Kapitel 30

D ie Wochen eilten dahin, ein Tag ging in den nächsten über und Raven wiederholte die gleiche Routine. Training mit ihrem Großvater, Hofarbeit, die Akademie und dann los um mit Leander zu arbeiten, außer an den Tagen, an denen sie keine Schule hatte. Dann war sie schon früher auf dem Moss-Hof.

An manchen Abenden fand ihr Großvater sie an ihrem Schreibtisch unter dem Fenster, zusammengesunken über ihren Zauberbüchern, tief schlafend. Jedes Mal ignorierte er seine Sorge, als er sie hochhob und ins Bett brachte.

Jeden Morgen unterhielten sich Henry und Murphy auf dem Weg zur Schule über Professor Worley. »Wusstest du, dass er mehrere Krafttiere hat? Unglaublich.«

Oder über Professor Fellows und die Gerüchte, dass er einst ein Räuber gewesen war, der die Chance bekommen hatte, Gutes zu tun, anstatt ins Gefängnis zu gehen. »Totaler Blödsinn. Ich glaube das nicht.«

Oder über Schulleiter Flynn und die Hunderten von Geschichten, die in der Schule über seine Zeit als Reitender Zauberer kursierten. Die Feinde waren immer groß und furchteinflößend und in den meisten von ihnen wäre er fast gestorben, bevor er den Sieg davontrug.

Mehr als einmal wies Murphy darauf hin, dass Daniel Smith nach Raven gefragt hatte, aber sie ignorierte sie. Sie war zu sehr damit beschäftigt, über den letzten Fehler nachzudenken, den sie in einer Prüfung gemacht hatte oder darüber, wie wohl der Parcours besser zu durchlaufen wäre. Sie hatte nur Zeit, entweder über die Schule nachzudenken oder darüber, wie sie Leander dazu bringen konnte, schneller zu werden und weniger Fehler zu machen.

Jeden Nachmittag rannte sie aus ihrem letzten Kurs und über das Gelände der Akademie auf dem Weg zum Moss-Hof, ohne sich von irgendjemandem zu verabschieden.

William winkte ihr zu, wenn sie an ihm vorbeilief, weil er gerade an einem Gehege arbeitete oder einen anderen Drachen zum Training herausführte. Leander begann sogar, sich auf ihre Besuche zu freuen und stampfte mit den Füßen und blies Rauch, wenn sie fünfzehn Minuten zu spät kam.

Ihre alten blauen Flecken verblassten und wurden durch neue ersetzt, aber sie wurde stärker und hielt sich leichter im Sattel. Leander hatte aufgehört, sie herumzuwerfen, aber er war nicht abgeneigt, sie zu testen, indem er eine Kurve im rechten Winkel nahm, um zu sehen, ob ihre Füße auch in den Steigbügeln blieben.

Langsam aber sicher wurde sie stärker und ihre Bindung wuchs. Trotzdem blieben Zweifel in ihrem Hinterkopf. Leander musste erst noch unter anderen Drachen bestehen.

* * *

Die Morgendämmerung kam früh und erwischte Raven draußen auf dem Feld, wo sie vor der Hofarbeit ihre Flammenkontrolle übte. Sie entzündete die Fackeln nun schneller, aus größerer Entfernung und balancierte dabei auf einem Zaunpfosten. Drei Tage bis zu den Drachentests. Nur noch drei Tage. Der Gedanke schwirrte ihr unablässig im Kopf herum.

»Du hast dich verbessert«, meinte Connor Alby, beeindruckt von ihren Fortschritten. »Dieser Zauber ist schwer zu kontrollieren. Du musst noch ein wenig daran arbeiten, aber ich sehe schon eine sehr große Verbesserung.« Er kletterte auf eine Leiter, um eine Fackel zu löschen. Er stülpte einen Metalleimer darüber und erstickte sie.

Raven nahm sich eine Harke in der Nähe, um das Feuer zu verteilen und es ausbrennen zu lassen. »Ich bin mit Leander ausgeflogen und habe den Feuerzauber von seinem Rücken aus gemeistert. Es hat ein paar Anläufe gebraucht.«

Er warf ihr einen besorgten Blick zu und verschob die Leiter. »Du warst schon draußen in der Wildnis und hast dort gezaubert? Mit einem Drachen?«

»Ja«, antwortete sie sachlich. »Was ist denn so schlimm daran? Du weißt, dass ich ihn ausbilde.«

Er löschte die nächste Fackel. »Raven, die Flamme eines Drachen ist viel unberechenbarer als ein kontrolliertes Feuer, wie das, das ich hier für dich aufgebaut habe. Es können seltsame Dinge passieren, wenn du einen Zauber nicht beherrschst. Welche anderen Zaubersprüche hast du schon ausprobiert?«

»Den Zaubertrank-Kommunikationsspruch. Der ist schwierig, wenn du in Bewegung bist. Ich habe den Trank über mich verschüttet und versehentlich Murphy angerufen. Alles, was sie durch den Spiegel in ihrem Zimmer hören konnte, war mein Gebrüll und der Wind, der vorbeirauschte.«

Connor Alby beäugte seine Enkelin eingehend. »Wenn ich mich richtig erinnere, hast du schon gelernt, wie man einen Pfeil im Flug entzündet.«

Raven schaute weg und harkte das Gras.

»Ich nehme an, das hast du auch probiert. Wie ist es gelaufen?«

»Die ersten Pfeile wurden zu Asche, aber ich habe es geschafft, sozusagen. Es ist schwierig, einen Pfeil abzuschießen, ihn anzuzünden und ein bewegliches Ziel zu treffen. Ich arbeite noch daran.«

»Du bist eine sehr entschlossene junge Frau. Schnelligkeit ist kein Pluspunkt, wenn du ordentlich Magie erlernen willst, vor allem nicht auf einem fliegenden Drachen. Es könnte jemand verletzt werden.«

»Es war meilenweit kein Mensch zu sehen. Ich bin doch nicht blöd.« Sie warf die Harke ins Gras. »Ich brauche ein Krafttier und ich glaube immer noch, dass es Leander sein könnte. Das bedeutet, dass ich mit ihm reiten und an meinen Zaubersprüchen arbeiten muss. Ich habe nur noch sehr wenig Zeit. Keiner von uns beiden hat Zeit. Es sind nur noch wenige Tage.«

Connor löschte die letzte Fackel und kletterte hinunter. »Ich wollte nicht sagen, dass du dumm bist. Es tut mir leid. Du bist eine selbstbewusste, junge Frau, aber manchmal kann Selbstvertrauen zu Tollkühnheit werden.«

