Kapitel 24

R aven rutschte hinter den alten Holzschreibtisch mit seinem reich verzierten Metallrahmen, legte ihre Hände flach auf die Oberfläche und schaute geradeaus. Sie atmete schwer, weil sie die steinernen Stufen der Wendeltreppe hinaufgerannt war und ihr Gesicht war gerötet. Murphy glitt neben sie, mit einem besorgten Gesichtsausdruck, während sie ihre Zöpfe hinter ihre Schultern schob. Ihre Katze schlängelte sich zwischen ihren Füßen hindurch und flitzte dann los, um etwas zu jagen, das sich in der Ecke bewegte.

»Ich hoffe, das ist niemandes Krafttier in Gestalt einer Wüstenspringmaus«, raunte Henry, als er mit gesenktem Kopf an Raven vorbeiging.

»Jeder kann dich trotzdem noch sehen«, sagte Raven und schlug ihm auf die Schulter.

»Wir sind so spät dran«, zischte Murphy, die sich von ihrem Schreibtisch rüberlehnte. Jenny saß hinter ihr und klopfte ihr auf die Schulter. Bella saß auf Ravens anderer Seite, streckte ihr Kinn vor und bedachte sie mit einem Nicken und einem amüsierten Lächeln.

Raven wandte sich ab und schaute aus dem Fenster. Sie konnte gerade noch die Dächer der Scheunen und die verrostete Wetterfahne mit den Sternen und Monden sehen, die sich langsam drehte.

Henry hatte einen Platz im hinteren Teil des Raumes gefunden und saß zusammengekauert auf seinem Stuhl bei seinen Freunden. Raven schaute ihn an und er schüttelte den Kopf, zog eine Grimasse und sank tiefer.

Professor Bixby, eine ebenso runde wie kleine Magierin, fummelte mit einer Hand am Kragen ihrer schwarzen Robe und schob mit der anderen ihr krauses braunes Haar zurück. Das Haarbüschel wurde von einem ausgetrockneten Füllfederhalter gehalten.

»Nö, geht nicht«, murmelte sie und drehte sich im Kreis, als würde das helfen. Die Professorin gab auf, schüttelte frustriert ihre Hände und klatschte zweimal. »Wer ist bereit anzufangen?« Sie warf einen Blick auf Murphy und Raven und schürzte die Lippen, sagte aber nichts dazu.

Eifrige Hände schossen in die Höhe. Bella rief: »Ich! Ich!«

Raven verkniff es sich, die Augen zu verdrehen und starrte auf die Initialen, die überall in den Schreibtisch eingeritzt waren. Einige waren verblasst, da über Jahre hinweg Hände darüber gerieben hatten.

»Willkommen zu Geschichte der Magie 101 , einem Pflichtkurs für alle Erstklässler in Fowler. Sie können nicht wissen, wohin Sie gehen, wenn Sie Ihre Wurzeln nicht kennen.« Die Stimme der Lehrerin war hoch und sie sang viele ihrer Worte. »Wer kennt die Geschichte der Magie in Brighton

Raven konnte aus dem Augenwinkel sehen, wie Bellas Hand in der Luft herumfuchtelte. Sie hob ihre eigene und setzte sich aufrechter hin.

»Fräulein Alby, Sie sind spät gekommen, aber Sie sind zum Mitmachen gekommen!«

Ravens Gesicht rötete sich und sie senkte langsam ihre Hand, ohne zu einer ihrer Seite zu schauen. »Ja, Ma’am.«

»Bitte, erleuchten Sie uns«, sang die Professorin.

»Die Stadt wurde vor fünfhundert Jahren von einer großen Gruppe von Hexen und Zauberern gegründet. Sie kamen aus der größeren Stadt Wellington, die im Zentrum der Handelsrouten auf der anderen Seite der Berge und hinter dem letzten der alten Bäume liegt. Sie ließen sich hier nieder und errichteten ein neues, dem sicheren Gebrauch der Magie gewidmetes Königreich.«

Professor Bixby legte ihren Kopf schief und lächelte Raven an. »Sie haben Ihre Hausaufgaben gemacht.« Sie tippte mit ihrem Finger auf Ravens Schreibtisch. »Wer in diesem Klassenzimmer ist mit einer der Gründerfamilien verwandt?«

Überall im Raum gingen die Hände in die Höhe, auch die von Raven Alby. Ihr Großvater hatte ihr die Geschichten schon tausendmal erzählt, als sie noch klein war.

