen Raum. Sie legte den Dolch auf den Küchentisch aus gehämmertem Metall. Ein weiteres Familienerbstück aus einer längst vergangenen Zeit. »Bewaffnet und bereit, Opa. Ich kann ihn sogar mit nur einem guten Arm schwingen.«
»Gute Idee. Seltsame Zeiten und immer noch kein Zeichen von Isaac. Versuch deinen Tarnzauber unterwegs. Der könnte etwas Übung vertragen.« Er zögerte, als wollte er etwas sagen und hielt inne. »Sei zurück, bevor es dunkel wird oder lass dich von William begleiten.«
* * *
An dem Moss-Hof angekommen, ging sie durch das Tor und suchte die Umgebung nach William ab. Sie steuerte auf das zweistöckige Haus in der Mitte des Hofgeländes zu, um zu sehen, ob er schon zu Abend aß.
»Hey, ist Hausfriedensbruch nicht illegal?«
Raven schaute über ihre bandagierte Schulter und sah William mit einem großen Ledersattel über der Schulter dastehen. An der Seite war das Markenzeichen der Moss Zucht, zwei ineinander verschlungene ›Ms‹, in die Satteldecke eingebrannt.
»Ich bin auf dem Weg zu den Drachenställen. Willst du mitkommen?« Er grinste und winkte ihr, ihm zu folgen. »Blöde Frage. Ich sehe doch, wie du sie ansiehst. Komm mit, dann kannst du auch meinen sturen neuen Freund kennenlernen.«
Raven vergaß den Schmerz in ihrer Schulter, während sie neben William herlief und mit ihm plauderte. All die Neuigkeiten, die sie ihm hatte erzählen wollen, wurden in den Hintergrund gedrängt. Sie war auf dem Weg zu den Drachen.
William warf einen Blick auf ihre verletzte rechte Schulter. »Wie geht es der Schulter?«
»Noch dran und funktioniert irgendwie, was ich von dem Elfenarm nicht behaupten kann.«
William lachte und rückte den Sattel auf seiner Schulter zurecht. »Das überrascht mich nicht. Sind auf eurer Weide überall Elfen-Teile verstreut?«
»Nein, aber du könntest der Spur zurück zu seinem Versteck folgen.«
William nickte und lächelte. »Du hast es geschafft, die Brosche deiner Mutter zu behalten. Gut gemacht. Ich habe gehört, sie lieben glänzende Gegenstände fast so sehr wie Ziegenfleisch.«
Raven rieb mit einem Finger über den Rubinstein. »Ich habe ihm eine extra Portion Elfenfleisch genommen, für den Versuch, sie mir abzureißen.«
»Natürlich hast du das. Komm schon, Kriegsmagierin, hilf mir, das Tor zu öffnen. Schaffst du das auch mit einer vor der Brust gefesselten Hand?«
»Sehr witzig. Schuster, bleib bei deinen Leisten. Ich bin keine Kriegsmagierin«, antwortete sie und presste ihre Lippen aufeinander. »Jeder weiß, dass es sie schon seit Jahren nicht mehr gibt. Ich bin überhaupt kaum eine Magierin.« Raven bewegte die schweren Hebel, um das hohe Tor zu öffnen, stemmte ihr Gewicht gegen die übergroßen Schlösser und grub die Füße in den Boden.
Die Räder und Zahnräder klickten laut, Metall schabte auf Metall. Ein dumpfer Schmerz blühte in ihrer verletzten Schulter auf, aber sie ließ William nicht ihre Grimasse sehen.
Sie kamen zu einer großen Freifläche, weit genug von anderen Gebäuden oder Bäumen entfernt und erreichten ein Gehege für die Drachen. Sie hielten an einem Verschlag mit einem Drachen von der Größe dreier Pferde. Das junge Männchen war ein gigantisches Tier, aber immer noch klein für einen Drachen, der für den Kampf ausgebildet werden sollte.