Raven sträubte sich, presste ihre Lippen zusammen und war entschlossen, nichts zu erwidern. Das hielt nicht lange an. Sie hielt ihr Gesicht ihrer Arbeit zugewandt und sagte in gleichmäßigem Tonfall: »Es ist wegen Mama und Papa, nicht wahr? Deshalb ermahnst du mich immer, alles langsamer zu machen und vorsichtiger zu sein.«

Sie hörte, wie ihr Großvater stotterte und schließlich herausbrachte: »Das mag stimmen, aber ich habe nicht Unrecht. Unfälle passieren.«

»Du hast mir nie alles darüber erzählt, weshalb der Wagen über die Klippe hinausgeschossen ist.«

»Nicht heute, Raven«, gab ihr Großvater verärgert zurück. Er bedauerte es und kratzte sich am Hinterkopf. »Ich verspreche dir, dass ich dir alles erzählen werde, was du wissen willst. Alles, was ich weiß, was aber nicht alle Löcher füllen wird. Aber nicht jetzt, okay? Können wir heute mal eine Pause von der Vergangenheit einlegen?«

Raven sah die Müdigkeit in seinen Augen. »Sicher, das können wir tun. Aber ich werde es nicht vergessen.«

»Nein, das erwarte ich auch nicht von dir. Los, mach dich fertig. Du musst bald zur Akademie.«

Sie arbeiteten schweigend und lauschten dem Kreischen eines Falken über ihnen, bis es für Raven Zeit war, sich für die Schule fertig zu machen.

Das Zaubern und die Arbeit hatten sie hungrig gemacht und sie traf Henry am Tor mit einem warmen Brötchen, das sie in ein Tuch eingewickelt hatte. Als sie gemeinsam die Straße hinuntergingen, stieg Dampf aus dem Brötchen auf und sie riss einen Bissen ab und steckte ihn sich in den Mund.

»Hey, hey, hey! Ich bin auch hungrig.« Henry klopfte sich auf den Bauch. »Hast du genug mitgebracht, um zu teilen?«

»Tue ich das nicht immer?«, antwortete sie mit vollem Mund. »Nimm es schon.« Sie reichte ihm das zusätzliche Brötchen und er biss hinein.

»Ich habe auch noch eins für Murphy. Sie trifft uns am Brunnen.«

»Ihr zwei werdet echt gut befreundet sein.«

»Das könnte ich auch von euch sagen. Keine Sorge, du bist immer noch mein bester Freund.«

»Danke!« Er stopfte sich den Rest des Brötchens in den Mund und kaute kaum, bevor er es herunterschluckte. »Heute ist der Tag gekommen, an dem wir das Kampftraining mit Partnern beginnen. Endlich! Heya!« Er schwang eine imaginäre Stange durch die Luft.

»Ich kämpfe gegen Elfen, seit ich alt genug bin, einen Stock zu halten. Solange ich nicht Bella als Kampfpartnerin zugeteilt bekomme, sollte ich klarkommen. Ich habe nicht vergessen, dass sie einen Pfeil auf meinen Kopf geschossen hat.«

»Du hast einen auf sie zurückgeschossen, erinnerst du dich? Um die Wahrheit zu sagen, bin ich ein bisschen besorgt. Ich bin ein Liebhaber, kein Kämpfer.«

»Du hast zu Beginn des Jahres gesagt, dass du Teil der Elite-Kampftruppe sein willst. Heute ist deine Chance, in ihrer Arena zu trainieren. Außerdem bin ich mir nicht sicher, ob das, was du gesagt hast, wahr ist.«

»Welcher Teil?«

»Alles davon. Sagen wir einfach, du bist der Beste, den ich je mit einer Steinschleuder habe umgehen sehen und du hast nie mehr als Hallo zu Jenny gesagt.«

»Ich bin ein einziges, mysteriöses Rätsel.« Henry schüttelte den Kopf. »Jenny hat mich noch nicht bemerkt. Vielleicht ist das Kämpfen meine wahre Stärke. Papa meint immer, ich soll in die Landwirtschaft gehen.«

»Es wird alles gut, Henry. Du und ich werden unser Bestes geben und wie immer staunen, wenn es einigermaßen gut ausgeht. Das wird schon.« Wie beim Trainieren eines Drachen. Es muss gut werden.

»Du weißt immer genau, was du sagen musst. Wie geht es mit deinem Krafttier voran? Hast du ihn schon schnell genug durch die Zeitprüfungen gebracht?«

»Vier Tage hintereinander. Ohjaa! Wir sind durch die Ringe geflogen und haben das Heu gebraten, ohne Probleme! Das war so krass!«

Henry lächelte und streckte seine Hand aus. »Das ist meine Raven. Ich bin beeindruckt!«

»Danke! Weißt du, ich kann ihn genau hier spüren«, sagte sie und klopfte sich auf die Brust. »Es ist, als wüsste ich, wie es ihm heute geht, ohne in seiner Nähe zu sein.«

»Ich weiß, was du meinst. Maxwell und ich sind auch so aneinandergebunden. Wo ist Leander? Wartet er in der Akademie auf dich?«

»Nein, so weit bin ich noch nicht gekommen.« Sie riss einen weiteren Bissen ab. »Daran arbeiten wir noch.«

Sie kamen an den Rand des Waldes, der die Straße zur Stadt säumte.

Er sah sie stirnrunzelnd an. »Wenn du einen Drachen durch einen Ring fliegen und Feuer werfen kannst, habt ihr eine Verbindung. Warum versuchst du es nicht? Du hast nur noch drei Tage.«

»Ich möchte es, aber wenn ich es zu früh mache und versage, könnte es das gewesen sein. Schulleiter Flynn hat zugestimmt, es mich versuchen zu lassen, was an sich schon ein Sieg ist. Wenn ich es versuche und Leander versagt, könnte der Schulleiter sagen, dass es zu gefährlich ist, es noch einmal zu probieren und ich habe kein Ersatzkrafttier. Ich will auch keins. Er hat mir sogar einen speziellen Test gegeben, den ich mit niemandem teilen darf, bis die Zeit reif ist, um es zweifelsfrei zu beweisen.«

»Das nenne ich mal auf die Folter spannen. Nicht mal ein Tipp für deinen ältesten Freund?«

»Nein, das Risiko kann ich nicht eingehen. Wenn der Schulleiter herausfindet, dass ich es jemandem erzählt habe, ist es automatisch verpatzt.«

Ein Wagen voller Hühner in Drahtkäfigen zog an ihnen vorbei, gezogen von zwei Eseln. »Wollt ihr Kinder mitfahren?«

»Na klar, das wollen wir!« Henry machte einen Sprung und landete auf der Ladefläche. »Komm, jetzt du.« Er streckte seine Hand aus und Raven ergriff sie. Sie warf sich ebenfalls auf den hinteren Teil des Wagens und landete mit dem Gesicht voran im Heu, wobei ihr Kopf die Hühnerkäfige streifte. Ein grau-weißes Sussex-Huhn hackte auf ihrem Kopf herum, während der Wagen in einem gemütlichen Tempo dahinrollte.