»Ihre Eltern stammen beide aus mächtigen Magierfamilien, richtig?« Die Professorin schenkte ihr ein ermutigendes Lächeln, aber Raven erstarrte.

»Sie will eine Drachenreiterin sein«, kommentierte Bella gleichmütig.

»Was? Aber Sie sind eine Magierin in Ausbildung.«

Raven gab sich Mühe, nicht zusammenzuzucken. Sie warf einen Blick auf Bella und verengte die Augen. Dann richtete sie ihren Blick wieder auf die kleingewachsene Professorin, die sich genau auf ihrer Augenhöhe befand. »Ich möchte wählen können«, stellte Raven klar.

Die Professorin runzelte die Stirn und spielte mit dem Stift in ihren Haaren, die sich wie ein kupferbrauner Heiligenschein um ihren Kopf kräuselten. »Aber wir haben ein System und das funktioniert schon seit langer Zeit ziemlich gut. Es ist bekannt, dass die Magie in Ihrem Blut liegt und von Ihren Eltern und Großeltern an Sie weitergegeben wird.«

»Aber haben wir denn keine Wahl?«

Raven erkannte Henrys Stimme aus dem hinteren Teil des Raumes und hob ihr Kinn an. Er lässt seinen Vorsatz, sich zu verstecken, fallen, um sich für mich einzusetzen.

»Ich meine, wer will schon von Geburt an wissen, was er zu sein hat?«, fragte er.

Professor Bixby winkte ihm mit dem Finger zu. »Das Blut lügt nie«, sang sie. »Aber mit der Zeit tun es die Menschen oft. Hat jemand von dem Stammbaum-Zauberspruch gehört? Danke, Fräulein Kinsley, können Sie es den anderen erläutern?«

Elizabeth wischte sich ihren dunklen Pony aus den Augen und eine dunkle Augenbraue, die sich in starkem Kontrast von ihrer blassen Haut abhob, kam darunter zum Vorschein, als sie sich von ihrem Platz erhob, um ihre Antwort zu geben. Ihre Fledermaus hing gleich unter ihrem Schreibtisch und schlief.

Raven drehte sich auf ihrem Stuhl um, um einen besseren Blick auf Elizabeth zu erhaschen und sah, wie Henry den Kopf schüttelte. Sie hielt sich den Mund zu, um nicht zu lachen.

Elizabeth streckte ihren Finger aus, ein Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. »Es ist ein alter Zauberspruch, bei dem ein Tropfen Blut auf einem Stück Pergament einen Stammbaum erstellt und alles offenbart.«

»Ganz genau! Und das ist unser Projekt für heute.« Professor Bixby zeigte auf den Stapel Pergament auf ihrem Schreibtisch. »Nehmen Sie sich ein Stück Pergament und suchen Sie sich einen Partner.« Sie klatschte in die Hände und rief: »Lux et litteris!« Eine Linie aus funkelndem Gold erschien in der Luft und wirbelte um die Schüler herum.

Die Professorin kicherte vor Vergnügen, strich ihr Haar hoch und tat ihr Bestes, um es wieder zu befestigen. »Fräulein Alby, Sie können sich mit Fräulein Chase zusammentun. Zwei starke Magierinnen aus zwei alten Familien. Es könnte lustig sein, zu sehen, ob sich Ihre Linien irgendwo kreuzen. Vielleicht sind Sie ja entfernte Cousinen.«

Die Augen der beiden Mädchen weiteten sich und sie sahen sich überrascht an. Bella begann zu würgen und Jenny klopfte ihr auf den Rücken. Henry schlenderte lächelnd an Raven vorbei und zwinkerte ihr zu.

Raven seufzte, holte das Pergament und breitete es auf ihrem Tisch aus. Bella stand neben ihr und stotterte immer noch, dass sie keine Alby sei.

»Sind alle bereit? Halten Sie einen Finger über Ihr Pergament und wiederholen Sie diesen Zauberspruch.«

Raven streckte ihren Finger aus und sah, dass Bellas Hand zitterte. Sie schaute ihr ins Gesicht und sah die Sorge daran, während Bella auf ihrer Unterlippe kaute.

Raven stieß einen Seufzer aus und dachte an Leander. Es muss nicht unbedingt um mich gehen .

