Tom ließ sich auf den Boden fallen und rollte unter die Hängematte. Er lag ganz still, doch sein Herz klopfte wild. Quer über den Platz konnte Tom Elenna sehen, die sich unter einen Stand geduckt hatte. Tom hörte, wie der Pirat seinen Dolch zog. Er hielt den ausgestreckten Arm in die Luft und fuchtelte mit seinem Dolch herum.
„Verfluchtes Land! Ich bilde mir schon Sachen ein“, murmelte er leise. Die Hängematte schwang hin und her, als er sich zurücklegte. „Je schneller wir den Baum finden, desto besser.“ Er grunzte und schnarchte bald wieder tief und gleichmäßig.
Tom stieß einen erleichterten Seufzer aus. Elenna kam aus ihrem Versteck und Tom rollte sich unter der Hängematte hervor. Das Entermesser hatte er immer noch in der Hand. Schnell klapperte er die anderen Hängematten ab und sammelte die Waffen ein. Dann kniete er sich neben Aaron. Sanft rüttelte er den Jungen an der Schulter.
Aaron schlug die Augen auf. Tom legte ihm die Hand auf den Mund, bevor er schreien konnte.
„Alles in Ordnung“, wisperte Tom. „Wir sind hier, um dich zu befreien. Folge mir.“
Aaron nickte, dann huschten sie über den Platz und duckten sich wieder hinter den Karren. Elenna kniete sich mit den Armen voller Klingen und Pfeile neben sie. Ein Entermesser, das Tom gefunden hatte, schlug gegen eine Armbrust. Das Geräusch hallte wie Glockenläuten über den Platz. Die Kinder erstarrten, aber die Piraten schnarchten weiter.
„Das war knapp“, flüsterte Elenna.
„Wir werden die Piraten jetzt in eine Falle locken“, erklärte Tom Aaron. „Bleib hier und verstecke dich. Und benutze das hier, falls es sein muss.“ Er gab ihm einen Dolch, dann wandte er sich an Elenna. „Los, bringen wir die Piraten hinter Schloss und Riegel.“
Sie entfernten sich vom Platz und liefen durch die zerstörten Straßen zurück. Am Gefängnis angekommen, öffnete Tom die knarzende Tür und sie häuften die Waffen an der hinteren Wand auf. Im Fackellicht schimmerten und glänzten sie.
„Sieht aus wie ein Schatz“, meinte Tom. „Die Piraten werden mit Sicherheit nachsehen, was es ist. Ich gehe sie aufwecken, dann renne ich hierher zurück und verstecke mich.“ Tom reichte Elenna eine der erbeuteten Waffen. Einen langen Degen, der in die Vertiefungen neben der Tür passte. „Wenn die Piraten drin sind, sprinte ich raus. Dann springst du runter und hilfst mir, die Tür zu verbarrikadieren.“
Elenna legte den Kopf schief. „Klingt gut, bis auf eine Sache.“ Sie drückte Tom den Degen in die Hand. „Ich sollte diejenige sein, die die Piraten weckt und sich hier versteckt.“
„Aber das würde bedeuten, dass du in großer Gefahr –“
„Schau dir die Nische hinter der Tür an“, unterbrach Elenna ihn. „Sie ist winzig. Ich bin schmaler als du. Also sollte ich diejenige sein, die sich dort versteckt.“
Tom grinste und nickte. Nicht zum ersten Mal war er froh, dass Elenna ihn auf seinen Missionen begleitete.
Er sah ihr nach, wie sie zum Platz zurückging. Als sie nicht mehr zu sehen war, kletterte er die Steintreppe hoch. Frische Ascheflocken hatten die Fußspuren zugedeckt, die Elenna und er hinterlassen hatten. Tom lehnte sich vor und kontrollierte, ob er direkt über der Tür war. Dann kauerte er sich hin. Der Degen lag neben ihm.
„Ahoi, ihr feiges Pack!“ Die Stimme durchschnitt die Nacht. Da war Elenna. Sie sprintete auf das Gefängnis zu. Zu Toms Überraschung blieb sie plötzlich stehen. „Da wartet fette Beute auf uns!“, rief sie mit verstellter Stimme.
Tom musste ein Lachen unterdrücken. Seine Freundin tat so, als wäre sie ein Pirat.
Die Piraten stolperten hinter Elenna die Straße entlang. Sie gähnten und streckten sich, aber ihre Schritte wurden schneller, als sie Elennas Ruf hörten. „Ein Schatz! Hier in der Kammer!“ Dann lief sie in das Gefängnis.
