Kapitel 13

R aven stapfte nach Hause, durchlebte die Verkündung noch einmal und ärgerte sich über die Reaktion der anderen. Sie ging an ihrem Großvater vorbei, der abgelenkt schien, warf sich auf ihr Bett und starrte an die Decke. Schließlich schlief sie ein und träumte, hoch über dem Boden zu fliegen und die Wärme eines Drachengesichts in ihrem zu spüren.

Am nächsten Morgen stand Raven mit den ersten Sonnenstrahlen auf und nachdem sie die Ziegen gefüttert hatte, lud sie die Milchkannen auf den Wagen. Die Feier schien bereits eine ferne Erinnerung zu sein, wenngleich die Schmach noch da war.

Sie klatschte in die Hände und der Klang hallte über das offene Hofgelände. »Los geht’s, Deacon! Zeit für die Lieferung!«

Der Hofarbeiter kam ein paar hundert Meter entfernt aus einem Schuppen und klopfte sich mit den Händen den Staub des frisch gemähten Weiderichs von der Hose. Er rückte den breitkrempigen Hut auf seinem Kopf zurecht und ging mit einem amüsierten Grinsen über den Hof zum Wagen. »Ein bisschen unruhig heute Morgen?«

Sie ignorierte den verbalen Seitenhieb und hoffte, dass er nichts von ihrer ausgebliebenen Verkündung mitbekommen hatte. Sie hievte zwei weitere Krüge auf den Wagen. »Ich habe heute eine Menge zu tun. Eigentlich habe ich jetzt fast jeden Tag eine Menge zu tun. Keine Zeit zu warten. Sobald die Sonne aufgeht, muss ich arbeiten. Wenn wir uns nicht beeilen, komme ich zu spät zur Schule.«

Deacon ging um den Wagen herum und begrüßte Presley, indem er ihre lange Schnauze streichelte und der Stute Kussgeräusche zuwarf. »Hallo, Presley. Bereit für einen Spaziergang? Weißt du, Raven, ich bin selbst ein hart arbeitender Mann, aber du springst herum, als würden wir gejagt werden. Stimmt etwas nicht?«

Raven stellte die letzte Kanne auf den Wagen und sah ihn nicht an. »Nein. Ich muss nur vorankommen. Der Tag hat einfach nicht genug Stunden.« Sie sprang auf den Wagen, setzte sich auf die Bank und hielt die Zügel des Pferdes fest.

»Hat er nie.« Deacon stöhnte, als er neben sie kletterte. »Diese alten Knochen. Ich weiß, dass du es eilig hast, aber gib mir die hier. Du wirst nicht fahren.« Er riss ihr die Zügel aus den Händen und wies Presley an, loszulaufen.

Schwere, graue Wolken hingen am Himmel. Deacon blinzelte zu ihnen hinauf. »Die Brise ist etwas kühl und die Wolken ziehen schnell. Es würde mich nicht wundern, wenn wir heute ein bisschen Regen bekämen.« Er schnalzte mit der Zunge. »Wir können ihn auch gebrauchen. Das macht die Arbeit zwar etwas schwieriger, aber die Weiden werden dadurch auch ein wenig grüner.«

Raven verschränkte die Arme vor der Brust und blickte in den Himmel. »Das hoffe ich nicht. Wir brauchen den Regen, aber das wird heute eine Menge Arbeit aufschieben.« Sie klopfte mit dem Fuß auf das harte Holz unter ihr.

Deacon schaute sie an und beobachtete ihr Gesicht, während sie geradeaus starrte. »Bist du sicher, dass es dir gut geht?«

»Mir geht’s gut. Ich muss nur noch ein paar Aufgaben für die Schule erledigen. Ich weiß nicht, wie lange das dauern wird. Also je eher wir hiermit fertig sind, desto früher kann ich mich daran machen, den Rest meiner Aufgaben zu erledigen.«

»Ihr Akademiker seid alle gleich.« Er lachte leise. »Als ich ein Kind war, hing ich mit meinem Cousin Bishop herum. Ein lustiger Kerl. Wir sind überall herumgerannt und haben uns sogar an der Mauer geprügelt. Einfach idiotischer Jungenkram. Er war einer meiner besten Freunde. Dann fing er bei Fowler an und hörte auf, Zeit mit mir zu verbringen.«

Raven warf ihm einen verwirrten Blick zu. »Dachte er, er sei zu gut für dich oder so?«

»Nein.« Deacon zerrte an den Zügeln in seiner linken Hand und lenkte Presley vom Straßenrand weg. »Er hatte einfach zu tun. Sie haben in Fowler so eine Art, dein Leben zu übernehmen.« Er hielt inne. »Ich sage nicht, dass das etwas Schlechtes ist. Vergiss nur nicht den Rest deines Lebens, weißt du? Du darfst dich nicht so sehr auf die Arbeit konzentrieren, dass du vergisst, zu leben.« Er stieß sie mit dem Ellbogen an. »Dein Opa hat mir von deiner Schulter erzählt.«

»Ja? Was hat er dir erzählt?« Sie schaute ihn an und versuchte, ihre Überraschung zu verbergen.

