Kapitel 23

D er Morgen kommt immer zu früh.« Henry rieb sich die Augen und grüßte Raven am Tor des AlbyHofs. »Du humpelst nicht mehr so stark. Fühlst du dich besser?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Es wird langsam besser. Nicht hundertprozentig, aber es geht voran. Ich fühle mich heute Morgen gar nicht so schlecht. Ich hoffe, das ist ein gutes Zeichen.«

Sie gingen die Straße hinunter und Henry lächelte in den Himmel. »Schön, dass die Sonne wieder rausgekommen ist und scheint. Alles ist schon wieder getrocknet.«

Raven stampfte mit ihren Stiefeln auf, um noch etwas mehr des getrockneten Schlamms von den Seiten abzuklopfen. »Ja, Gott sei Dank. Ein solcher Wolkenbruch pro Jahr ist wirklich genug.«

»Sag das mal der Ernte. Ich bin froh, dass ich hier draußen nichts anbauen muss.«

»Dein Vater ist Bauer. Du willst lernen, wie man Heu dazu bringt, sich selbst zu stapeln.«

»Wie ich schon sagte. Noch bestelle ich keine Felder und ich hoffe, dass die Magie die Dinge ändern wird. Hey, hast du über das nachgedacht, was ich gestern Abend gesagt habe?«

»Du meinst, herauszufinden, wie man einen Drachen trainiert und ihn dazu bringt, mein Krafttier sein zu wollen? Es gibt ungefähr eine Million verschiedene Möglichkeiten, aber es liegt nicht nur an mir. Ich habe den Gedanken eines Drachen als Krafttier aufgegeben.«

»Warum? Er hat nicht nein gesagt. Bonuspunkte: Es wäre echt krass, einen Drachen nach Fowler zu bringen. Das wäre wirklich beeindruckend.«

»Ja, aber das ist nicht der Grund, warum ich das mache. Seit ich ein kleines Mädchen war, hatte ich das Gefühl, für Großes bestimmt zu sein.« Sie klopfte sich auf die Brust. »Ich kann es fühlen.«

»Das weiß ich. Darüber hast du schon oft geredet.«

»Aber ich wusste nie, was diese große Sache ist. In Brighton ist eines der größten Dinge, die man sein kann, Mitglied des Militärs. Sieh dir an, wie die Wehrpflichtigen behandelt werden und in Friedenszeiten machen sie gar nichts!« Sie ging schneller, vergaß ihre Schmerzen und war in ihrem Traum gefangen. Ihr langes, rotes Haar war zu einem Zopf geflochten, der über ihren Rücken schwang.

»Ich dachte, ich könnte auch kämpfen, um die Stadt zu schützen. Aber ich will nicht nur in einer makellosen Uniform herumlaufen und beim Streithammel Freibier bekommen. Ich will Aktion erleben.« Ihre Hände waren zu Fäusten geballt.

Henry schüttelte den Kopf. »Was hat das mit der Ausbildung eines Drachen zu tun?«

Sie hob einen Stock auf und schwang ihn wie ein Schwert herum. »Bist du schon mal auf dem Rücken eines Drachen geflogen? So habe ich mich noch nie zuvor gefühlt. Ich habe mich mit allem verbunden gefühlt. Auf dem Rücken eines Drachen kann man alles machen. Ein echter Held sein. Die Stadt vom Himmel aus beschützen. Wie ein … wie eine Kriegsmagierin!«

»Du bist die beste Magierin, die ich je gesehen habe und wenn der Rest der Stadt die Zaubereien sehen könnte, die dir dein Großvater schon beigebracht hat …«

Ravens Augen weiteten sich und sie schaute sich um, um sicherzugehen, dass niemand in der Nähe war, der sie hören konnte. »Du weißt, dass das ein Geheimnis sein muss«, zischte sie. »Er sollte mich doch nicht außerhalb der Akademie unterrichten.«

»Entspann dich, niemand kann uns hören.« Henry holte eine Steinschleuder aus seiner Gesäßtasche, nahm einen Stein, zielte damit auf eine nahe gelegene Kiefer und traf sie genau in der Mitte. Der Baum wackelte und die Tauben, die in ihm nisteten, flogen auf. »Du hast Schulleiter Flynn am ersten Tag der Akademie beeindruckt. Das ist für dich nicht einmal eine Herausforderung. Es fällt dir leicht.« Er hob einen weiteren Stein auf und zielte damit auf die Vögel, doch er verfehlte sie.

