Tom kniff die Augen zusammen. Durch den grauen Nebel konnte er Tagus gerade noch erkennen. Der Pferdemann galoppierte über das Grasland davon.
„Auf Wiedersehen!“, rief Tom ihm hinterher. „Und vielen Dank!“
Tagus hatte Tom und Elenna geholfen, Striatos zu besiegen. Ein böses Biest, das Sanpao, dem Piratenkönig, diente. Tom schauderte bei dem Gedanken an Striatos’ tödliche Krallen und seinen Skorpionschwanz. Tagus war gerade noch rechtzeitig gekommen.
Der Nebel waberte wellenartig über die Ebene und hüllte Toms und Elennas Beine ein. Storm und Blizzard, ihre treuen Pferde, wieherten unruhig.
Elenna leckte ihren Zeigefinger an und hielt ihn in den Dunst. „Sieh mal“, sagte sie und zeigte ihn Tom. Ihr Finger war mit einer feinen Staubschicht bedeckt. „Das ist kein gewöhnlicher Nebel.“
Ein fernes Rumpeln ließ den Boden erzittern. Im Westen schoss orangefarbenes Licht zum Himmel hoch. Eine Eruption war zu hören, dann regnete graue Asche auf Tom und Elenna herab und legte sich auf ihre Kleider und das Fell ihrer Pferde. Tom hustete und wischte sich den Staub aus den Augen.
„Der Vulkan bei Stonewin bricht aus“, sagte er. „Das ist kein Nebel, das ist Vulkanasche.“
Wieder rumpelte es. Es fühlte sich an, als ob es tief in der Erde donnerte. Storm stieg auf die Hinterbeine und wieherte alarmiert.
„Ruhig, ganz ruhig“, sagte Tom zu seinem treuen Hengst. „Wenn ich nur meinen Juwelengürtel hätte“, sagte er zu Elenna. „Dann könnte ich Eposs fragen, was los ist. Ich hoffe, es geht ihm gut.“ Der Vulkan war die Heimat des Flammenvogels.
Tom hatte den Gürtel vor langer Zeit bei einer Mission gewonnen. Er war mit Juwelen besetzt, die ihm besondere Fähigkeiten verliehen. Mit dem roten Juwel konnte er die Biester verstehen. Aber Sanpao hatte Aduro, den guten Magier von Avantia, verzaubert. Daraufhin hatte dieser Tom den Juwelengürtel gestohlen und dem Piratenkönig gebracht, der nun die magischen Kräfte nutzen konnte. Statt des Gürtels trug Tom eine Schärpe aus Tierhaut, die Aduro ihm angehext hatte. Den Zahn von Striatos hatte Tom in die Schärpe gesteckt. Nach jedem Kampf mit Sanpaos Biestern hinterließen sie Tom einen Gegenstand. Jeder hatte eine magische Kraft, konnte aber nur ein einziges Mal verwendet werden.
Elenna öffnete Storms Satteltasche und holte eine zusammengerollte Karte heraus. Sie war aus der Rinde des Baums des Seins gemacht. Der Baum war ein magisches Portal zu verschiedenen Welten. Sanpao und seine Piratenmannschaft waren entschlossen, den Baum zu erbeuten. Wenn er in ihrem Besitz war, konnten sie plündern und rauben, wo immer sie wollten. Es war Toms Mission, dies zu verhindern. Aber Elenna und er hatten noch andere Gründe, warum sie die Piraten besiegen wollten. Toms Mutter, Freya, und Elennas geliebter Wolf, Silver, waren in Tavania gefangen. Der Baum des Seins konnte ein Portal in das fremde Königreich öffnen und war ihre einzige Hoffnung auf die Rettung ihrer Lieben.
Elenna rollte die Karte auf. Der Umriss des Königreichs war in die Rinde gekratzt. Tom überflog den vertrauten Anblick von Avantia, wo Elenna und er schon so viele Abenteuer erlebt hatten.
„Elenna, schau mal.“ Er deutete auf ein bewaldetes Tal neben dem Vulkan. Er las die Schrift darunter. „Das verborgene Waldland.“
„Ich habe noch nie davon gehört“, sagte Elenna erstaunt. „Wir sind schon durch ganz Avantia gereist, aber es gibt immer noch Orte, an denen wir nicht waren.“
Der Baum des Seins erschien als kleines Bild mitten im Waldland. Der Baum stand nicht an einer bestimmten Stelle, sondern wanderte umher, um sich vor Angriffen zu schützen. Er wuchs blitzschnell aus dem Boden und verschwand genauso schnell wieder. Tom und Elenna mussten schnell zu dem neuen Standort eilen, um vor den Piraten dort zu sein.
