Kapitel 16

A ls der Unterricht für den Nachmittag beendet war, stieß Raven die Tür des hohen Gebäudes auf, das an einer Seite des alten Schlosses angebaut war und in dem sich die meisten Klassenzimmer und Zauberlabore befanden. Es lag gleich vor den Viehställen, auf der einen Seite nahe dem Rand der Obstgärten und dem Wald dahinter, der sich in Richtung Stadt schlängelte und die Stadtmauer umgab.

Raven trat hinaus in die taufrische Luft. Gott sei Dank, der Regen hatte aufgehört.

Sie lief den Weg zum Tor hinunter und warf einen Blick auf die Scheunen. »Dort muss ich bald mal einen Besuch abstatten.«

Henry rief vom oberen Ende der Treppe: »Raven! Warte auf mich!«

Verdammt noch mal. »Was?«, rief sie zurück.

Henry hüpfte zwei Stufen auf einmal nehmend hinunter, bis er in eine große Pfütze am Boden platschte. Das Wasser spritzte in alle Richtungen und durchnässte Elizabeth Kinsleys Tunika.

»Derks, was zum Teufel?« Elizabeth stand mit ausgestreckten Handflächen da, die Fledermaus flatterte über ihr. Ihre tiefblauen Augen blickten unter ihrem dunklen Pony hervor und ihre Stirn war frustriert gerunzelt.

»Ich habe dich gar nicht gesehen!« Henry eilte an Elizabeths Seite, zog sein immer noch feuchtes Hemd aus und bot es ihr an. Darunter befand sich ein ebenso nasses zweites Hemd.

Sie verschränkte die Arme und beugte sich vor, sodass Henry einen Schritt zurücktrat und das Hemd immer noch in der Hand hielt. »Derks, ich muss heute Abend in der Stadt arbeiten. Ich habe keine Kleidung zum Wechseln dabei.« Sie deutete auf den dunklen Teil ihrer grünen Tunika, in den das Wasser eingedrungen war und sich langsam ausbreitete. »Ich werde die ganze Nacht klamm sein.«

Elizabeth schlang ihre blassen Finger um den vorderen Teil des Hemdes, das er immer noch trug und zerrte ihn mit einem Ruck zu sich heran. Henry ließ sich mit großen Augen von dem spindeldürren Mädchen ziehen. »Bring das in Ordnung!«

Raven sah ihn an, dann zu den Scheunen. »Henry, denk an deinen Plan. Unter dem Radar.« Raven blickte rechtzeitig zurück, um den Flügel eines silbernen Drachen an einem Scheunenfenster vorbeifliegen zu sehen. Sie klopfte auf die Brosche an ihrer Tunika und lächelte fasziniert. Drachen.

Henry begann zu stottern. »Es tut mir leid, Elisabeth. Ich bin diese ganzen Pfützen nicht gewohnt, weißt du?«

Sie blinzelte ihn an. »Das ist keine Lösung für heute Abend!«

Er griff in seine Tasche. »Hey, ich sag dir was. Hier sind ein paar Münzen. Kauf dir heute Abend eine warme Mahlzeit auf mich.«

Er holte einen kleinen Beutel aus Sackleinen hervor, der mit einer Schnur zugebunden war.

Elizabeth löste ihren Griff an seinem Hemd, griff nach dem Beutel und zog eine Augenbraue hoch, während sie ihn in ihrer Handfläche streichelte und die Münzen darin klirren ließ. »Geh.«

»Danke!« Henry verschwendete keine Zeit, drehte dem Mädchen den Rücken zu und sprintete zu Raven.

Raven lenkte ihre Aufmerksamkeit von dem leeren Fenster ab und lächelte ihn an. »Gute Arbeit.«

»Ich habe sie da nicht stehen sehen!«, keuchte Henry und zog sein feuchtes Hemd wieder an.

»War das nicht dein Essensgeld für diese Woche?« Raven sah an ihm vorbei zu Elizabeth, die ihren Pony zur Seite strich. Die Fledermaus schwebte in der Strömung um sie herum. »Das ist ein furchterregendes Mädchen.«

»Ich habe dir gesagt, dass wir alle das richtige Krafttier auswählen.« Henry schluckte. »Ich dachte, das war’s. Sie würde mir die Kehle durchschneiden und ich wäre tot. Ich glaube, mein ganzes Leben ist vor meinen Augen vorbeigezogen.«

Sie klopfte ihm auf die Schulter. »Es geht dir gut, großer Mann. Ist Maxwell okay?«

»Maxwell!« Henry griff in seine Tasche und zog die behäbige Kröte heraus, die froh war, das Sonnenlicht zu erblicken.