Raven warf einen Seitenblick auf ihren Freund. »Ist das ein Problem für dich? Du weißt, dass ich auch an dich glaube.«

»Nein, schau her, ich freue mich für dich. Das ist nicht mein Punkt. Jeder macht mal Fehler, oder? Ich meine, der Rasen vor der Schule sah gestern aus wie die Insel der ungeliebten Spielzeuge.« Er schüttelte den Kopf. »Ich hatte letzte Nacht einen Albtraum, in dem ich von einer zweiköpfigen Fledermaus gejagt wurde.«

»Elizabeth hat geschworen, dass das ein Fehler war.«

»War es das? War es das wirklich? «

Raven kicherte. »Später hat sie versucht, einen Haufen Steine schweben zu lassen und hat sie stattdessen angezündet. Ich bin mir auch da immer noch nicht sicher, ob das tatsächlich ein Versehen war.«

»Ich weiß, ich beobachte sie.« Henry lachte. »Hast du gesehen, wie Rory sich zur Hälfte zu Schatten verblasst hat?« Henrys Schultern erschauderten. »Ein Paar Beine hat mich ständig um die Hälfte meines Sandwiches gebeten.«

»Was hat dir mehr Angst gemacht, die Beine oder dass er versucht hat, dein Sandwich zu stehlen? Dachte ich mir. Mir ist aufgefallen, dass alle Oberstufenschüler in der letzten Woche ihr Mittagessen draußen gegessen haben. Wir sind billige Unterhaltung für sie.«

»Professor Ridley hat mir gesagt, dass wir Demut lernen müssen, bevor wir irgendwelche dunklen Künste erlernen oder in Gruppen den Umgang mit Waffen üben. Das ist es, worauf ich hinauswill.«

Raven runzelte die Stirn und die Magie in ihrem Inneren rann ihr die Arme hinab. Sie war stets zur Stelle, wenn ihre Gefühle sie übermannten.

»Raven, du siehst doch, dass du einen Vorsprung hast. Das ist wohl kaum fair.« Er hob einen weiteren Stein auf und traf damit einen kleinen Ast, der zehn Meter entfernt war und brach ihn ab. »Du hast keinen einzigen dieser Fehler gemacht. Du bist schon ein Profi.«

»Ich habe einfach mehr Übung gehabt. Ich bin nicht besser als du, ich bin dir nur im Moment voraus.« Sie presste die Lippen aufeinander, weil sie nichts über den Puls der Magie sagen wollte, den sie manchmal spürte. Sie war sich nicht sicher, ob es jemand verstehen würde.

Er hob zwei Steine auf und schoss einen nach dem anderen. Der erste traf ein Schild und der andere einen Pfosten und verärgerte die Krähe, die darauf saß. Der Vogel breitete seine Schwingen aus, erhob sich in die Luft und krächzte laut.

»Es ist mehr als das. Es ist, als ob du ein Gefühl dafür hast, was du tun musst. Du bist es nicht gewohnt, dich abzumühen, um etwas zu lernen. Dieser Drache hat dir einen Platz zugewiesen und der hat die Nummer zwei. Er ist die Nummer eins.«

Sie seufzte. »Es stimmt, ich bin gerne diejenige, die die Kontrolle hat.«

»Deshalb bist du so frustriert. Es ist nicht unmöglich , mit diesem Drachen fertig zu werden. Du musst dich nur anstrengen, besser zu sein als je zuvor und das ist schwer für jemanden, die in allem die Beste ist.«

Vielleicht hat er recht.