»Au!« Sie setzte sich auf und funkelte das Huhn an.

»Vielleicht ist das ein Zeichen, dass ein Huhn dein Krafttier ist.«

»Oder mein Mittagessen.«

»Oooh, zurück, Hühner. Raven weiß, wie man einen Feuerzauber anwendet und ihr könntet im Handumdrehen gegrillt werden. Ich habe immer noch Hunger, also, wenn du willst. Nein?«

»Sehr witzig. Ich rupfe kein Huhn und ich kann Leander noch nicht mitbringen. Es ist noch zu gefährlich. Wenn ich ihn mitbringe und keine Kontrolle über ihn habe, könnte ich gedemütigt und rausgeschmissen werden und schlimmstenfalls für die Zerstörung der Fowler-Akademie verantwortlich sein. Ich muss mir ganz sicher sein.«

»Und wie machst du das?«

»Gute Frage. William nimmt mich mit zu den Drachenrennen, die von anderen Trainern aus dem ganzen Königreich veranstaltet werden. Die sind am Vorabend der Drachenprüfung. Wenn wir sie bestehen, dann weiß ich, dass wir auch das Finale bestehen werden.«

Der Wagen erreichte den Stadtrand, wo es vor den Läden bereits von Kunden summte, die darauf warteten, dass die Türen geöffnet wurden.

Als der Wagen in die Nähe des Stadtplatzes rollte, rief Raven: »Wir steigen hier ab« und sprang hinten vom Wagen. Henry folgte ihr und sie gingen in Richtung des Brunnens. Murphy saß auf dem Rand und wartete auf sie. Sie hob den Kopf, erblickte sie und winkte. Ihr Lächeln wurde noch breiter als sie aufstand, um ihnen entgegenzukommen.

Raven ging an der Anschlagtafel vorbei, stutzte und musste zweimal hinsehen. »Sie sind weg.« Sie blieb vor der Tafel stehen.

»Wie lange willst du noch auf dieses Brett starren? Komm schon, ich bin sicher, es hat sich kaum verändert, seit du es das letzte Mal gesehen hast.«

Murphy kam und stellte sich neben Raven vor die Tafel. »Was ist weg? Hier ist doch nichts.«

»Eben. Alle Flugblätter sind weg.«

»Was?«, maulte Henry verärgert und überprüfte die Schatten um ihn herum. »Ich kann nicht jeden Tag zu spät kommen.«

»Sie sind alle weg.« Raven tippte mit dem Finger auf die leere Tafel. »Alle Berichte über vermisste Hofarbeiter. Sie sind verschwunden.«

»Na und?«, fragte Henry achselzuckend. »Sie haben mit ihrem Leben weitergemacht. Vielleicht sind sie alle auf ein Bier ausgegangen und jetzt wieder nach Hause gestolpert.«

»Wer ist verschwunden?« Murphy beugte sich über das Wasserbecken des Brunnens. »Hat jemand den Zaubertrank-Kommunikationsspruch hinbekommen? Ich habe versucht, meine Tante in Killeen zu erreichen und stattdessen einen schrulligen Zauberer aus dem Bett geholt. Uff! Wenn ich sein Gesicht nicht gesehen hätte, hätte ich geschworen, dass es ein kreischender Vogel war. Fitz hat fast den Verstand verloren.«

Ein mit roten Buchstaben bemaltes Holzschild war oben an die Tafel genagelt worden: VORSICHT VOR BANDITEN .

»Banditen, nein. Das kann nicht sein«, flüsterte Raven verwirrt. »Das sind keine Banditen.« Sie schaute in die Richtung der Bäckerei, aber von Peter war keine Spur zu sehen. »Irgendetwas stimmt hier nicht. Ich kann es spüren.«

»Hast du nicht wirklich schon genug, worum du dir Sorgen machen musst? Komm jetzt.« Henry nahm sie am Arm und führte sie von dem Schwarzen Brett weg.

Murphy ließ ihre Hand in Ravens andere Armbeuge gleiten. Fitz folgte ihnen in einigem Abstand, wobei er manchmal eine Pause einlegte, um etwas Kleines, Pelziges zu jagen.

»Ach, komm schon, Murphy! Was soll das?« Fitz hatte eine tote Maus zu Henrys Füßen gelegt und lehnte sich nun zufrieden zurück, um sein Fell zu lecken.

Murphy strahlte und streichelte dem Kater über den Kopf. »Er muss dich mögen. Er hat dir ein Geschenk gemacht.«

Henry trat um die tote Maus herum und verzog das Gesicht. »Okay, jetzt habe ich keinen Hunger mehr. Ist das die besondere Kraft der Katzen?«

»Katzen sind die besten. Sie können einen Zauber verstärken und Geheimnisse von einem Magier zum anderen tragen«, sagte sie und zählte die Fähigkeiten an ihren Fingern ab. Raven gab sich Mühe, ihnen zuzuhören, während sie weitergingen, auch wenn sie sich über die Anschlagtafel wunderte.

Ihr Gespräch klang wie fernes Gerede, das um sie herum kreiste, während sie sich auf den Weg zur Schule machten.

»Du bist so still«, bemerkte Henry schließlich, als sie unter dem schmiedeeisernen Schild mit der Aufschrift ›Fowler-Akademie‹ hindurchschritten. »Stimmt etwas nicht?«

»Ja, ich glaube nicht, dass es Banditen sind und es sieht so aus, als ob jemand versucht, uns das zu verkaufen.«

Henry runzelte die Stirn. »Warum? Was ist denn so schlimm daran?«

»Das sind keine Banditen. Ich bin neulich mit Leander zu diesem Aussiedlerhof geflogen und habe es mit eigenen Augen gesehen. Banditen arbeiten nicht so.«

Murphys Mund blieb offen stehen. »Du hast einen Drachen zu einem was geflogen?« Sie schlug sich beide Hände vor den Mund. »Du hast ein Krafttier. Du hast einen Drachen zu einem Krafttier ausgebildet. Du wirst legendär sein!«

»Sei leise, Murphy«, befahl Henry. »Wir müssen zum Unterricht.« Er sah sich finster um.