William legte seinen Sattel über einen Holzständer, öffnete den Verschlag und näherte sich dem blau-silbernen Drachen vorsichtig. Er hielt dem Tier seine Handflächen entgegen. Dieses setzte sich auf seine Hinterbeine und wickelte seinen langen, schuppigen Schwanz um den Körper.
Der Drache schnaubte. »Du darfst eintreten.«
»Okay, Fallon, Zeit unserer Begleitung zu zeigen, was du drauf hast. Ruhig, Junge.« Fallon krallte sich in den Boden und flatterte mit seinen dicken, ledernen Flügeln. Dampf strömte aus seinen großen Nasenlöchern.
Raven stieg auf einen Hocker, um sich den Stall anzusehen und lehnte sich dagegen. »Seine Haut schimmert sogar«, sagte sie verzückt.
William zog dem Drachen geschickt ein Halfter über den Kopf und streichelte sanft seinen Hals. Die überlappenden Schuppen an seinem Nacken hatten die gleiche Größe wie Williams große Hand. »Er wird mit zunehmendem Alter ein immer tieferes Blau annehmen«, erklärte er leise, während er seine Aufmerksamkeit auf das große Tier richtete. »Okay, tritt zurück, damit ich ihn in den Ring führen kann und dann können wir ein bisschen Spaß haben.«
Raven sprang vom Hocker und ging den breiten, zum Himmel offenen Mittelgang hinunter, bis sie ganz am Ende angelangt war. William öffnete das Tor und führte Fallon aus dem Stall. Sobald sie sich von der Tür entfernt hatten, zog Fallon an den Zügeln und bäumte sich auf seine Hinterbeine auf.
»Whoaaaa! Okay, Fallon!« William hielt sich fest und stellte sich auf die Zehenspitzen, um die Kontrolle zu behalten.
Fallon hauchte einen Feuerstrahl aus und reckte seinen Hals, als die Flammen in die Luft stiegen. Er krümmte seinen Hals und sah Raven an. Seine großen haselnussbraunen Augen blinzelten ruhig, während er sie anstarrte.
»Wer ist das?«, fragte der Drache.
»Raven Alby, schön, dich kennenzulernen.«
»Ich hätte es wissen müssen. Eine sture magische Kreatur erkennt die andere«, schnaubte William, der sich immer noch festhielt. »Ich habe noch nie gesehen, dass Fallon jemanden so ansieht.« Der Drache brüllte und fletschte die Zähne, woraufhin William mit einem Ruck das Halfter herunterzog. »Okay, okay, wir wissen, dass du ein harter Kerl bist. Lass uns in den Ring gehen.«
Raven sah fasziniert zu, wie William den Drachen zum Ring führte und ihn mit einer langen Leine in der Mitte anband. Raven kletterte auf den Zaun und setzte sich hin. Sie atmete flach und beobachtete, wie der Drache mit den Klauen auf den Boden schlug. William winkte mit seinen Händen in unterschiedliche Richtungen und malte verschiedene Muster in die Luft, auf die der Drache reagierte, indem er flog und wieder landete, sich nach links oder rechts drehte.
»Was denkst du?«, rief er Raven zu, als Fallon über ihm kreiste. Raven grinste, johlte und jubelte.
»Ha! Vorsicht, sonst fragt sich meine Familie, ob eine Alby versucht, sich in das Drachengeschäft einzumischen.«
»Bitte. Ich glaube, deine Familie sieht mich hier lieber als dich.«
»Wenn du meinst, dass das der Fall ist, dann geh und trainiere mir ein paar Drachen, damit sich deine Anwesenheit lohnt.«
Sie lachte und legte ihren Kopf zurück.
»Es geht voran. Fallon ist noch jung und dickköpfig. Bis jetzt konnte ich noch nicht auf ihm bleiben. Wir sperren die Jungtiere von der Hauptweide weg, während wir mit ihnen arbeiten. Sieh dir das an.« William winkte mit der Hand und der Drache bäumte sich auf, neigte seinen Kopf zum Himmel und stieß ein mächtiges Brüllen aus, das das Tor des Geheges erzittern ließ. Raven spürte es unter sich im Zaun.