„Da müssen wir also hin“, sagte Tom.
„Da werden wir also das nächste Biest treffen“, fügte Elenna hinzu.
Tom nickte. Nachdem sie Striatos besiegt hatten, hatte Sanpao sie gewarnt, dass das nächste Biest noch viel schrecklicher sein würde.
Tom steckte die Karte zurück in die Satteltasche. Der Hengst warf den Kopf auf und ab und schüttelte die Asche ab. Tom klopfte ihm auf die Flanke, bevor er sich in den Sattel hochzog. Elenna stieg auf Blizzards Rücken. Die schneeweiße Stute hatte Elenna von Abraham, dem Pferdeflüsterer, geschenkt bekommen, den sie vor Striatos gerettet hatten. Blizzard zuckte vor der Asche zurück und wieherte verängstigt. Elenna lehnte sich über ihren Hals, streichelte ihr über die Mähne und murmelte ihr beruhigend zu.
„Sie gewöhnt sich an dich“, sagte Tom lächelnd, nachdem Blizzard sich beruhigt hatte. „Silver wird eifersüchtig werden.“
Elenna sah zu Boden. Tom fühlte sich schuldig.
„Du wirst ihn wiedersehen“, versprach er. „Wir werden Sanpao besiegen und Silver und meine Mutter zurückholen.“
Sie galoppierten in nordwestliche Richtung über die Grasebene. Je näher sie dem Vulkan kamen, desto mehr Asche hing in der Luft. Es wurde auch wärmer. Auf Toms verschwitzter Haut klebte der Staub. Elennas Gesicht war rußverschmiert, als wäre sie in einen Kohlehaufen gefallen. Ascheflocken wirbelten um sie herum. Tom verschluckte sich, als sie ihm in den Hals drangen.
„Zieh deinen Kragen hoch und atme durch den Stoff hindurch“, riet Elenna ihm, die schon Nase und Mund bedeckt hatte. Tom tat es ihr nach und konnte wieder besser atmen. Sie holten die Decken aus Storms Satteltaschen, mit denen sie sich nachts zudeckten, legten sie über die Nasen ihrer Pferde und machten sie am Zaum fest.
Tom und Elenna ritten mit ihren Pferden durch das hohe Gras, sprangen über Gräben und wateten durch Flüsse. Sie waren beinahe den ganzen Tag geritten, als der Boden fester wurde und die Hufe über Steine und Kiesel klapperten. Durch die Asche konnten sie ein Dorf erkennen.
„Ich kenne diesen Ort!“, rief Tom Elenna zu. „Wir sind nördlich vom Wald des Grauens.“
Er schirmte die Augen mit der Hand ab und kniff sie blinzelnd zusammen. Er erkannte eingestürzte Häuser. Rauchwolken stiegen von ihnen auf und vermischten sich mit der Asche am Himmel.
„Was ist geschehen?“, fragte Elenna.
Sie ritten näher und sahen Menschen aus dem Dorf strömen. Frauen und Männer mit Bündeln auf dem Rücken. Sie hörten Kinder weinen und schluchzen, die von ihren Eltern zur Eile angetrieben wurden. Plötzlich ertönte ein Rufen aus der Menge.
„Seht, sie sind gekommen, um uns zu helfen! Hier drüben! Bitte helft uns!“
Die Leute rannten durch den Ascheregen auf die Freunde zu und drängten sich um Storm und Blizzard. Ihre Gesichter waren blass und ihre Augen vor Schreck weit aufgerissen.
Ein bärtiger Mann trat zu Tom. „Unser Dorf ist geplündert worden von … oh, dieser Ausdruck in ihren Augen!“ Der Mann brach weinend zusammen.
Tom wusste, wer die unschuldigen Menschen angegriffen hatte. Es gab in Avantia nur eine Bande von Männern, die zu solch einer üblen Tat fähig waren.
„Piraten“, murmelte Tom. „Elenna, das waren Sanpaos Männer.“