Raven schaute in die gleiche Richtung und sah Jenny allein an der Treppe stehen. Sie lächelte ihren Freund an. »Geh ohne uns weiter. Wir treffen dich in der Arena.«

Seine Stimmung änderte sich und ein nervöses Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. Raven sah, wie Murphys Lächeln verrutschte und sie runzelte die Stirn, als sie ihre Freundin beobachtete, die Henry hinterher sah.

Raven tippte ihr auf die Schulter. »Er ist noch nicht mein Krafttier, Murphy. Ich muss zeigen, dass ich ihn kontrollieren kann und wenn ich das Wort ›kontrollieren‹ auch nur benutze, dreht er mir den Rücken zu oder wirft mich wie einen Bohnensack auf den nächsten festen Gegenstand.«

»Ja, sicher.« Murphy verfolgte noch immer jede von Henrys Bewegungen über das Gelände hinweg.

»Hey! Gibt es etwas, das du mit allen teilen möchtest?«

»Was? Nein, mir geht’s gut, alles in Ordnung.«

Raven lächelte und legte ihren Arm um die Schultern ihrer Freundin. »Nicht das, was ich gefragt habe, aber okay. Damit können wir weitermachen. Bist du bereit für den Unterricht heute?«

»Waffenkurs? Ich weiß nicht. Wir müssen in der Arena gegeneinander kämpfen. Ich bin keine gute Kämpferin.«

»Das hat Henry auch gesagt.«

»Hat er das?« Sie schaute in die Richtung, in die er gegangen war.

»Mehr oder weniger.« Raven schüttelte den Kopf. Warum habe ich das nicht früher gesehen? »Murphy, wir sollten uns beeilen. Professor Fellows hat nicht viel Sinn für Humor.«

»Nein, du hast recht. Ich habe ihn das ganze Semester über nicht lächeln sehen. Warst du jemals in der Arena?«

»Nur bei der Orientierung, aber heute ist ein guter Tag dafür. Komm, wir können uns noch einmal ansehen, wo die Kampftruppe trainiert.«

»Dort werden alle Soldaten ausgebildet. Wenn du eine Magierin werden sollst, wie der Blutzauber sagte, wirst du auch dort trainieren.«

Sie eilten zur Arena hinter den Scheunen hinüber und stellten sich in der Schlange an, um am Eingang mit ihren Runen zu winken und Einlass zu erhalten. Raven winkte mit ihrem Arm und beobachtete, wie ihre Haut glühte. Das Symbol, das sie zum ersten Mal bei der Orientierung gesehen hatte, erschien auf ihrem Unterarm, hob die Schutzzäune um das Gebäude auf und ermöglichte es ihr, allen ins Innere zu folgen.

In der Arena wurde das Stimmengemurmel in wachsender Vorfreude darauf, gegeneinander kämpfen zu können, immer lauter. Die Arena war weitläufig und kreisförmig angelegt, sie umfasste gut einen halben Hektar und war nach oben hin offen. Der Boden war mit dem gleichen feinen Sand bedeckt, wie der in der Scheune und hatte auch die gleiche Art von Tribünen am Rande.

Murphy und Raven saßen zusammen in der ersten Reihe zwischen den beiden großen Öffnungen, wo sich die anderen Schüler versammelt hatten. Der Rest der Tribünen war leer.

In der Mitte der Arena wartete Professor Fellows bereits mit zwei Soldaten aus der Stadt, die in gepolsterte Ausrüstung und Helme gekleidet waren und lange Stangen hielten. Professor Fellows zog eine Taschenuhr heraus und schürzte die Lippen. Er hob die Hand und mit einem schnellen Schnipsen schloss er die Türen. Ein Schüler, der zu spät kam, rüttelte von der anderen Seite an der Tür, aber vergeblich.

Raven und Murphy zogen die Augenbrauen hoch und Raven schaute sich nach Henry um, um sich zu vergewissern, dass er pünktlich gekommen war. Er saß ein paar Reihen hinter ihr und sah genauso überrascht aus.

Ein Schweigen legte sich über die Arena und Professor Fellows nickte den beiden Soldaten zu, ihre Plätze einzunehmen. Ohne ein Wort zu sagen, kämpften die beiden und schwangen die Stangen gegeneinander. Der größere Mann schwang die Stange nach den Füßen des anderen, aber sein Gegner sprang gerade noch rechtzeitig hoch, wich dem Schwung aus und hieb seine Stange nach dem Kopf des größeren Soldaten. Sie traf ihn am Helm und warf ihn auf die Seite.

Er rollte auf seine Schulter, hielt sich immer noch an der Stange fest und kam wieder auf die Beine. Der Sand, der seine gesamte rechte Seite bedeckte, fiel in einem feinen Nebel ab. Er verlor keine Zeit, drehte die Stange und neigte sie mal nach rechts, mal nach links, um dann zuzuschlagen. Der andere Soldat wich Schritt für Schritt zurück, blockte jeden Schlag ab, hatte aber keine Zeit zu kontern.

Professor Fellows trat einen Schritt zurück und beobachtete das Duell ausdruckslos. Raven und Murphy saßen gespannt auf ihren Plätzen und einige der Schüler standen bereits auf und hielten sich noch immer mit dem Jubeln zurück.

Der kleinere Soldat stoppte die Rückwärtsbewegung und erkannte den richtigen Moment. Er schwang die Stange in einem scharfen Winkel und traf den größeren Mann in die Rippen, sodass dieser erneut zu Boden ging. Er rückte vor und hielt die Spitze der Stange an die Kehle des Mannes, den Fuß auf dessen Brust. Der am Boden liegende Soldat knurrte, bewegte sich aber nicht. Der Kampf war vorbei.

Professor Fellows trat vor und die Schüler standen auf und brachen in Jubel aus. Er nickte dem Soldaten zu, der immer noch stand und der Mann wich zurück und hielt ihm seine Stange entgegen. Er reichte dem am Boden liegenden Soldaten die Hand, der sie ergriff und aufstand, während sich ein Sandregen von seinem Rücken ergoss. Die beiden Männer nahmen ihre Plätze neben dem Professor ein und standen schweigend da.

Der Professor hob die Hände, mit dem gleichen eisigen Gesichtsausdruck und wartete darauf, dass es in der Arena still wurde und alle ihre Plätze einnahmen. »Vielen Dank an unsere beiden Freiwilligen, die Gefreiten Furnby und Lane. Gut gemacht, meine Herren. Eine würdige Demonstration, wie man bō-Stäbe im Kampf einsetzt. Ich danke Ihnen. Sie beide können sich bei Ihren Regimentern zurückmelden.«

Die beiden Männer nickten und machten sich im Trab auf den Weg zu den Türen, als der Professor mit der Hand schnippte und die Haupttüren entriegelte. Ein paar Schüler schlüpften an den abziehenden Soldaten vorbei durch die Tür hinein, bevor der Professor erneut mit der Hand schnippte und die Türen verriegelte.