Sie erreichten das Stadtzentrum und Raven blieb vor dem schwarzen Brett stehen, das mit einer neuen Schicht von Flugblättern bedeckt war. »Verdammt, Henry, sieh dir das an!«

Henry schoss mit seiner Schleuder einen Kieselstein auf das Brett. »Noch ein Volltreffer! Was? Werden wir jemals über diesen Platz gehen, ohne dass du anhältst, um dir etwas anzusehen? Ich will die Ankündigen hören.«

»Du möchtest einen Platz neben Jenny bekommen.«

»Und was, wenn ich das tue?«

Raven blätterte durch die paar neuen Papiere. »Es sind nicht viele, aber die sind alle neu. Es sind zu viele, als dass das alles Hofarbeiter sein können, die in eine andere Stadt weiterziehen.«

Henry steckte seinen Finger durch das Loch, das er gemacht hatte und sah sich die Papiere an. »Ich weiß nicht, wie das hier normalerweise aussieht. Vielleicht ist das auch normal.«

Sie überflog die Namen. »Nein, das sind zu viele.«

Harriet Easton trat aus ihrem Holzhaus, das seine weiße Tünche langsam verlor und presste sich die Hand auf ihren müden Rücken. Sie schaute die Straße hinunter, schüttelte den Kopf und zog ihre Tür mit einem Klicken hinter sich zu. »Glaube nicht alles, was du hörst, Raven«, rief sie und schüttelte ihren Finger.

»Morgen, Frau Easton.« Raven jagte ein Papier, das sich gelöst hatte und im Wind wirbelte.

Frau Easton zog den Schal zurecht, den sie um ihr drahtiges, graues Haar gebunden hatte und beugte sich vor, um einen Eimer mit schmutzigem Wasser anzuheben und ihn auf die Straße zu kippen. Sie stellte den Eimer ab und wischte sich die Hände an ihrer Musselinschürze ab.

»Dieses Verschwinden. Du glaubst all den schrecklichen Geschichten da draußen.«

»Haben Sie eine Theorie?«

Henry lehnte sich näher an Raven und murmelte: »Wir werden zu spät kommen. Wenn du so weitermachst, gehe ich morgen allein zur Schule.«

Harriet seufzte lautstark, als sie den Eimer wieder nahm »Aber sicher doch. Vor etwa fünfzehn, nein zwanzig Jahren – ja, etwa zu der Zeit, als mein erstes Enkelkind geboren wurde. Nein, das war, als ich diese lange Reise nach Brighton gemacht habe – da haben sie die Stadt angegriffen.«

»Ma’am, wir müssen weiter«, flehte Henry. Raven verdrehte die Augen, ergriff Henrys Hand und zerrte ihn zu Frau Eastons Treppe hinüber.

»Was soll ich nicht glauben?«

»Okay, ich spiele mit«, flüsterte Henry. »Ma’am, es gibt keinerlei Aufzeichnungen über einen Angriff vor so kurzer Zeit. Alle Schlachten und Kriege, die geführt wurden, sind schon lange her.«

Sie spottete. »Was bringen sie euch Kindern bei? Niemand hat sich die Mühe gemacht, sich daran zu erinnern.« Sie streckte ihre Hand aus und ein fliegender Käfer mit einem glänzenden, harten, kastanienbraunen Panzer landete auf ihrem Finger.

Henry hauchte: »Ein Krafttier« und seine Augen wurden groß.

»Es gab eine Meute Banditen, die westlich von uns lebte. Schreckliche, grausame Leute. Gnadenlos. Der Abschaum der Menschheit.«

»Okay, und?« Raven wurde ungeduldig und sah sich um.

»Raven! Ich wusste, dass ich euch zwei finden würde.« Murphy kam um den Brunnen herum, Strähnen ihrer blonden Haare klebten ihr im Gesicht. »Ich musste fast den ganzen Weg rennen«, keuchte sie und atmete schwer, als sie zu den beiden auf der Treppe aufschloss. »Was macht ihr …«

Frau Easton ignorierte das Mädchen und wedelte mit den Armen. Der Käfer breitete seine Flügel aus, schwirrte um ihren Kopf und landete wieder auf ihrem Schal. Henry schaute wie gebannt zu.

»Sie streiften umher und stahlen den Leuten ihr Land«, rief sie.

Murphy schaute von Raven zu Henry. »Ist etwas passiert?« Murphys Katze sprang auf den Rand des Brunnens und hielt Abstand zu allen anderen.