Sie nahm Bellas freie Hand und lächelte sie an. Bella schaute verwirrt und versuchte, ihre Hand wegzuziehen, aber Raven hielt sie fest. Sie beugte sich dicht vor und flüsterte: »Ich werde es niemandem verraten«, und überraschte Bella erneut.

»Lassen Sie dieses Blut die Wurzeln nähren und für die Generationen sprechen. Familiae arbor revelatum est! «

Raven wiederholte die Worte gewissenhaft und spürte einen Stich in ihrem Finger. Ein großer, runder Tropfen tiefroten Blutes erschien und fiel auf das Pergament darunter. Sofort breitete es sich aus, kroch schnell durch die Struktur des Pergaments, bildete Linien und huschte von rechts nach links. Namen erschienen, die durch weitere federartige Linien verbunden waren und unter denen jeweils eine Beschreibung stand.

Abgelenkt ließ Raven Bellas Hand los und beugte sich weiter vor. Sie war überrascht, so viele Namen zu sehen, die sie noch nie gehört hatte. Endlich, ganz unten auf dem Papier, sah sie den Namen ihrer Mutter. Tränen glitzerten in Ravens Augen, als sie darauf wartete, ›Magierin‹, unter ihrem Namen zu sehen.

Kriegsmagierin .

Raven wich keuchend zurück.

Was soll das bedeuten?

»Was hast du gefunden? Sind wir verwandt?« Bella schaute auf Ravens Blatt und sah die Worte unter Sarah Alby. »Magierin!« Sie richtete sich auf und sah Raven an, eine Hand in der Hüfte. »Sieh dir das mal an. Professor Bixby hat recht. Es liegt uns im Blut. Du bist dazu bestimmt, eine mächtige Magierin zu sein, keine Drachenreiterin.«

Raven wollte gerade antworten, als ein lauter Aufruhr aus dem Haufen der Jungen im hinteren Teil des Raumes ertönte.

»Was ist das? Da steht, dass ich mit einem Gnom verwandt bin!« Rory Davidian sah sich im Raum um und drehte seinen Kopf in alle Richtungen. Alle Schüler drängten sich um seinen Schreibtisch und wollten auf sein Pergament schauen.

Professor Bixby gab ein lautes Tsk von sich und klatschte in die Hände. »Macht den Weg frei! Haben Sie irgendwelche Wörter in den Zauberspruch eingefügt? Nein? Nun, es ist ja nur ein Cousin dritten Grades. Ich denke, Sie werden uns ganz nützlich sein, falls wir uns mal in einer Höhle verirren.«

Raven blieb zurück, starrte auf das Pergament vor ihr und hielt es näher, um die Worte genauer zu lesen.

Sarah Alby. Magierin.

Steht mein Schicksal in meinem Blut geschrieben? Nein, mein Großvater glaubt an mich.

* * *

Raven stolperte aus der Klasse, ihr Kopf schwirrte von Fragen. Sie wollte nach Hause gehen und ihren Großvater suchen, aber es gab noch mehr Unterricht. Und Leander . Training. Ich muss gehen.

Henry holte sie in dem verwinkelten Korridor ein, sein Pergament zusammengerollt unter dem Arm. Maxwell saß seelenruhig auf seiner Schulter. Die lange, klebrige Zunge schnippte nach einer Fliege, die in der Nähe von Henrys Gesicht herumbrummte. »Hast du gesehen, was mein Baum gesagt hat? Viele Männer in meiner Linie waren großartige Jäger! Ich bin aus härterem Holz geschnitzt als ich dachte!«

Er rollte das Pergament aus und versperrte den engen Flur, während sich Schüler darunter hindurch duckten, um an ihm vorbeizukommen und zur nächsten Klasse zu eilen. Henry hielt sein Schaubild vor Raven hoch. »Siehst du es?«

»Es ist kaum zu übersehen. Unter den meisten steht ›Bogenschütze‹. Hast du schon mal einen Pfeil geschossen?«

»Nein, Papa hatte immer Angst, dass ich mich erschieße oder meinen Bruder treffe. Ich stolpere oft.«

»Du bist ziemlich gut mit der Steinschleuder. Du solltest es mal versuchen.«

»Vielleicht wird das Professor Fellows davon überzeugen, mich mit Waffen umgehen zu lassen. Er hat mir im Schwertkampf ein Holzschwert gegeben.« Er schüttelte den Kopf. »Das beeindruckt niemanden.«