Der Professor hielt ein Pergament hoch, ließ es los und ließ es in der Luft schweben. »Ihr habt den Umgang mit dem bō-Stab geübt und es ist an der Zeit, dass ihr ihn in einem kontrollierten Kampf ausprobiert. Findet euren Namen und daneben den Namen eures Partners. Holt euch einen bō-Stab, setzt eure Helme auf, zieht eure Schutzpolsterungen an und wir dann beginnen wir. Vier Paare verteilen sich in der Arena und kämpfen zur gleichen Zeit. Beeilt euch.«

Die Schüler strömten drängelnd von der Tribüne auf das Pergament zu und schubsten sich gegenseitig, um einen Blick darauf zu erhaschen. »Jenny, du kämpfst gegen Anne Lundt«, verkündete Murphy.

Jenny sah das kleine, stämmige Mädchen an, das normalerweise auf der einen Seite von Bella stand. Jenny schluckte, zuckte mit den Schultern und machte sich auf den Weg, um eine Schutzpolsterung und einen Helm zu suchen. Murphy fuhr mit dem Finger nach unten, bis sie ihren Namen fand. »Klar. Ich kämpfe gegen Tweedledee«, flüsterte sie Raven zu. »Sie holt sich schon ihren Helm.«

Sie wies mit dem Daumen auf den Stapel Helme. Nina Quint mühte sich ab, einen Helm über ihre Strumpfmütze zu ziehen. »Wen hast du?« Sie drehten sich beide zu dem Pergament um und schauten gemeinsam nach. Die Menge hatte sich inzwischen gelichtet und nur noch wenige suchten ihre Namen.

»Neeein!« Raven und Bella sagten es gleichzeitig und blickten einander an. Bella stieß einen verärgerten Seufzer aus. »Natürlich, ich habe dich abbekommen. Das ist mein Schicksal für die nächsten vier Jahre, stimmt’s?« Sie stapfte los, um ihre Schutzpolster zu holen.

»Was, wenn sie recht hat?« Raven schüttelte den Kopf. »Ich frage mich, ob die Lehrer es wissen.«

»Was wissen?«

»Sowohl Bellas als auch meine Mutter waren Kriegsmagierinnen und wussten, wie man mit Magie und Waffen kämpft. Sie haben die Stadt beschützt.«

»Whoa. Gegen Nina zu kämpfen, scheint da gar nicht mehr so schlimm zu sein.«

»Ein paar Regeln, Leute!« Professor Fellows’ Stimme ertönte in der Arena. »Heute hören wir mit den Spielchen auf und lernen, wie wir uns ohne Magie verteidigen und mit Waffen angreifen können, die wir schon seit Tausenden von Jahren besitzen. Aber das bedeutet, dass ich euch Erstklässler damit betraue, sich wie junge Erwachsene zu verhalten.«

»Er ist immer noch heiß«, flüsterte Murphy. Raven stieß ihr mit dem Ellbogen in die Rippen und unterdrückte ein Lächeln, als sie sich auf den Weg zu dem Polsterstapel machten, ihre Größe heraussuchten und die verschiedenen Teile anzogen.

»Erstens! Keine Schläge ins Gesicht. Zweitens, ihr hört auf, sobald euer Gegner ›Stopp‹, sagt und vor allem …« Er hielt inne und musterte die Menge. Eine dunkle Augenbraue wölbte sich, als er die Gruppe von Jungen, darunter Henry, entdeckte, die sich bereits gegenseitig anrempelten. Er senkte sein Kinn und funkelte sie an, bis sie erstarrten und ihn groß ansahen. »Keine Zaubersprüche jeglicher Art. Wenn ihr gegen diese Regel verstoßt, müsst ihr nachsitzen … oder schlimmeres.«

Raven fand einen passenden bō-Stab, nahm ihren Helm in die andere Hand und ging zu den anderen, die darauf warteten, dass ihr Name aufgerufen wurde.

»Jenny Connors und Anne Lundt, ihr nehmt den linken Quadranten.«

Jenny bahnte sich ihren Weg aus der Mitte der Menge und folgte Anne. »Wenigstens kann ich das hinter mich bringen«, murmelte sie, als sie an Raven vorbeiging. Raven klopfte ihr auf die Schulter und flüsterte: »Du schaffst das!«

»Bella Chase und Raven Alby, ihr nehmt den mittleren Quadranten.« Raven spürte, wie ihr Herz in der Brust pochte und sah Bella an, die etwas zu breit lächelte.

»Du bist genauso gut wie sie und sogar noch ein bisschen besser«, sagte Murphy und beobachtete ihre Gegnerin, die sie von Bellas anderer Seite anstarrte. »Mach sie fertig!«

Raven marschierte unter die große Öffnung in die Mitte der Arena, das Sonnenlicht schien auf ihr rotes Haar, und setzte ihren Helm auf. Sie drehte sich zu Bella um, den bō-Stab vor der Brust.

Du kannst das. Stell sie dir als Elfe mit einer Ziege vor .

Raven stürmte auf Bella zu, wirbelte den Stab herum und schlug ihn hart auf ihre Schulter. Bella wich im letzten Moment aus, sodass der Schlag sie nicht sehr fest traf. Bella rollte sich außer Reichweite, drehte sich und ging mit ihrem Stab auf Raven los.

Raven blockte den Schlag ab, wobei die Stangen aneinander stießen und stieß Bella mit einem Grunzen aus dem Gleichgewicht. Sie schwang die Stange hinter ihren Rücken, um den richtigen Winkel zu finden, holte aus und erwischte Bella an der Taille. Sie sah den Schmerz und die Überraschung in Bellas Gesicht, obwohl sie gepolstert war und ließ ein kleines Lächeln entweichen.

Bella kniff die Augen zusammen und kam auf sie zu, ihre Augen blitzten vor Wut und die Stange drehte sich vor ihr. Sie warf sich nach vorne, ließ die Stange dabei immer noch kreisen und landete auf den Füßen, wobei sie die Stange auf Ravens Helm zielte, bevor Raven sie abwehren konnte.

»Nicht ins Gesicht!«, schrie der Professor von der anderen Seite der Arena, wo er gerade zwei große Erstklässler auseinanderzerrte.

Raven blinzelte zweimal und biss sich auf die Lippe, um sich wieder zu konzentrieren.