»An deiner Theorie ist wirklich etwas dran, Henry. Krafttiere sind genau wie ihre Meister.«

»Was uns Rose heißt, wie es auch hieße, würde lieblich duften«, deklamierte er und rieb Maxwell den warzigen, grünen Kopf.

Raven lächelte ihn an. »Ich muss jetzt zum Moss-Hof gehen. Was wolltest du machen?«

Er ließ die Schultern hängen. »Ich hatte gehofft, wir könnten etwas zu essen holen und auf die Wiesen gehen. Das haben wir schon lange nicht mehr gemacht.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht und ich werde es auch eine Weile nicht können. Jede freie Zeit, die ich habe, werde ich auf dem Moss-Hof verbringen. Die Uhr tickt.«

Henry warf seiner Freundin einen langen Blick zu. »Du bist fest entschlossen, Drachentrainerin zu werden, nicht wahr?«

Sie streckte ihr Kinn vor. »Ich kann mir aussuchen, wer ich bin.«

Er nickte feierlich. »Du hast recht und Maxwell und ich stehen voll hinter dir. Vergiss uns nur nicht. Lass etwas Raum für die Wiesen.«

»Ich werde mein Bestes geben. Geh und frag Jenny. Vielleicht geht sie mit dir. Wir sehen uns morgen an meinem Tor. In aller Frühe.«

Raven lief los, während Henry sich umdrehte, um Jenny die Treppe hinuntergehen zu sehen. Er hatte vergessen, sich zu verabschieden.

Raven rannte über die kleine Brücke und durch den Wald, um schließlich die Stadt zu durchqueren, während ihr Fragen im Kopf herumspukten.

Werde ich sofort Magie einsetzen müssen? Werde ich genug in mir haben? Welche besonderen Fähigkeiten würde mir ein Drache bringen?

Ihre Füße spritzten durch schlammige Pfützen, obwohl sie sich Mühe gab, ihnen auszuweichen. Sie winkte der Bäckersfrau im Vorüberlaufen zu.

»Brötchenreste, Raven?«, rief Frau Whittaker.

»Nächstes Mal!«, gab sie zurück, fast außer Atem, aber immer noch rennend. Der alte Veteran schlief auf seiner Veranda, schnarchte und zuckte. Samuel Jones wischte sich die Hände an seiner blutverschmierten Schürze ab, als er die Straße überquerte, um sich mit Jacob Lane zu unterhalten. »Hier, lass mich dir damit helfen.« Gemeinsam rollten sie Fässer mit Weizen und Reis zurück in den Laden.

Sie kam zum Brunnen im Stadtzentrum und sah die Anschlagtafeln. Plakate mit Vermissten wehten in der Brise. Langsam füllte sich die Tafel, ein paar Namen aus anderen Städten des Königreichs kamen dazu.

Sie wurde langsamer und warf einen Blick auf die flatternden Papiere, dann nahm sie ihren Sprint wieder auf. Es dauerte nicht lange, bis sie den Stadtrand erreicht hatte und ihre Energie fast aufgebraucht war.

Raven atmete schwer, als sie sich dem Tor des Moss-Hofs näherte. Sie verlangsamte ihren Schritt und blieb schließlich vornübergebeugt stehen, die Hände auf den Knien aufgestützt, um zu Luft zu kommen. »Fast geschafft.« Sie richtete sich auf, schob eine lockere rote Haarsträhne hinter ihr Ohr, holte einmal tief Luft und wollte wieder loslegen.