»Noch nicht, aber ich hoffe bald«, sagte Henry. »Schau! Ein winziges Krafttier!«

Raven stupste ihn an und winkte Murphy zu. »Geht es dir gut?«, fragte sie ihre neue Freundin.

»Ja, ich hatte gehofft, wir könnten alle zusammen gehen.«

»Sie haben versucht, in Brighton Land zu stehlen. Jawohl, Sir!« Frau Easton war in ihre Geschichte vertieft. »Sie sind auch ziemlich weit gekommen. Sie haben zwei Parzellen Land übernommen, das Fuller Gehöft und den Zeke Hühnerhof.«

Der Käfer drehte sich im Kreis, schwebte an einer Stelle in der Luft und hinterließ eine kupferfarbene Lichtspur. »Komm, lass uns reingehen«, sagte Frau Easton. Der Käfer flatterte mit seinen Flügeln und klappte sie ein, als er in das Schloss ihrer Tür eindrang, die Zuhaltungen aufdrückte und die Tür öffnete.

»Was? Das ist ja unglaublich! Ich wusste gar nicht, dass Insekten Krafttiere sein können! Es gibt hunderte von Möglichkeiten!« Henry schaute sich nach allem um, was krabbelte oder brummte.

»Konzentration, hier spielt die Musik, Käferjunge.« Raven klatschte vor Henrys Gesicht in die Hände.

»Was ist hier los?«, fragte Murphy und schaute auf den Boden, um nach Insekten zu suchen und dann wieder auf die schreiende Frau. Die Passanten warfen einen Blick auf Frau Easton, verdrehten aber nur die Augen und gingen weiter.

Raven bemerkte das und ließ die Schultern sinken. Henry hatte recht. »Ich habe noch nie von diesen Landbesitzern gehört, du etwa?«, fragte Raven und sah ihre Freunde an. Murphy und Henry schüttelten den Kopf.

»Natürlich hast du das nicht, Mädchen. Diese verdammten Banditen kamen hierher, töteten die Familien und nahmen ihr Land in Besitz. Eine Schande ist das. Die Familie Zeke lebte schon seit ein paar Generationen in Brighton. Jetzt sind alle weg. Du kannst ihre Grabsteine auf dem Stadtgrab ganz hinten finden. Von Zeit zu Zeit versuche ich, das Unkraut auszuzupfen.«

»Was haben sie mit dem Land gemacht?«, fragte Henry und blickte in die Richtung der Akademie. Murphy zupfte an seinem Ärmel. »Wir müssen los.«

»Sie haben versucht, viel Geld dafür zu verlangen. Sie hielten es als Geisel. Aber sie konnten nicht einmal einen Löwenzahn aufziehen, ohne ihn zu töten. Keine Fähigkeiten. Kein Talent. Keine Erziehung. Es ist alles verkommen. Jetzt ist es offene Prärie.«

»Glauben Sie, die Banditen sind zurück?« Raven wedelte mit dem Papier in ihrer Hand.

»Was könnte es sonst sein? Ich glaube nicht an Gespenster, aber Diebe und Mörder sind real.«

»Brighton ist eine friedliche kleine Stadt, in der nichts passiert. Das ist alles«, sagte Henry. »Wir hätten Fremde in der Stadt bemerkt.«

»Vielleicht hast du recht.« Raven entfernte sich ein paar Schritte von der alten Frau. Sie war schon wieder auf dem Weg nach drinnen und brüllte immer noch niemanden bestimmtes an.

»Ich sage dir, ich habe recht. Murphy!« Henry legte ihr einen Arm um die Schulter und zog sie enger an sich, während er seinen anderen Arm um Raven legte. »Zwei meiner Lieblingsmenschen, die mit mir zur Schule laufen. Der Tag fängt gut an!«

»Nur wenn wir in den nächsten Minuten bei der Schule ankommen«, entgegnete Murphy. »Was sollte das denn?«

»Verschwörungstheorien, die zu diesen Flugblättern passen.« Raven hielt das Flugblatt eines verschwundenen Landarbeiters hoch.