Okay, so ist das also. Also komm her, Elfenmädchen. Ich spiele auch hart.

Sie atmete schwer und ihr Herzschlag beschleunigte sich, obwohl ihr Kopf pochte. Sie schlug mit kleinen Schwüngen nach Bella, drängte sie zurück und ließ die bō-Stäbe aneinander klappern, wobei sie den Rhythmus veränderte, um sie abzulenken. Bella lächelte, als hätte sie Raven durchschaut und lehnte sich vor, um zuzuschlagen, wobei sie ihre Seite offen ließ.

Raven erkannte ihre Chance. Sie ließ die Stange durch ihre Hände gleiten, trat nach vorn und ließ sich von ihrem Gewicht tragen, dann holte sie aus und schlug Bella erneut in die Rippen, was dieser diesmal den Atem raubte.

Bella stürzte mit dem Kopf voran in den Sand und rollte sich auf den Rücken, ihr Gesicht war voller Dreck. Sie knurrte, fletschte die Zähne und hielt sich weiter die Stange vor die Brust, während sie nach Luft schnappte.

»Eins, zwei, drei …« Raven zählte die Sekunden, in denen ein Kampf zu Ende war, wenn ein Gegner am Boden lag. Sie näherte sich Bella, um ihr den Stab an die Kehle zu halten und den Kampf zu beenden, als Bella sie überraschte und noch immer keuchend auf die Füße sprang.

»Bella, wir können jetzt aufhören. Du warst lange genug unten, sodass der Kampf als beendet gilt.«

»Keine Chance, Alby. Ich werde dich nicht gewinnen lassen.«

»Du hast mich gar nichts machen lassen. Ich habe gewonnen. Die Regeln sagen drei Sekunden.«

»Scheiß auf die Regeln«, schrie Bella und schwang ihre Stange.

»Es reicht!«, rief der Professor und bahnte sich seinen Weg durch die Arena, wobei er den schwingenden bō-Stäben der anderen Paare, die noch im Wettbewerb standen, auswich.

Nach einem Moment bemerkten alle das Problem in der Mitte der Arena und ließen ihre Stäbe sinken, um es zu beobachten.

»Beruhige dich, Bella. Es ist doch nur ein Kurs.« Raven machte einen Schritt zurück und bemerkte zu spät, dass jemand einen Helm hinter ihr fallen gelassen hatte. Sie stolperte und fiel darüber, als Bella nach ihrem Kopf schlug.

Raven rollte sich aus dem Weg, kam auf die Knie und hielt ihren Stab hoch, um den Schlag abzublocken, zu spät, um ihre Finger aus dem Weg zu schaffen. Sie spürte ein scharfes Pfock , zuckte zusammen und kam auf die Füße, wobei sich ihr Stab wie eine Wippe nach rechts und links bewegte. Sie konterte jede von Bellas Bewegungen, gab keinen Zentimeter nach und stieß sie zurück, bis ihre Gesichter nur noch Zentimeter voneinander entfernt waren.

»Es reicht, Bella«, sagte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen.

»Erst wenn ich gewonnen habe!«

Raven spürte Bellas heißen Atem auf ihrem Gesicht, sog die Luft ein und stieß so fest zu, wie sie konnte. Die Kraft, die sie durch das Reiten von Leander gewonnen hatte, zahlte sich aus. Bella fiel rücklings auf den Boden. Raven hob die Stange und wollte gerade nach vorn springen, um die Spitze gegen Bellas Kehle zu drücken, als diese etwas flüsterte, so leise, dass niemand es hören konnte.

Ravens Stab erhitzte sich in ihren Händen und wurde Zentimeter für Zentimeter zu Asche, bis sie ihn loslassen musste.

»Magie!«, schrie Raven, ihre Hände frei von jeder Waffe.

Bella stand auf und ignorierte den Professor, der Jenny den bō-Stab aus den Händen riss und quer durch die Arena auf sie zustürmte.

Bella stürzte sich auf Raven, die darüber nachdachte, einen Zauberspruch zu benutzen. Sie wich zurück, bis sie nah genug an einem anderen Paar war, um nach einem anderen bō-Stab zu greifen. Der Schüler reichte ihn ihr.

»Fairer Kampf«, spottete sie über Bella.

In der Ferne ertönte ein lautes Kreischen. Ein paar Schüler hörten es und schauten zum Himmel. Alle anderen beobachteten weiter die beiden Mädchen in der Mitte der Arena.

Bella fluchte leise vor sich hin und murmelte etwas. Raven wurde sich gewahr, dass ihr rechter Fuß im Sand feststeckte. Sie starrte Bella mit zusammengekniffenen Augen an und verlagerte ihr Gewicht so gut sie konnte, um sich mit einem Fuß im Boden zu verteidigen.

Das Kreischen wurde lauter. Einige Schüler hielten sich die Ohren zu und viele sahen sich nach der Quelle um. Jetzt hatte es die Aufmerksamkeit aller erregt.

»Seht mal da!«, rief ein kleines Mädchen mit lockigen braunen Haaren. »Es ist ein …« Ihre Stimme wurde von einem weiteren langen Kreischen übertönt und sie hielt sich die Hände über die Ohren und kletterte eilig die Tribüne hinunter.

Als Bella ihren bō-Stab hob und ihn auf Ravens Kopf zuschwang, fiel ein Schatten über sie beide. Ein Feuerstrahl erhellte den Boden zwischen ihnen.

Raven spürte, wie sich die Luft um sie herum bewegte und blinzelte nach oben, wo sie den flügelschlagenden Leander über sich erblickte. Ein zerrissenes Lederband baumelte von seinem Hinterbein. Er schlug mit seinen Flügeln in die Luft, während er herunterkam und immer noch eine Linie aus Flammen zwischen Raven und Bella legte.

Bella stieß einen Schrei aus, ließ ihren bō-Stab fallen und brach den Bann, während sie zur Tribüne rannte. Alle versuchten, sich zu den verschlossenen Ausgängen zu drängen, außer dem Professor und Raven, die ihren Stab fallen ließ und ihre Hände ausstreckte.

Leander landete neben ihr, als der Professor mit dem Handgelenk zuckte und die Türen öffnete. Die Schüler strömten hinaus. Nina Quint rannte in die Haupthalle und schrie um Hilfe, einige andere folgten ihr.

»Leander! Was machst du denn hier? Wie konntest du dich befreien?« Raven warf ihren Helm ab und schlang ihre Arme um den Hals des Drachen, der sich zwischen sie und die anderen stellte.