Ich könnte sagen, dass ich den Spruch herausgefunden habe. Das könnte funktionieren.

Deacon öffnete seinen Mund zu einem zahnlückigen Lächeln. »Du weißt nicht, was mit deiner eigenen Schulter passiert ist?«

Raven schüttelte den Kopf. »Nein, das ist es nicht. Ich weiß nur, dass manchmal die Fakten durcheinandergeraten, wenn man es jemandem weiter erzählt.«

»Er sagte, es sei nur eine Fleischwunde gewesen. Die Salbe hat ihre Arbeit getan.« Er blinzelte und tippte sich an die Seite der Nase.

»Ja, ich war auch überrascht.« Sie versuchte, überzeugend zu klingen. »Diese Tinktur wirkt Wunder.«

Der Eingang zur Stadt Brighton erschien immer größer, während sie den Weg entlang fuhren. Deacon fuhr fort: »Das werde ich nicht bestreiten. Als Jugendlicher wurde ich von einem fiesen Opossum angegriffen. Meine Mutter hat schnell reagiert, hat die Wunde gesäubert und die Tinktur reingekippt. Es tat so weh, dass ich fast vor ihr geflucht hätte, was zu Schmerzen geführt hätte, die nicht einmal die Kräutertinktur beheben könnte!«

Er stieß ein lautes Lachen aus und warf den Kopf zurück. »Komisch, dass du dachtest, es sei schlimmer als eine Fleischwunde. Weißt du noch? Du hast mir erzählt, dass sich der Pfeil in deine Schulter gebohrt hätte. Du hast gesagt, dein Heilzauber würde das nicht beheben.«

Raven schaute auf ihre Hände und vermied den Blickkontakt, während sie die Finger in ihrem Schoß aneinander tippte. »So hat es sich auch angefühlt. Diese Fleischwunden können dich täuschen. Das kommt vor.«

Deacon sah geradeaus. »Ja, das kommt vor. Presley bleibt heute auf Kurs. Ich bin beeindruckt.«

»Ich habe ihr eine Handvoll Hafer gegeben, bevor wir losgefahren sind. Ich wollte sie satt machen, damit sie sich nicht ablenken lässt.«

Er zog überrascht eine Augenbraue hoch und beugte sich vor, um ihr einen fragwürdigen Seitenblick zuzuwerfen. »Okay. Ich hoffe, du hast ihr nicht zu viel gegeben. Hinter einem überfütterten Pferd möchte man sich nicht für längere Zeit aufhalten.«

»Hey, kann ich dir eine Frage stellen, bevor wir in die Stadt kommen?«

»Was denn?«

»Als wir das letzte Mal ausgeliefert haben«, begann sie zögernd, »haben wir über das ständige Nutzen von Magie gesprochen. Du hast etwas darüber gesagt, dass das zu Dunkelheit führt. Erinnerst du dich daran?«

Er atmete scharf durch die Nase ein. »Ja.«

Sie hielt inne, um ihm die Chance zu geben, mehr zu sagen, aber er ließ sich nicht darauf ein. »Und? Was ist diese Dunkelheit? Was hat die Magie mit ihr zu tun?«

Deacon gab den Zügeln einen kräftigen Ruck. »Halt dich fest.« Presley bog scharf nach rechts ab, damit sie in die Stadt gelangen konnten. »Alles, was du tust, hat eine Auswirkung auf etwas anderes, Kleine. Selbst wenn du Magie einsetzt, um Gutes zu tun, um anderen zu helfen, leitest du damit eine Reaktion ein, die vielleicht nicht die ist, die du dir wünschst. Es gibt eine Art uns von der Natur auferlegtes Gleichgewicht, das wir halten müssen.«

Der Wagen erreichte den Stadtrand, Deacon lenkte Presley an den Straßenrand und sprang herunter, um sie an einen Pfosten zu binden. Raven hüpfte vom Wagen und machte sich auf den Weg nach hinten.