William trat mit einem schmutzigen Lappen über der Schulter aus der Scheune und lachte seine Freundin an. »Du bist außer Atem, der Schweiß rinnt dir übers Gesicht und du hast Schlammspritzer auf deiner Hose. Hast du heute Abend ein heißes Date oder was?«

»Japp. Mit einem Drachen.« Raven stand auf, schnappte nach Luft und lächelte. »Ich bin hier, um mit der Ausbildung von Leander zu beginnen.«

William schaute über seine Schulter auf den Pferch in der Ferne. »Das wird heute nicht passieren. Heute trainiert hier niemand mehr, nicht seit dem Regen. Ich hänge nur in der Scheune herum und putze die Ausrüstung.«

Raven schürzte ihre Lippen und schüttelte den Kopf, immer noch außer Atem. »Ich muss mit meinem Training anfangen. Ich bin sowieso schon im Rückstand. Ich habe nur einen Monat Zeit.«

»Das Training war für Leander, erinnerst du dich?« Er zerrte den Lappen von seiner Schulter und wischte sich den Schmutz von den Händen. »An Regentagen sind die Drachenhöfe geschlossen, Magierin.« Er schniefte, während er in den Himmel schaute. »Ich kann den Regen immer noch in der Luft riechen. Ich bin froh, dass wir nicht zu viele starke Regenfälle haben. Die Drachen haben es schwer damit. Manche nehmen es gelassen, aber die, die trainiert werden müssen? Die können ganz schön ausrasten.«

»Nicht Leander. Ich habe ihn im Regen gesehen. Er hat ihm gezeigt, wer das Sagen hat.«

»Die Natur, Raven. Die Natur hat immer das Sagen. Was meinst du damit, du hast ihn gesehen? Hast du Magie benutzt?«

»Ich nicht.« Raven zog an seinem Arm und begann, in Richtung Pferch zu gehen. »Auch wenn du nicht trainierst, kann ich es trotzdem. Es steht dir frei, mich zu führen. Ich muss ihn so schnell wie möglich reiten.«

William zog seinen Arm weg, ging aber immer noch neben ihr her. »So einfach ist das nicht. Das ist kein Spiel, Raven. Es kann viel schiefgehen und jemand verletzt werden. Das hier ist der Moss-Hof. Das heißt, es würde auf mich zurückfallen.«

Sie blieb drei Meter vor dem Eisentor stehen, das den Pferch vom Rest des Hofs abtrennte. Sie stemmte die Hände in die Hüften und starrte auf den Boden. »William, ich brauche das. Und Leander braucht es auch. Wir haben eine Verbindung, das hast du schon gesagt. Du musst mir hier helfen. Das war doch sowieso zur Hälfte deine Idee!«

»Ich helfe dir, Raven. Aber das braucht Zeit, ob es dir gefällt oder nicht. Du willst, dass er dein Krafttier wird? Ja, das habe ich gehört. Das spricht sich in dieser Stadt schnell herum. Du warst heute Morgen die Attraktion auf dem Marktplatz – die Magierin, die einen Drachen nach Fowler bringen will.«

Raven ballte die Fäuste an ihren Seiten. »Ich weiß, dass es möglich ist.«

William schüttelte den Kopf. »Raven, wenn es jemand kann, dann du, aber das ist eine ganz neue Ebene. Ich bin mir nicht einmal sicher, wie du es machen sollst. Du sprichst davon, einen jungen, untrainierten Drachen aus seinem Gehege zu holen und ihn nach Fowler zu bringen. Überall brechen Flammen aus, es herrscht Chaos, die Bürger stehen mit Fackeln vor meinem Tor. Kannst du dir das vorstellen?« Er wischte sich wieder die Hände am Lappen ab und warf ihr einen strengen Blick zu.

»Vertrau mir!«

»Vertrau mir .« Er senkte sein Kinn und starrte sie an. »Es ist viel komplizierter.«

»Wie das?« Sie ging rückwärts zum Tor und behielt William im Auge.

»Du wirst noch stolpern. Du kannst mich nicht mit einem Wettstarren überlisten. Das hat auch nicht funktioniert, als du zehn warst. Raven, das hat Konsequenzen. Wenn du einen Drachen vom Hof mitnimmst und er sich danebenbenimmt, riskierst du, dass man ihm sofort die Flügel stutzt. Du musst ihn im Zaum halten und dafür sorgen, dass er sowohl deine Prüfungen als auch seine eigenen Tests besteht.«

» …und deshalb bist du hier.« Raven warf ihre Schulter unter den massiven Hebel, der das Tor arretierte. »Wenn du mir zeigst, wie es geht, mache ich es.« Die Zahnräder drehten sich langsam, gaben das Tor frei und ließen es weit aufschwingen. William fing es auf und hielt es fest, bis Raven hindurchgegangen war. Dann zog er es hinter ihnen zu.