»Ich konnte deine Not deutlich spüren. Ich wusste, dass du in Schwierigkeiten steckst, also habe ich einen Weg gefunden.«

Henry blieb an der Tür stehen, Murphy neben ihm. »Ist das dein Drache?«, rief er mit offenem Mund. Maxwell lugte aus seiner Schultasche und schnalzte mit der Zunge. »Wow! Du bist eine Legende!«

»Ich habe es dir ja gesagt!«, triumphierte Murphy.

Leander faltete seine Flügel ein und stand immer noch wachsam da, die Ohren nach hinten gedrückt und den Schwanz in der Luft, die Spitze auf den Lehrer gerichtet.

»Es ist alles in Ordnung! Mir geht es gut, zumindest jetzt«, sagte Raven und legte ihren Kopf auf die schimmernden Schuppen. »Du wusstest, dass ich in Schwierigkeiten stecke«, flüsterte sie und ihre Augen schimmerten. Sie trat einen Schritt zurück, bis sie dem Drachen in die Augen schauen konnte. »Wie bist du ausgebrochen?«

»Der Verschlag ist nur noch Kleinholz.«

»Ich wusste nicht, dass das möglich ist.«

»William schien auch ein wenig überrascht zu sein.«

»Und der Zauberspruch?«

»Mein Wille war stärker.«

Es gab ein Handgemenge an der Tür und Schulleiter Flynn kam, gefolgt von mehreren anderen Professoren, hereingestürmt. Einige von ihnen hatten Pfeil und Bogen dabei und Professor Ridley hielt ein Schwert.

Raven stellte sich mit ausgebreiteten Armen vor Leander. »Halt! Halt! Er wird Ihnen nichts tun!«

»Geh aus dem Weg, Raven Alby. Ein Drache, der sich losreißen kann, ist eine Gefahr für uns alle. Er muss gestutzt werden.« Professor Fellows wollte nach Ravens Arm greifen, aber ein plötzlicher Flammenschwall, der die Ränder seines Ärmels versengte, ließ ihn zurückweichen.

»Wenn Sie mir nicht drohen, wird er Ihnen auch nicht drohen.« Raven warf dem Professor denselben kalten Blick zu, den sie zuvor an ihm gesehen hatte. »Das ist mein Drache, mein Krafttier und ich werde ihn beschützen, so wie er mich beschützt. Keiner rührt ihn an.«

Bella Chase schlenderte zurück in die Arena und verweilte in der Nähe der Tür. Sie beobachtete mit großen Augen, wie Raven gegen die Lehrer der Akademie und den Schulleiter antrat.

»Ich werde ihn hier rausreiten«, erklärte Raven.

Mehrere Professoren begannen zu protestieren.

»Aber es gibt keinen Sattel. Das können Sie nicht tun.«

»Sie könnten verletzt werden. Das können wir nicht zulassen.«

Raven stand fest vor Leander. »Bei allem Respekt, das ist keine Bitte. Niemand tut diesem Drachen etwas an.«

Die Proteste hielten an und einige drängelten sich vor, was dem Drachen ein leises Knurren und Raven einen finsteren Blick entlockte.

Der Schulleiter hatte die ganze Zeit geschwiegen und Raven und den Drachen beobachtet. Er trat vor und hielt die Hände offen vor sich. »Ruhe«, bellte er die anderen an und erschreckte alle.

Er schaute Raven an, ein Funke der Verwunderung in seinen Augen. »Ich habe lange darauf gewartet, das wieder zu sehen.« In seinen Mundwinkeln zeichnete sich der Beginn eines Lächelns ab. »Ich dachte, es würde nie wieder passieren. Drachen sind zu Lasttieren und Werkzeugen geworden.«

»Ich bin niemandes Werkzeug!«, knurrte Leander und Rauch quoll aus seinem Mund.

Bella keuchte, rührte sich aber nicht von der Stelle.

»Nein, ich wage zu behaupten, dass du das nicht bist«, sagte der Schulleiter. »Du bist nicht einmal ein Soldatendrache.« Er warf einen längeren Blick auf Raven, die mit gesenktem Kinn und ausgebreiteten Armen unter dem Kopf des Drachen stand. »Sie sehen aus wie Ihre Mutter, die da steht, nur mit einem kleinen Unterschied. Sie wissen, wie man reitet.«

Schulleiter Flynn lächelte und zwinkerte. Er drehte sich zu den anderen um. »Also gut, es scheint, die Prüfung ist gekommen. Wir werden Fräulein Alby die Chance geben, uns zu zeigen, was ihr Krafttier kann und ob sie ihn unter Kontrolle hat.«

»Das kann doch nicht Ihr Ernst sein«, stotterte Professor Gilliam.

»Haben Sie je erlebt, dass ich scherze?« Der Schulleiter seufzte. »Setzen Sie sich alle hin. Sie auch, Fräulein Chase. Sie werden das hier sehr informativ finden, da Sie aus einer ähnlichen Familie stammen.«

Bella drückte sich an die Wand, fand ihren Weg zur Tribüne und setzte sich.

»Wir werden später darüber reden, was Sie im Unterricht getan haben«, sagte der Schulleiter und warf ihr einen ernsten Blick zu.

Bella schluckte hart und rutschte zurück auf die Tribüne, um Leander anzustarren.

»In Ordnung, Fräulein Alby, Sie haben das Wort. Zeigen Sie uns, dass Sie den Drachen unter Kontrolle haben.« Der Schulleiter nahm Platz, lächelte streng und kniff die Augen zusammen.

Die anderen setzten sich widerwillig, als Raven sich umdrehte und Leander gegenüberstand. »Wir können das hier machen, wenn du willst oder wir können nach Hause fliegen. Zur Hölle, wir können fliegen, wohin du willst«, flüsterte sie.

Der Drache stupste sie mit seinem Kopf an und drückte sie zurück. »Zeigen wir es ihnen allen. Steig auf.«

»Aber wir haben keinen Sattel.«

»Vertraust du mir?«

Raven hielt inne und starrte ihm in die Augen. »Ganz und gar«, antwortete sie und stieg auf sein Bein, um ihn zu erklimmen. Sie setzte sich direkt hinter seine Ohren, ihre Beine hingen um seinen Hals. Einige der Professoren stöhnten auf, als Leander seine Flügel öffnete und sanft abhob.

»Du schaffst das, Raven!« Henry schlug in die Luft und stand auf der Tribüne auf. Murphy stand neben ihm und hielt sich die Hände vor den Mund.

»Kreise nach links«, befahl Raven, laut genug, dass es alle hören konnten. Sie verlagerte ihr Gewicht, als er eine Kurve machte und die Spitze seines Flügels über die Köpfe der Zuschauer hinweg glitt. Alle neigten den Kopf, um die Sonne zu sehen, die durch die rote Haut des Flügels schien und ihre Haare zersausten sich im Wind, als der Drache seine Richtung änderte.