»Guter Junge!«, jubelte William. »Er ist klein …«
»Das nennst du klein?«
»Aber es ist großes Potenzial dahinter. Warte, ich werde ihn zum Rest seines Clans rauslassen.«
Der junge Mann führte Fallon zu einem anderen Tor auf der gegenüberliegenden Seite des Geheges und öffnete es, damit sie einen langen, eingezäunten Weg entlanggehen konnten. Raven hüpfte hinunter und folgte ihnen.
Das Tor am Ende des Weges öffnete sich auf eine zehn Hektar große Weide. »Geh zur Seite«, rief William. »Du willst ihnen nicht im Weg sein, wenn sie hier durchstürmen.« Raven trat vom Weg ab, als William zwei Finger in den Mund steckte und einen langen, tiefen Pfiff ausstieß.
Der Drache hüpfte den Rest des Weges hinunter, wobei seine Füße den Boden bei jedem Schritt heftig erschütterten, bis er die offene Fläche erreichte. Dort angekommen, brüllte er erneut und zwei ausgewachsene Drachen, doppelt so groß wie Fallon, trabten herbei, um ihn zu begrüßen.
»Ist das seine Familie?« Raven zeigte auf die größeren Drachen.
»In gewisser Weise. Drachen leben in Rudeln und sind einander treu. Da kommen noch ein paar mehr. Man nennt sie Clans, wenn sie sich miteinander verbunden haben. Fallon wird in diesen Clan adoptiert.« Er zeigte in die Ferne. »Wenn du genau hinsiehst, kannst du zwei andere Gruppen sehen, die sich über das Gelände verteilen. Einige von ihnen sind blutsverwandt. Die Mütter säugen ihre Jungen und die Väter zeigen den Kleinen, wie man überlebt.«
Er warf einen Blick zurück auf Fallon und die Gruppe der Giganten. »Fallon ist ein Waisenkind. Er wurde verlassen in einem tiefen Minenschacht gefunden. Wir wissen nicht, ob er dort heruntergeworfen wurde oder hineingefallen ist. Er war zu jung, um sich selbst zu befreien.« Er deutete auf den rechten Flügel und eine kaum sichtbare rote Linie entlang des Kammes. »Es hat nicht geholfen, dass sein Flügel gebrochen war, aber wir haben ihn rausgeholt und hierhergebracht. Er hat sich zu einem festen Bestandteil des Clans entwickelt.«
»Sitzen die nicht alle hier drin fest? Wie verhindert ihr, dass sie einfach wegfliegen?«
William lachte. »Training und ein alter Zauber, der von Generation zu Generation weitergegeben wurde und dieses Land bedeckt. Es ist eine Kombination aus beidem, damit sie auf dem Grundstück frei herumlaufen können. Ich bringe ihnen bei, Befehle zu befolgen, aber sie haben immer noch ihre Instinkte und ihre eigenen natürlichen Neigungen. Es ist, als hätten wir eine Abmachung getroffen, zusammenzuarbeiten. Aber man sollte nie vergessen, dass sie wilde Tiere sind und immer noch so handeln, wie sie es auf der offenen Ebene oder in den Bergen tun würden. Gefährlich und gerissen, aber gesellig. Ehrlich gesagt, klingt das sehr nach der Familie meines Onkels.«
Raven war beeindruckt. »Das ist tatsächlich ziemlich schlau.«
»Sie sind geniale Geschöpfe. Das macht es manchmal so schwer, sie zu trainieren. Aber wir geben unser Bestes.«
»Was ist das da drüben?« Sie zeigte auf einen verkohlten, schwarzen Teil der Weide.
William runzelte die Stirn. »Lass uns nachschauen gehen. Bleib einfach dicht bei mir.«
Zwei der Drachen hoben ihre Köpfe und beobachteten, wie sie zu den verbrannten Flecken schritten.
Als sie sich dem geschwärzten Gras näherten, hob Raven die Augenbrauen und nickte mit einem zufriedenen Lächeln. »Schön!« Sie berührte sanft ihre verletzte Schulter.