Er sah Raven an, die breitbeinig und mit den Händen in den Hüften dastand. William stieß einen tiefen Seufzer aus. »Na gut.« Er zeigte auf einen Schuppen direkt hinter dem Tor. »Geh da rein, nimm dir einen Sattel und folge mir.«

»Ja!« Raven lief zum Schuppen, um den großen, braunen Ledersattel zu holen und folgte William über die offene Fläche, wobei ihre Füße in den weichen, schlammigen Boden einsanken, bis sie vor Leanders Pferch standen.

Der rote Drache sah die beiden herankommen und stand auf, um sie bedrohlich anzuschauen. »Ruhiger Tag?«, fragte der Drache.

Mit einem überheblichen Lächeln zeigte William auf Leander. »Geh ihn satteln.«

Der Drache schaute von Raven zu William und blies Dampf aus seiner Nase.

»Schon? Super, klar, das kann ich machen.« Sie schien einen Moment lang nicht zu wissen, was sie tun sollte. »Ich habe schon Hunderte von Pferden gesattelt und ich habe gesehen, wie du das mit Teo gemacht hast. Wie schwer kann es schon sein?«

»Ja, wie schwer?«, lachte William in sich hinein.

Raven ging lässig bis zum Tor von Leanders Pferch. Sie blieb stehen und lehnte sich mit dem Sattel dagegen. »Weißt du, ich habe neulich auch eine besondere Verbindung zu dir gespürt. Ich glaube, wir werden gute Freunde sein.«

»Gut für dich«, sagte der Drache mit halbgeschlossenen Augen.

»Dann sollte das ja einfach für dich sein.« William hielt seinen Blick auf den Drachen gerichtet, als Leander den Kopf drehte und ihn ansah.

Raven stellte sich vor den Drachen, der auf sie herabstarrte, während sie das Schloss des Pferchs öffnete.

»Bekomme ich Besuch?«

»Geh schnell rein!«, rief William. »Lass ihn nicht entkommen!«

»Ich bin mir nicht sicher, ob du das ernst meinst oder nur versuchst, mich nervös zu machen.«

»Beides«, sagte der Drache und verstreute das Heu mit einem Schwanzwedeln.

Sie schlüpfte hinein und schloss das Tor hinter sich. Ohne Schutz zwischen sich und der Bestie, drehte es ihr den Magen um. Was zum Teufel mache ich hier? »Okay, Leander. Mein Name ist Raven. Erinnerst du dich an mich? Ich werde dich ausbilden.«

»Bist du beim Ausritt mit Teo auf den Kopf gefallen? Ich kann dich sehr gut hören.« Seine Stimme dröhnte in ihrer Brust. Er beugte sich vor, bis seine Nase nur noch wenige Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt war und seine riesigen Augen in ihre blickten.

Sie lächelte ihn an und flüsterte: »Arbeite hier mit mir, okay?«

Er beschnupperte sie und senkte seinen Blick. »Heute nicht, kleines Mädchen.«

»Warum nicht?«

Leander verrenkte den Hals, streckte ihn und stieß ein leises Brüllen aus. »Es hat den ganzen Tag geregnet. Es gibt keine Arbeit, bis die Gegend getrocknet ist.«

Raven schaute auf den großen Prankenabdruck, den Leander im Schlamm hinterließ, als er rückwärts und von ihr weg trat. Langsam legte sie den Sattel auf den Boden und machte mit erhobenen Händen einen Schritt nach vorne. William näherte sich dem Gatter, bereit, sie aufzuhalten.

Sanft legte sie die Hände auf den Kopf des Drachen. »Ich habe dich im Regen gesehen. Du hast getanzt.«

Der Drache hob seinen Kopf und ihre Hände glitten ab. Leander öffnete sein breites Maul. William hakte das Tor los, so schnell er konnte. »Was zum Teufel habe ich mir dabei gedacht?«

»Der Zauberspruch. Das warst du, oder? Eine Magierin. Ich hätte es wissen müssen.« Leander ließ gerade so viel Feuer heraus, dass es sich um seine Zähne kringelte und Ravens Gesicht wärmte.

Sie nahm den Sattel in die Hand und schüttelte ihn in ihrer rechten Hand. »Lass uns den Sattel aufsetzen, damit wir anfangen können, gemeinsam zu lernen. Lass uns eine Bindung eingehen und ein paar Wolkenhäschen machen.«

Er senkte seinen Kopf und legte seinen Rücken flach, zu Williams Überraschung.