Schulleiter Flynn ging hinüber, hob einen bō-Stab auf und hielt ihn in die Luft. »Er soll sich auf den Stab setzen, ohne ihn herunterzudrücken.«

Raven beugte sich vor und balancierte ihr Gewicht aus. »Lande!« Leander faltete seine Flügel gerade so weit, dass er die Strömung der Luft genau so einfing, dass er auf dem Stab balancierte und sich dort mitsamt Raven auf seinem Hals hielt.

»Kreise nach rechts«, befahl Raven und der Drache breitete seine Flügel aus und hob sie beide an, während er nach rechts auswich.

»Jetzt!«, rief der Schulleiter. Raven wusste, was er verlangte und nickte. Sie setzte sich aufrecht hin, damit klar war, dass sie Leander nichts zuflüsterte.

Sie zwang sich, langsam und gleichmäßig zu atmen, als der Drache die Schultern sinken ließ und zu ihr zurückblickte. Er flog nach rechts und blies einen Feuerstrahl in einem perfekten Kreis in die Mitte der Arena um den Schulleiter.

Leander machte eine scharfe Kurve, während Raven sich an seinen Ohren festhielt und sich mit den Beinen festklammerte. Dann flog Leander eine Acht und ging tiefer, um dem Schulleiter die Stange mit seinen Krallen zu entreißen.

Raven atmete erleichtert auf, sagte aber immer noch nichts. Sie erhoben sich in die Luft, bis sie weit über der Arena waren. Die Lehrer keuchten, zeigten auf sie und sprangen auf.

»Ich wusste, dass das eine schlechte Idee war!«

»Jemand soll die Messer holen!«

Mit einem zufriedenen Grinsen im Gesicht trabte Schulleiter Flynn aus dem Haupteingang und lief weiter, bis er den Vorhof erreichte. Er lehnte sich zurück, beschattete seine Augen mit der Hand und beobachtete, wie der Drache durch die Wolken brach und langsame, träge Kreise zog, bevor er neben ihm landete.

Raven lachte und ihre roten Haare fielen ihr ins Gesicht. »Er hat es geschafft! Er hat es geschafft! Juuuuhuuuu!« Sie schlug in die Luft und richtete sich auf dem Drachen auf. Leander brüllte vor Freude und hielt still mit dem Mädchen auf seinem Hals.

»Kommen Sie hier runter!« Der Schulleiter winkte erfreut, als die anderen ihn einholten. Bella Chase blieb am Rande der Menge und schaute immer noch erstaunt zu.

Raven kletterte herunter, sprang von Leanders Bein und landete auf dem Boden. »Er hat es geschafft! Ich wusste, dass er es schaffen kann!«

Leander beugte sich vor und stupste sie mit seinem Kopf an. »Wir haben es geschafft.« Seine Stimme grollte leise und vibrierte in Ravens Brust.

Schulleiter Flynn lächelte. »Ja, Raven, der Drache hat recht. Ihr habt es beide getan und zwar genau so, wie es euch aufgetragen wurde. Er hat gespürt, was du wolltest, ohne dass du ein Wort gesagt hast. Du, Raven Alby, hast bewiesen, dass du einen Drachen als dein Krafttier hast.« Der Schulleiter schaute zu Leander auf und lächelte wieder. »Willkommen an der Fowler-Akademie, Leander.«

»Nicht so schnell.« Bella drängte sich an die Spitze der Menge. »Dieser Drache hat seine Tests nicht bestanden. Ich habe doch recht, oder? Wenn er das nicht kann, müssen ihm die Flügel gestutzt werden und er kann kein Krafttier sein.«

»Ich habe dir doch gesagt, dass Bella mit ‹h‹ geschrieben wird.« Henry warf ihr einen zornigen Blick zu.

Das Lächeln verschwand aus Ravens Gesicht, sie loderte vor Wut. »Kein Problem.« Ihre Stimme klang eisig. »Leander wird die Prüfungen bestehen und endlich frei sein!«

Der Schulleiter klopfte Raven auf die Schulter und trat zurück. »Bring den Drachen erst einmal zurück zum Moss-Hof. Wenn er besteht und ich weiß, dass er das wird«, sagte er und nickte, »bring ihn zurück und wir können hier einen Platz für ihn finden, wo er leben kann. Das hast du gut gemacht, Kriegsmagierin in Ausbildung«, sagte er mit einem Augenzwinkern. »Folge mir. Ich habe etwas, das du dir ausleihen kannst, aber ich werde es wiederhaben wollen.«

Der Schulleiter führte Raven und Leander zu den Scheunen. »Wartet hier.« Er verschwand kurz darin und kam mit einem schwarzen ledernen Drachensattel wieder heraus, auf dessen Seiten das Symbol der Reitenden Zauberer eingebrannt war. Der Sattel war an einigen Stellen abgenutzt und sah vom Krieg gezeichnet, aber brauchbar aus.

»Darf ich?« Er sah zu Leander auf und wartete auf ein Nicken, bevor er ihn ihm über den Rücken warf und nach den Riemen griff, mit denen der Sattel befestigt wurde.

Raven stammelte: »Das ist der Sattel eines Reitenden Zauberers .« Sie sah den Schulleiter an. »Das ist Ihr Sattel.« Sie spürte, wie ihr der Atem stockte. »Der ist aus dem Großen Krieg«, hauchte sie voller Ehrfurcht.

»Ja, das ist er und ich vertraue ihn dir an. Bring ihn in demselben erbärmlichen Zustand zurück, in dem er jetzt ist. Ich habe ihn sehr lieb gewonnen. Herzlichen Glückwunsch, Raven Alby. Der Erste von vielen Erfolgen, da bin ich mir sicher.«

»Bist du bereit?« Leander ließ sich auf den Boden fallen und wartete auf Raven.

Raven klatschte lächelnd in die Hände, stellte einen Fuß in den Steigbügel, sprang auf den Drachen und ließ sich in den Sattel sinken. »Danke, Schulleiter Flynn. Ich werde ihn so schnell wie möglich zurückbringen. Vielen Dank für alles!«

»Sie haben es verdient, Fräulein Alby. Wo ist Bella Chase? Kommen Sie mit, junge Dame. Wir müssen ein paar Dinge besprechen, zum Beispiel, was Sie beim Nachsitzen machen werden.«

Leander breitete seine Schwingen aus und hob sie in die Luft. Raven stand jubelnd in den Steigbügeln und griff nach den Wolken.