»Wie Jenny.«

»Wie jedem anderen auch.« Er rollte das Pergament zusammen und klemmte es wieder unter seinen Arm, als sie den Flur hinuntergingen. »Alle reden darüber, was auf deinem steht, aber vor allem, weil da ›Magierin‹ steht und du ständig etwas von einem Drachen sagst. Okay, nur Bella und dieser Mittelstufenschüler, Daniel Smith, haben sich unterhalten. Du weißt schon, der mit dem fliegenden Bohnensäckchen? Er hat eine Schwäche für dich. Er redet ständig von dir, als hätte ich dich noch nie getroffen, obwohl er weiß, dass ich dich schon dein ganzes Leben lang kenne.«

»Warum ist das meine einzige Wahl?«

»Raven, es ist buchstäblich mit Blut geschrieben. Magierin.«

»Nein, wenn es keine Chance gäbe, hätte mein Großvater mich aufgehalten. Er hätte gesagt, dass es unmöglich ist.«

»Hast du gehört, was ich gesagt habe? Daniel Smith. Sogar Bella verschlägt es in seiner Nähe die Sprache. Ich wusste nicht, dass das ohne Zauberspruch möglich ist.«

Sie gingen die Wendeltreppe wieder hinunter und Raven fuhr mit ihrer Hand an einer Reihe der großen Granitblöcke entlang, die die Wände trugen.

»Raven, er hat dir nicht gesagt: ›Nein, tu es nicht. Es ist Zeitverschwendung. Konzentriere dich auf die Zaubersprüche‹.«

»Das hat er mehr als einmal gesagt.«

»Nun, er hat aufgehört, es zu sagen und er hat dich nicht aufgehalten, selbst nachdem dieser Drache …«

»Leander.«

»Leander hat dich als seinen eigenen menschlichen Softball benutzt und dich ein paar Mal gegen die Wand geschleudert. Es ist, als ob du ihm etwas über Möglichkeiten beibringst.«

Raven war still, als sie durch die großen Eichentüren traten und nach rechts zu den Scheunen gingen. Ströme von Schülern liefen hin und her und eilten zum nächsten Kurs. Alle, die zur Scheune gingen, zogen, trugen oder führten ein Tier.

Rory Davidian ging an ihnen vorbei mit seiner Eule, die eine kleine Maus in ihren Krallen gefangen hatte und über ihren Köpfen dahinflog. »Ich bin kein Gnom!« Er schnauzte einige Oberstufenschüler an, die sich gegenseitig anrempelten und lachend im Gebäude verschwanden. Rory schaute von einer Seite zur anderen, um zu sehen, wer ihm zuhörte, aber nur der geisterhafte, blasse Jacob Winters klebte wie immer an seiner Seite, während eine Ratte aus seiner Jackentasche lugte.

»Jacob, ist das dein Krafttier? Sitzt du in der Nähe von Rory und seiner Eule?« Henry streckte seinen Finger aus, um den Kopf der Ratte zu streicheln. Die Ratte fletschte ihre Zähne und schnappte nach dem Finger. Henry zog ihn gerade noch rechtzeitig zurück, um eine Bisswunde zu vermeiden. »Verdammt! Will die dich beschützen? Überfürsorglich oder was?«

Die beiden Jungen kicherten und machten sich auf den Weg zur Scheune. Raven hatte es nicht eilig, dorthin zu kommen. »Der Professor wird mich zwingen, am Rand zu sitzen und allen zuzusehen. Bella wird es genießen. Vielleicht kann ich früher zum Moss-Hof gehen.«

»Du kannst nicht anfangen, den Unterricht zu schwänzen. Ein gewisser Jemand wird es merken und darauf hinweisen. Fängt mit B an und hört mit H auf.«

»So buchstabiert man Bella nicht.«

»Oh, ich glaube schon.«

»Henry, sie ist gar nicht so übel – manchmal jedenfalls. Ich glaube, sie hat mir vorhin irgendwie ein Kompliment gemacht. Sie nannte mich eine mächtige Magierin.«

Sie waren fast bei der Scheune. »Wenn du das sagst. Komm schon, du wirst den Unterricht überleben«, sagte Henry. »Ich lasse dich Maxwell halten.«