Raven lächelte. Es klappt. Er wird sich von mir satteln lassen.

Sie schwang den Sattel auf seinen Rücken, gerade als er seinen Kopf senkte, seine Schnauze in sie rammte und sie gegen das Tor schleuderte. Ihr Kopf prallte heftig gegen die Metallstangen und der Sattel rutschte sauber von seinem Rücken, während sie sich den Kopf hielt. Ihre Sicht verschwamm.

»Whoa!« William entriegelte das Tor.

Raven hörte das Klicken und hielt ihre Hand hoch. »Nein! Ich schaffe das!«

Raven rollte sich auf ihre Hände und Knie und blinzelte, bis ihre Sicht wieder klar wurde. Zurück blieb ein Klingeln in ihren Ohren. »Ich bin schon so weit gekommen, Leander. Wir müssen das gemeinsam angehen. Willst du dir die Flügel stutzen lassen? Du bist ein prächtiges Tier, das es verdient, zu fliegen, aber es gibt Regeln. Auf jetzt!«

Sie schlich sich an ihn heran, hob den Sattel hoch und hielt Augenkontakt mit Leander.

»Du hast nicht zu entscheiden, ob mir die Flügel gestutzt werden, kleines Mädchen.« Er beugte sich vor, um ihr ins Gesicht zu sehen. »Du bist nicht die Rettung, auf die ich gewartet habe. Ich kann auf mich selbst aufpassen.«

»Zwei Erbsen aus derselben Schote.« William verriegelte das Tor wieder, lehnte sich dagegen und beobachtete die beiden. »Sturheit taucht überall auf.«

Sie schüttelte den Kopf, hob den Finger und spreizte ihre Füße zu einer Kampfhaltung. »Mach das nicht noch einmal. Du bist vielleicht größer als ich, aber ich werde dir einen Arschtritt verpassen, Drache oder nicht!«

»Große Worte von so einer halben Portion.« Leander stieß eine dicke schwarze Rauchwolke aus seinen Nasenlöchern und blies sie Raven direkt ins Gesicht. Sie hustete und verschluckte sich an dem Rauch, ihr Gesicht wurde rot von der Anstrengung zu atmen, während sie sich an den Rand des Geheges zurückzog.

Sie umklammerte ihre Brust und hustete heftig, während sie nach Luft schnappte. William sah amüsiert zu.

»Du bist ein echter Bastard, weißt du das?« Raven straffte die Schultern, weil sie nicht bereit war, vor der mächtigen Kreatur zurückzuweichen. »Ich werde dir noch eine Chance geben.« Sie zeigte mit einem Finger in die Luft.

Der Drache kräuselte seine Mundwinkel und reckte seinen langen Hals in die Höhe.

»Ich glaube, ich habe noch nie einen Drachen lächeln sehen«, feixte William.

»Lass mich an dich herankommen, damit ich dich wenigstens vor einem langweiligen, sinnlosen Dasein im Tal bewahren kann.« Raven verschluckte die Worte und stolperte auf ihn zu.

»Ich wünschte, ich hätte ein Getränk zu dieser Show mitgebracht.« William stützte sein Kinn in die Hand.

Leander grunzte und schwang seinen Schwanz herum. »Komm so nah an mich heran, wie du willst, aber versuch gar nicht erst, dieses Höllending auf meinen Rücken zu setzen.«

Sie näherte sich ihm wieder und hob die Hand, so wie sie sich erinnerte, dass William es mit anderen Drachen gemacht hatte. Diesmal senkte er nicht den Kopf, sondern starrte sie nur an. Bevor sie ihm zu Leibe rücken konnte, stieß Leander sie zu Boden und legte eine riesige Pranke auf sie, auf die er sich mit so viel Druck stützte, dass ihr Hinterkopf in den Schlamm sank und ihr fast die Ohren verstopften. Sie spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss, als er sich über sie beugte und sie schweigend musterte.

»Caliphasas. Das ist die Region, in der ich einst ein Ei in einem Nest war.« Der Drache entfernte seine Pranke und Raven rollte sich zu einem Ball zusammen und hielt sich vor Schmerz die Rippen. Der Schlamm war in Form ihrer Silhouette eingedrückt.