»Du bist ein wissbegieriges Mädchen, Raven. Wenn du etwas darüber lernen willst, musst du im Unterricht gut aufpassen. Ich bin sicher, deine Professoren wissen mehr als ich.«

Raven beobachtete ihn genau und fragte sich. Was weißt du noch? Sie hob zwei Kannen an und ging in Richtung Bäckerei. Sie staune, wie gut ihre Schulter funktionierte.

Nachdem sie die Milch abgeliefert hatte, kehrte Raven zum Wagen zurück. Deacon wartete bereits auf der Bank und beobachtete den Horizont.

»Der alte Biggs hat versucht, eine Extrakanne herauszuschlagen«, sagte sie. »Bei jeder Lieferung dasselbe Lied.«

Raven kletterte hoch und setzte sich neben ihn, während er an den Zügeln ruckte und der Wagen vorwärts rumpelte, in Richtung Stadtzentrum.

Sie erreichten die Mitte der Stadt, die viel weniger bevölkert war als bei ihrer letzten Auslieferung.

»Gut, keine Einberufung heute«, murmelte Deacon.

»Was ist das für ein Aufruhr da vorne? Ist das nicht Mary Thames?« Raven zeigte auf das andere Ende des Platzes, wo Mary Thames ihren kleinen Sohn Tyler in die Arme schloss.

»Was macht sie außerhalb ihres Hofes?« Deacon ließ Presley anhalten. Er blickte noch einmal zu der Frau hinüber, stieg dann aber ab und ging nach hinten. »Lass uns einfach weiter an den Lieferungen arbeiten. Du hast doch gesagt, dass du heute viel zu tun hast, oder?«

»Mhm«, antwortete Raven, abgelenkt. Sie stieg vom Wagen und beobachtete Mary und das Kind weiter. Der Junge hob seinen Kopf von ihrer Schulter und schaute zu den Leuten um sie herum, die es nach Möglichkeit vermieden, mit den beiden zu sprechen.

»Konzentriere dich, Raven!«, rief Deacon und schleppte zwei Kannen Milch die Straße hinunter zu einer Schusterwerkstatt.

Sie zog zwei Kannen vom Wagen und machte sich auf den Weg zum Streithammel , wobei sich ihre Augen schnell an das schwache Licht in der Taverne gewöhnten. Zeke schaute hinter der Theke auf, ein nasses Glas in der Hand. »Du versuchst, deine Lieferungen vor dem Regen fertig zu bekommen, was, Raven?«

»Heute gibt es viel zu tun, Zeke.« Sie nickte in die Richtung der Kneipenhocker. »Sieht so aus, als ob sie heute etwas ruhiger sind.«

Zeke lächelte kurz und zog die Kannen von der abgenutzten Theke. »Manchmal brauchen sie einfach jemanden, der sie zum Schweigen bringt. Ich wünsche dir einen schönen Tag. Bleib trocken.«

Auf dem Weg nach draußen winkte Raven den verbrauchten Zauberern zu, die hinten am Tisch saßen. Sie lächelten ihr zu und einer von ihnen hob seinen Becher zum Gruß. Ein großgewachsener, verhutzelter, alter Mann klopfte auf den leeren Stuhl neben sich und warf ihr einen düsteren Blick zu.

»Ich werde ihn noch dazu überreden!«, versprach sie.

Sie ging um den Brunnen auf dem Platz herum und kickte gegen ein abgebrochenes Stück Ziegelstein. Mary und Tyler kamen von der anderen Seite des Platzes herüber. »Hast du unseren Hund Willie gesehen?«, fragte Mary den Fletcher-Jungen, dessen Hof nicht weit vom Moss-Hof entfernt war. Er trug Feuerholz auf seinem Rücken und schüttelte im Weitergehen den Kopf.

Die Frau runzelte betrübt die Stirn. »Er war ein großer weiß-braun gefleckter Rinderhund und hört auf den Namen ›Willie‹. Weiß irgendjemand etwas?« Ihre Stimme brach vor Frustration.