»Ein wahrer Freund.« Raven lachte. »Gut, dann komme ich und schaue zu.«

»Es wird gut für dich sein. Es formt deinen Charakter.«

»So kann man es verkaufen. Okay, okay, ich habe gesagt, dass ich mitkomme. Vielleicht lerne ich ja, was eine Kröte als Krafttier so draufhat.«

»Du und ich, wir beide. Ich habe versucht, das herauszufinden, seit Maxwell eine Kaulquappe war. Bisher ohne Erfolg. Du hast Glück, Drachen sind einfach. Du kannst alles sehen, was sie tun können. Zermalmen und einäschern.«

»Ich beneide dich um deine einfache Sicht der Dinge. Es ist viel mehr als das«, sagte Raven und ging hinter den letzten Schülern in die große Scheune. Die rechteckigen Fenster, die die Scheune säumten, waren alle geöffnet, damit das Sonnenlicht hereinströmen und die Luft zirkulieren konnte.

Auf der einen Seite der Scheune befanden sich Ställe mit verschiedenen Kreaturen, darunter auch ein paar Feuerdrakos und auf der anderen Seite waren die hölzernen Tribünen bereits mit nervösen Erstklässlern gefüllt, die versuchten, ihre Krafttiere im Zaum zu halten.

Henry zog Maxwell näher an sich heran und beobachtete, wie einige Krafttiere an ihren Leinen zerrten, um zu entkommen, während andere sich in den Armen ihrer Besitzer zusammenkauerten. »Es ist wie eine lebende Nahrungskette, die sich vor uns abspielt. Ich glaube, ich setze mich hier drüben an die Tür, weit weg von allen.«

»Passt mir.« Raven setzte sich in die unterste Reihe, die dem Ausgang am nächsten war und suchte die Menge nach Bella ab. Sie entdeckte Murphy und Jenny in der untersten Reihe, Murphys Katze lugte zwischen ihren Füßen unter der Tribüne hervor.

»Wo ist der Drache?«

Raven sah erschrocken auf, obwohl sie die fordernde Stimme erkannte. Bella Chase stand über ihr und hatte den Feuerdrako auf ihrer Schulter sitzen. »In meiner Tasche, Bella. Ich habe es geschafft, alles ganz winzig zu zaubern. Halt mal kurz still, dann demonstriere ich es dir.«

Bella grinste nur ein wenig, aber Raven bemerkte es trotzdem, lächelte und zog eine Augenbraue hoch. »Die Zeit ist noch nicht um, Bella. Schreib mich nicht ab.«

Bella wich zurück und musterte Raven von oben bis unten. »Das ist das Letzte, was ich tun würde. Ich habe das ernst gemeint, was ich gesagt habe. Du bist eine knallharte Art von Magierin. Du erinnerst mich an mich, aber es kann nur eine Königin auf dem Campus geben und ich fülle den Platz aus.«

»Nimm ihn, Bella. Betrachte ihn als dein. Das ist nicht der Grund, warum ich bei Fowler bin.«

Bella lehnte sich zurück, eine Hand auf der Hüfte und überlegte, was sie sagen sollte.

Ein großer, stämmiger Professor in einer schwarzen Robe, die kaum seine Arme bedecken konnte, kam in die Scheune geschlendert, ging in die Mitte des Raumes und klatschte in seine fleischigen Hände, was ein Echo im Raum verursachte. Julia Knowles kam auf ihn zu, knuddelte ihren pelzigen grauen Wombat und hielt ihn zur Begutachtung hoch. Sie kam bis zu seiner Taille, obwohl sie eine der größeren Schülerinnen war.

Er hockte sich auf ihre Augenhöhe und streichelte das Fell am Kopf des Wombats.

»Er ist so groß wie ein Baum.« Raven versuchte, nicht zu starren, als der Professor wieder aufstand und Julia überragte.

»Das ist Professor Worley. Er ist neu in Fowler. Man munkelt, dass er früher im Wald bei den Tieren gelebt hat«, flüsterte Henry. Bella und Raven drehten sich um und sahen ihn noch einmal an. »Es ist wahr! Oder zumindest ist es wahr, dass es ein Gerücht ist.«

»Nehmen Sie Ihre Plätze ein. Hopp, hopp. Wir verlieren Zeit.« Seine Stimme dröhnte leise vor sich hin. »Kommen Sie, Rodney, setzen Sie sich mit Ihrem Kaninchen doch nicht neben Herr Davidians Eule. Setzen Sie sich da drüben hin. Ich danke Ihnen. Bella Chase, setzen Sie sich auf Ihren Platz. Gleich können Sie allen zeigen, wie schlau Sie sind.«

Bellas Augen weiteten sich. Ohne ein Wort drehte sie sich auf dem Absatz um, marschierte zur Mitte der Tribüne und begann sie zu erklimmen, wobei sie einen Blick zurück auf den Lehrer warf. Der Feuerdrako schlug mit den Flügeln und stieß kurze Kreischlaute aus, während er auf ihrer Schulter herumhüpfte.