William seufzte von außerhalb des Stalls. »Leander, sei nachsichtig mit ihr, Mann. Sie gibt sich Mühe.«

Sie schlug wütend auf den Boden, Schlamm quetschte sich zwischen ihren Fingern hindurch. »Das war’s!«

Sie schnappte sich den Sattel, sprintete zu Leander und warf ihn hoch in die Luft. Er landete auf seinem Rücken, aber, bevor sie die Riemen greifen konnte, sprang er zur Seite und stieß sie nach hinten. Sie fiel wieder zu Boden, aber entkam, bevor er sie mit seiner Pranke erwischen konnte.

Ihre Rippen pochten vor Schmerz, aber der Sattel war immer noch an Ort und Stelle. Sie rannte auf ihn zu und dieses Mal trieb er sie mit einem kleinen Feuerstoß davon.

Neuer Plan. Nicht direkt auf ihn zugehen. Ich kann den Sattel von oben festschnallen.

Raven eilte am Pferch entlang, mit dem Rücken zum Zaun.

Leander rührte keinen Muskel.

»Wartest du darauf zu sehen, was sie als Nächstes tut?«, fragte William amüsiert.

Mit einem zynischen Grinsen im Gesicht lief Raven seinen Schwanz hinauf und versuchte, seinen Rücken zu erklimmen. Der Drache brüllte sein Unbehagen heraus und versuchte, aufzustehen. »Geh runter!«

Sie kletterte auf seinen Rücken und sprang in den Sattel, in der Hoffnung, irgendwie die Riemen unten zu erreichen. Die Gurte! Verdammt! Ich habe das nicht durchdacht.

Bevor sie ihren Plan ändern konnte, bockte Leander wild und schleuderte sie quer durch den Pferch. Sie landete mit dem Bein zwischen den Gitterstäben und stieß sich das Knie auf. Ein Spruch bildete sich auf ihren Lippen und die Härchen auf ihren Armen stellten sich auf, aber sie biss sich auf die Lippe und schluckte hart.

Mit vor Schmerz zusammengebissenen Zähnen starrte sie die trotzige Kreatur an, als der Sattel neben ihrem Gesicht auf dem Boden landete.

William kicherte, als er auf der anderen Seite des Zauns zu ihr ging und ihr Bein loswackelte. Sie fiel zu Boden und landete auf ihrem Kopf. »Schnapp dir den Sattel und verschwinde, bevor du dich umbringen lässt.«

Ravens Rippen taten ihr weh. Sie schaute auf ihren schmutzigen Mantel. »Bitte lass das Schlamm sein.« Als sie aus dem Stall kam, brach sie auf dem Boden zusammen.

William hockte sich neben sie, schnupperte und rümpfte die Nase. »Willst du den Job immer noch?«

Sie stöhnte und rollte sich in eine sitzende Position. »Ich glaube, er hat mir eine Rippe gebrochen oder so.« Sie tastete ihre Körpermitte ab, um zu sehen, ob irgendwelche Knochen verrutscht waren.

Der junge Mann lachte. »Nein, das war nur ein Drache, der dich verarscht hat. Er hat nichts gebrochen. Du hast dir wahrscheinlich die Rippen etwas verstaucht, aber er wollte dir nicht wehtun. Wenn er dir die Knochen hätte brechen wollen, würdest du es merken.«

»Es fühlt sich nicht so an«, schnaubte sie und atmete tief und schmerzhaft ein.

»Wir werden dich drinnen verarzten. Wir spritzen dich ab und überprüfen deine Rippen. Geschieht dir recht.«

»Ist das deine Version von ›Ich hab’s dir ja gesagt‹?«

»Ziemlich genau.« Er half ihr auf die Beine und begleitete sie auf die Veranda seines Hauses.

»Ich muss Leander trainieren, damit ich ihn zu Fowler bringen kann. Alle anderen haben ihre Krafttiere. Ohne ihn kann ich nicht zurück zur Schule gehen. In weniger als einem Monat, gehe ich heim und warte bis zum nächsten Jahr, wenn ich bis dahin kein Krafttier habe.«

»Einen Drachen zu wählen, war deine Idee. Du kannst dir etwas anderes aussuchen.«