Raven schlängelte sich um die vorbeifahrenden Karren und rief: »Frau Fletcher, was ist los?«

Mary neigte ihren Kopf und seufzte erleichtert. »Endlich jemand, der zuhört.« Sie umklammerte Tylers Hinterkopf, zog ihn näher zu sich heran und verlagerte sein Gewicht. »Unser Viehhund Willie ist verschwunden. Er war unser bester Hund! Ich sage dir, er würde nie weglaufen. Niemand hat etwas gesehen und so groß ist die Stadt nicht.«

Tyler hob seinen Kopf und sah Raven mit Tränen in den Augen an. Der Anblick brach ihr das Herz. »Armer kleiner Kerl. Ich werde nach ihm Ausschau halten. Unsere Hunde sind dafür bekannt, dass sie gerne mal einem Fuchs hinterherlaufen, aber dann tauchen sie immer wieder auf.«

Mary schüttelte energisch den Kopf. »Nicht dieser Hund. Er ist über Nacht verschwunden und das würde er nie tun. Er ist ein Wachhund, hat in der Scheune geschlafen. Irgendetwas hat ihn mitten in der Nacht geweckt.«

Sie zeigte mit dem Finger auf Raven und flüsterte: »Das passiert, wenn Eindringlinge kommen. Selbst dann macht er so viel Lärm, dass mein Mann rausläuft, um sich darum zu kümmern.«

Sie schüttelte erneut heftig den Kopf. »Nein, er würde nicht von sich aus weglaufen. Jemand hat ihn mitgenommen.«

Raven griff nach oben, straffte ihren seidigen roten Pferdeschwanz und suchte in ihrem Kopf nach möglichen Erklärungen. »Ich weiß, dass die Elfen in letzter Zeit viel herumgeschnüffelt haben.«

Mary schloss ihre Augen und schüttelte wieder den Kopf. »Willie konnte mit Elfen umgehen. Einmal hat er zwei auf einen Streich erledigt. Nein, das waren keine Elfen.«

»Und es gibt keine Beweise für irgendetwas? Er ist einfach verschwunden?« Raven rieb über den Rand ihrer Brosche.

Die Frau seufzte. »Wir haben Blutspritzer an der Außenseite der Scheunentür gefunden.« Ihr Gesicht verzerrte sich vor Schmerzen. »Wir wissen nicht, von wem, aber es muss Willies sein.«

Deacon erschien aus dem Nichts und zerrte an Ravens Arm. »Komm schon, Raven. Wir müssen unsere Lieferungen beenden.«

Mary packte ihren anderen Arm und beugte sich vor. »Sei vorsichtig. Halte Ausschau. Wenn sie Willie mitnehmen konnten, können sie auch dich mitnehmen.«

Deacon fuhr zusammen, aber er hob die Hand und nickte der Frau zu. »Danke, Mary. Das mit deinem Hund tut mir leid. Komm schon, Raven.« Er eilte zum Wagen.

Raven stolperte, um ihn einzuholen und sie kletterten zurück auf den Wagen. Als der Wagen die Straße hinunterrollte, murmelte Raven vor sich hin: »Blutspritzer.«

»Hm?«

»Deek, was glaubst du, ist mit dem Hund der Frau passiert?«

Er zuckte mit den Schultern und schaute auf die Straße. »Er ist wahrscheinlich weggelaufen oder so. Es ist ein Hund, Raven. Hunden passiert ständig irgendetwas.«

Sie schaute über ihre Schulter und beobachtete, wie Mary und Tyler von Person zu Person gingen und sie mit Fragen löcherten. »Aber warum besteht sie so sehr darauf, dass jemand ihn entführt hat? Warum ist sie so überzeugt?«

»Wer weiß? Vielleicht hat sie nicht gut geschlafen. Vielleicht ist sie verrückt, weißt du? Davon gibt es da draußen auch viele.« Er hielt Presley für ihre nächste Lieferung an.

»Aber sie …«

»Raven, es ist ein Hund !«, schnauzte er. »Hunde laufen weg. Hunde werden angegriffen. Vielleicht war es ein wirklich schlauer Elf oder etwas anderes – ein anderes Tier. Es gibt eine Milliarde verschiedener Erklärungen, ohne dass wir uns auf Verschwörungen einlassen müssen.«

»Ich habe nie etwas von einer Verschwörung gesagt.« Sie spürte ein Kitzeln in ihrem Nacken. Was sagt Opa immer? Die offensichtlichste Antwort … »Deacon, was ist mit …«

Er warf ihr einen kalten Blick zu und sie brach mitten im Satz ab. Stattdessen nickte sie stumm, sprang vom Wagen und schnappte sich zwei weitere Kannen. Das Gefühl, dass die Antwort genau dort lag, wo sie sie vermutete, jagte ihr einen Schauer den Rücken hinunter.