„Seht euch das an!“, rief ein Pirat mit einer Narbe im Gesicht. „Gold! Wir werden die reichste Mannschaft sein, die jemals über das weite Himmelszelt gesegelt ist.“
Im Fackellicht waren ihre grinsenden Münder und gierigen Augen gut zu erkennen. Sie drängelten und schoben sich hinter Elenna her. Tom hoffte, dass sich seine Freundin gut versteckt hatte. Er stand auf und machte sich bereit zu springen.
„Das ist kein Goldschatz“, hörte Tom einen Piraten plötzlich schreien. „Das sind unsere Waffen!“
Elenna raste aus dem Gefängnis und schlüpfte aus der Tür. Tom sprang die Treppe hinunter und landete neben ihr. Sie stießen die Tür zu.
„Was ist hier los?“, fragte ein gefangener Pirat.
„Schnell“, keuchte Tom, als sich die Piraten gegen die Tür warfen.
Elenna und er rammten den Degen in die Vertiefungen neben der Tür. Tom drehte den Schlüssel um und steckte ihn in sein Wams. Die Piraten schlugen und traten von innen gegen die Tür, aber sie gab nicht nach.
Ein Pirat presste sein Auge an ein Astloch im Holz.
„Wartet nur, bis wir hier rauskommen“, zischte er. „Wir werden euch in ein Fass mit kochendem Teer stecken und euch dann über Bord werfen. Ihr werdet bereuen, überhaupt geboren worden zu sein!“
„Ihr seid diejenigen, die bereuen werden“, sagte Elenna mit ihrer Piratenstimme.
Sie rannten zum Dorfplatz zurück. „Sanpao hat jetzt ein paar Männer weniger“, keuchte Tom im Laufen. „Sie können keine Kinder mehr entführen und zu ihren Lehrlingen machen.“
„Aaron!“, rief Elenna, als sie den Platz erreichten. „Du bist in Sicherheit!“
Der Junge linste hinter dem Karren hervor. Ein Strahlen breitete sich auf seinem Gesicht aus und er rannte zu ihnen.
„Du kannst sprechen wie ein echter Pirat“, sagte er grinsend zu Elenna.
Elenna umarmte ihn und wuschelte ihm durch die Haare. „Los, bringen wir dich fort von hier.“
„Und dann machen wir mit unserer Mission weiter“, dachte Tom. „Ich muss zum Baum des Seins.“
Sie rannten die Treppe zur Mauer hoch.
Tom und Elenna halfen Aaron über die Brüstung. Er hielt sich kurz an der Mauer fest und sprang dann zu Boden. Elenna folgte ihm, dann Tom. Storm und Blizzard standen etwas entfernt neben einem Steinhaufen. Tom pfiff nach ihnen und sie kamen sofort angetrabt.
„Was habt ihr da drüben gemacht?“, fragte Elenna und strich Blizzard über die Mähne.
„Sie haben sich versteckt“, erklärte Tom grimmig. Er kniete sich neben eine Fußspur. Sohlen hatten den Umriss der Skelettpranke in der Asche hinterlassen. „Piraten müssen hier vorbeigekommen sein. Viele!“
Tom stand auf und folgte den Spuren mit den Augen. Ihm wurde eng in der Brust. „Sie gehen zum verborgenen Waldland, zum Baum des Seins. Wir dürfen keine Zeit verlieren.“
Elenna blickte zu Aaron, der Storm streichelte. „Wir können ihn nicht mitnehmen“, sagte sie leise. „Es ist zu gefährlich.“
Eine Gestalt tauchte hinter dem Steinhaufen auf, wo sich die Pferde versteckt hatten. Toms Hand legte sich automatisch auf den Schwertgriff. Da erleuchtete eine große orangefarbene Flamme den Himmel. Im Licht des Vulkanfeuers erkannte er Aarons Mutter mit dem Baby auf dem Arm.
Sie rannte auf sie zu. Aaron schlang die Arme um den Hals seiner Mutter und sie strich ihm über die Haare.
„Oh, vielen Dank!“, sagte sie zu Tom und Elenna. „Ich konnte nicht weggehen. Ich musste in seiner Nähe bleiben. Wie kann ich euch zurückgeben, was ihr für mich getan habt?“
„Geh mit deinen Kindern zur Küste. Dort seid ihr in Sicherheit“, antwortete Tom.
Elenna und er sahen zu, wie die Frau mit den Kindern in der Dunkelheit verschwand.
„Einen konnten wir aus der Gewalt der Piraten befreien“, sagte Tom. „Jetzt müssen wir noch das restliche Königreich retten.“