Ein Lächeln breitete sich auf Ravens Gesicht aus, als Henry ihr den Ellbogen in die Rippen stieß. »Wir haben zwei Dinge gefunden, die sie sprachlos machen können.«

»Ich hätte nicht gedacht, dass das möglich ist. Ein Beweis für Magie«, erwiderte Raven lachend.

»Henry Derks!«, rief der Professor. »Fangen wir mit Ihnen und Ihrer Kröte an. Kommen Sie nach vorn und in die Mitte, junger Mann.«

Die Farbe wich aus Henrys Gesicht, er stand auf und kramte Maxwell aus seiner Tasche. Er ließ die Schultern hängen, atmete kurz aus und marschierte in die Mitte der Scheune.

»Also gut, junger Derks, wissen Sie, wozu eine Kröte als Krafttier alles fähig ist?« Professor Worley legte einen Arm vor seine Brust, mit dem anderen rieb er sich das Kinn.

Henry richtete sich auf und hielt Maxwell, der seine Zunge immer wieder hervorschnellen ließ, um nach Mücken zu schnappen, auf der ausgestreckten Hand vor sich. Er holte tief Luft, als sich ein Schweigen über die Scheune legte und ein paar Schüler sich vorbeugten, um auch ja jedes Wort zu hören. »Professor Worley, Sir, nein, das tue ich nicht.«

Die Tribüne brach in Gelächter aus und Henry presste die Lippen zusammen und sah Raven an, die mit den Schultern zuckte und die Hände hochhielt als wollte sie sagen: Ich habe gar nichts, auch kein eigenes Krafttier.

Professor Worley hob einen Arm und brachte den Raum zum Schweigen. »Das ist eine perfekte Antwort, junger Herr Derks. Sie werden immer gut zurechtkommen in der Welt der Tiere und der Magie, wenn Sie zugeben können, wenn Sie etwas nicht wissen. Zufällig mag ich Kröten als Krafttiere. Eine weise Entscheidung, die viel Gutes über Ihren Charakter aussagt.«

Henry entspannte seine Schultern und ein Lächeln erschien auf seinem Gesicht. Raven gab ihm einen Daumen hoch, auch, als Bella die Augen verdrehte. Raven bemerkte, dass Murphy die Einzige war, die in die Hände klatschte und jubelte.

Der Professor legte seinen Arm um Henry und zog ihn ordentlich zu sich ran. »Kröten sind Heilgeister. Mit einer Kröte als deinem Krafttier kannst du jeden Heilzauber verstärken und die ernsteren Wunden und gefährlicheren Krankheiten heilen. Nur einmal gut lecken.«

Die Menge stöhnte und lachte, aber Henry verlor sein Lächeln nicht. Er hielt Maxwell hoch und küsste den Kopf der Kröte, während der Professor ihm auf den Rücken klopfte, was ihn so schüttelte, dass seine Zähne aneinander klapperten. »Zurück auf Ihren Platz mit Ihnen.«

Henry kam zurück und setzte sich neben Raven. »Gut gemacht, Maxwell. Wir haben es ihnen gezeigt.«

Raven unterdrückte ein Kichern und beobachtete, wie die Kröte mit der Zunge schnalzte.

Ein Schüler nach dem anderen stellte sich mit seinem Krafttier vor und erfuhr eine neue Kraft des Tieres. Einige durften sogar Übungen mit einem Zauberspruch ausführen. Bella und ihr Feuerdrako kamen an die Reihe, stellten sich in die Mitte und Raven bemühte sich, beim Zuschauen nicht finster dreinzublicken.

»Halten Sie Ihre Krafttiere gut fest, bitte.« Professor Worley winkte mit dem Arm und schloss alle Fenster und Scheunentore, sodass sie allesamt im Dunkeln saßen. Knurren, Jaulen und Kreischen ertönte auf der Tribüne.