»Nichts anderes ruft nach mir.«

»Das alles würde besser funktionieren, wenn es sich nicht nur um dich drehen würde.« Er setzte sie auf einen Stuhl neben der Eingangstür zu seinem Haus. »Wenn du versuchst, ihn so zu Fowler zu bringen, wie du es vorhast, wird er dich umbringen, noch, bevor ihr das Hoftor passiert habt, klar? Das wird nicht klappen.«

William hockte sich vor sie und untersuchte ihr Knie. »Dein Knie ist in Ordnung. Es wird eine Zeit lang in ein paar neuen Farben erblühen, aber du bist ziemlich robust, Alby.«

»Was zum Teufel ist sein Problem? Weiß er denn nicht, dass ich versuche, ihm zu helfen?«

»Er weiß es. Aber du musst es dir trotzdem verdienen.« William drückte sanft gegen ihre Rippen. »Ja, ich glaube, es ist nichts gebrochen, nur ein paar ordentliche blaue Flecken. Da werden Erinnerungen wach«, sagte er mit einem Lächeln.

»Du hast eine seltsame Vorstellung von Spaß. Musstest du das durchmachen?«

»Nicht so schlimm. Es war fast unangenehm, zuzusehen!«

»›Fast.‹ Der war gut.« Sie grinste ihn spöttisch an. »Und trotzdem hast du gelacht.«

»Es war trotzdem lustig. Ich wusste, dass Leander dich nicht angreift. Siehst du, das ist der Unterschied hier. Wenn ich da reingehen würde, würde er nicht aufhören, bis ich tot bin. Er hat dich nicht umgebracht.«

Ihr stand der Mund offen. »Oh, er hat mich also so behandelt, weil er mich mag .« Ihre Stimme triefte vor Sarkasmus.

»Äh, so weit wollen wir nicht gehen. Du musst dir Leanders Respekt verdienen, dann wird er dich vielleicht mögen. Er hat dich so behandelt, weil er in dir etwas Besonderes wittert. Ich verstehe nur immer noch nicht, was das bedeutet«, sagte er und kratzte sich am Hinterkopf.

»Sein Respekt wird nicht leicht zu gewinnen sein und dann ist da noch die Bindung. Es gibt einen großen Unterschied zwischen Respekt und Bindung. Respekt bedeutet, dass er dir zuhören wird, wenn du dich ihm auf die richtige Weise näherst. Das … war nicht die richtige Weise.« Er half ihr auf die Beine. »Einige meiner ersten Trainingsfälle haben mich herumgeschubst, zu Boden geworfen, auf mich getreten und meinen Arsch angezündet. Sie testen dich gerne. So stellen sie sicher, dass du es wirklich willst.«

Raven rieb sich die Schläfen. »Hat es jemals jemand mehr gewollt?«

»Du musst es aus den richtigen Gründen wollen.« Er grinste und seine Grübchen vertieften sich. »Das können sie spüren. Das ist dein Problem. Finde heraus, was du wirklich willst – einen Drachen ausbilden oder dich vor deinen Freunden profilieren und an der Akademie bleiben. Ich habe noch ein paar Dinge zu tun. Fühlst du dich besser?«

Sie beugte ihr Knie und runzelte die Stirn wegen des Schmerzes. »Ich werde schon klarkommen.«

William lief davon, während Raven niedergeschlagen über den Hof lief. An Leanders Pferch hielt sie noch einmal an.

»Du überdimensionaler Grill.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich versuche, dir zu helfen. Arbeite mit mir und wir können beide zu Legenden werden. Willst du das nicht? Oder möchtest du lieber ein weiterer verdammter flugunfähiger Drache sein, der sein trauriges Dasein im Tal fristet? Wir haben noch einen kurzen Monat, bis wir beide etwas beweisen müssen.«

Leander kräuselte seine schuppige Lippe und entblößte eine Reihe von scharfen Zähnen. »So einfach ist das nicht, kleines Mädchen.«

Sie ging davon, immer noch murrend und fuchtelte frustriert mit den Armen. »Uuuff, das wird verdammt schmerzen am nächsten Morgen.« Sie hielt sich die Rippen, als sie unter dem MOSS-HOF-Schild vorbeikam und schäumte vor Wut und Frustration. Was ist da noch? Was zum Teufel mache ich hier eigentlich?

Der Boden rumpelte unter ihren Füßen und sie blickte überrascht in den klaren Himmel. Was war das?

Aber es verging so schnell, wie es gekommen war und ihre Gedanken wanderten zurück zu ihrem Knie und den Drachen.