Ein verkohltes Skelett mit gekrümmter Wirbelsäule und dickem Schädel lag im geschwärzten Gras. »Das ist ein Elf, nicht wahr?«
William lachte. »Ich habe dir ja gesagt, dass wir hier nicht viele Elfen haben. Hier siehst du den Grund. Gelegentlich schleicht sich einer von ihnen hier durch, nur dass diese Jungs keine Eindringlinge dulden. Deshalb habe ich dir gesagt, dass du bei mir bleiben sollst. Aber sie wissen, dass ein Elf nicht freundlich ist, also haben sie sich um diesen hier gekümmert.«
Raven spürte einen warmen Luftzug in ihrem Nacken. Sie drehte sich um und sah zwei blaue Drachen, die sie überragten und ihre tiefgrünen Augen zusammenkniffen, als sie sich zu ihr beugten und ihren Duft einatmeten.
»William?«
»Ist schon gut. Ich kann sie dazu bringen, zu gehen.« Er hob die Hand, in der Hoffnung, ihre Aufmerksamkeit zu erregen, aber die beiden Drachen ignorierten ihn und beugten sich weiter vor, um auf Raven herabzustarren.
»Wer ist diese Kreatur? Riecht nach Magierin.« Der Drache neigte seinen Kopf von einer Seite zur anderen. Seine Stimme kam aus dem Inneren seiner Brust.
Ravens Augen weiteten sich beim Klang der tiefen Stimme, aber sie begegnete dem Blick der Drachen und blieb regungslos.
»Geh weiter, Ridgely«, forderte William mit strenger Stimme.
»Diese hier ist anders«, sagte Ridgely, beugte sich hinunter, um an ihrem Kopf zu schnuppern und sah den anderen Drachen an. Raven reichte kaum bis zu seinem Knie.
»Schon gut, wenigstens hat er nicht ›in Ausbildung‹ gesagt.«
»Warum hören sie nicht auf mich? Ridgely, Lincoln, kommt schon. Macht mit dem weiter, was ihr bis gerade getan habt.« Er winkte mit den Händen, pfiff und versuchte, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.
Lincoln richtete sich zu seiner vollen Größe auf und brüllte: »Wir sind keine Hunde.«
Ridgely stampfte mit dem Fuß auf und schaute zum Horizont.
William schob Raven hinter sich und richtete sich so hoch wie möglich zu den Drachen auf. »Mach dich bereit zu rennen«, sagte er mit zitternder Stimme. »Wenn sie nicht auf mich hören, könnte als Nächstes ein Angriff kommen.«
Raven trat hinter William hervor, stemmte ihre Hand in die Hüfte und ging jeden Schutzzauber durch, den sie kannte, bereit, die Worte auszusprechen. Die beiden Drachen beugten ihre langen Hälse, bis sie auf gleicher Höhe mit Raven waren und ihr in die Augen starrten. »Ich dachte, deine Art wäre tot«, grübelte Lincoln. »Interessant.«
»Zurück«, sagte William gleichmütig. Die beiden Drachen sahen ihn an und lächelten, wobei sie ihre erste Zahnreihe zeigten. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, drehten sie sich mit fließenden Bewegungen um und flogen mit kräftigen Flügelschlägen zu einem entfernten Teil der Weide.
William ließ seine Hände fallen. »Das war seltsam. Ich kannte Drachen bisher in zwei Verfassungen. Entweder sie bereiten sich auf einen Angriff vor oder sie hören auf mich.« Er kratzte sich am Kopf. »Diesmal haben sie weder das eine noch das andere getan.« Er ging in die Hocke und atmete tief durch, dann stand er abrupt auf und nahm Raven am Ellbogen. »Lass uns von hier verschwinden. Was für ein komischer Tag – warte nur, bis ich meinem Vater davon erzähle.«
Raven ließ sich von ihm weiterschieben, blickte jedoch immer wieder über ihre Schulter zurück. »Ja, ein komischer Tag.«