»Okay, so wie Sie es geübt haben, Fräulein Chase. Wenn Sie bereit sind.« Seine Stimme war noch immer über dem Lärm zu hören.

»Et erit lux! « Bella hob ihren Arm und der Feuerdrako flog los, breitete seine Flügel aus und segelte bis unter die Dachsparren. Überall, wo er hinflog, hinterließ er einen Strom glitzernder Sterne, die die Scheune in ein sanftes, schimmerndes Licht tauchten.

Henry und Raven blickten mit großen Augen auf. »Wow, das ist gut«, sagte Henry. »Meinst du, dein Drache kann so etwas auch?«

»Keinen Schimmer. Ein Leben mit Bella wird es jetzt nicht mehr geben.«

»Vor allem, weil du Null Komma Nix hast.«

Sie sah Henry im flackernden Licht an. »Du hast dich wieder mit dem Zauberer in der Apotheke herumgetrieben, stimmt’s?«

»Vielleicht. Er kennt eine Menge seltsamer Zaubersprüche.«

Raven schaute sich um und bemerkte, dass alle abgelenkt waren, auch Bella. »Ich kann es nicht ertragen. Ich schleiche mich raus, solange ich noch kann.«

»Bella wird dich auffliegen lassen.«

»Ich gehe davon aus, dass ihr dieser Sieg heute genügt. Wir sehen uns später.«

Raven stand auf, hielt sich dicht an der Wand und öffnete die hohe Tür gerade so weit, dass sie in das Nachmittagslicht hinausschlüpfen konnte. »Leander, wir müssen eine Lösung finden«, sagte sie entschlossen, während sie über den Campus zu den Eisentoren schritt.

* * *

Raven stand in Leanders Pferch, mit den Händen klammerte sie sich an den Führleinen aus Leder fest. »Und wenn ich bitte sage?«

»Dann überlege ich mir noch mal, ob ich dich wie ein Würstchen röste.«

»Du bist nicht sehr gut im Feilschen.«

»Ich bin ein Drache, der mit einem Mädchen aus nächster Nähe verhandelt. Ich würde sagen, ich bin sehr gut darin. Das solltest du dir vielleicht noch einmal überlegen.«

Der Wind frischte auf und wehte Raven in den Nacken – eine willkommene Erfrischung bei der heißen Luft im Stall. Leander hob den Kopf, um zu wittern. Seine schweren Augenlider schlossen sich halb, als er seinen großen Kopf in verschiedene Richtungen drehte. »Die anderen Drachen sind auf dem nächsten Feld. Sie haben ein paar Rehe gefangen. Das Mittagessen ist fast fertig.«

»Das ist ein erstaunlicher und präziser Geruchssinn. Ist das typisch für Drachen? Komm schon, ignoriere mich nicht. Mit jedem Tag, an dem wir nicht üben, verlieren wir wertvolle Zeit. Darf ich versuchen, dir den Sattel aufzusetzen?«

»Versuchen ist immer eine Option.«

»Kann ich es tun, ohne dass du mich gegen eine Wand wirfst?«

»Nein.«

Raven schüttelte den Kopf. »Ich weiß die Klarheit zu schätzen.« Sie stemmte die Hände in die Hüften. »Ich bleibe hier sitzen, bis du etwas nachgibst.«

»Dann mach es dir bequem. Hier, ich mache dir ein bisschen Platz.«

Raven drehte sich frustriert im Kreis, als erwartete sie, dass ihr etwas Besseres einfallen würde. Aber sie warf die Hände hoch und trat näher heran, setzte sich im Schneidersitz hin und lehnte sich mit dem Rücken gegen den Drachen.

»Ich hoffe, du magst Drachen-Trockenfutter. Das steht heute Abend auf dem Speiseplan.«

»Ich habe schon Schlimmeres gegessen«, erwiderte Raven und schloss für einen Moment die Augen. Sie schlief ein und rollte sich an der Seite des Drachen zusammen.

Leander beobachtete sie ein paar Augenblicke lang, rollte seinen Schwanz um sie herum, legte seinen Kopf nieder und schloss die Augen.

William ging an dem Gehege vorbei und schaute hinein. Verwirrt runzelte er die Stirn. »Gerade wenn ich denke, dass ich alles gesehen habe«, murmelte er und ging kopfkratzend davon. »Raven Alby, Magierin oder nicht, du bist dazu bestimmt, in der Nähe von Drachen zu sein.«