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Das verborgene Waldland

„Tom … Tom!“ Elenna rief nach ihm.

Er öffnete die Augen. Das Morgenlicht war trüb wie Spülwasser, weil so viel Asche durch die Luft schwebte. Sie waren die ganze Nacht geritten und jetzt viel näher an dem Vulkan. Lavafontänen schossen immer noch aus dem Krater. Tom war kurz im Sattel eingenickt, aber jetzt war er wieder hellwach.

„Wir müssen in der Nähe des verborgenen Waldlands sein“, meinte Elenna. Sie deutete auf die Fußspuren, die sich vor ihnen durch den Aschestaub schlängelten.

„Dass sie das Zeichen Sanpaos sogar auf den Stiefeln haben“, wunderte sich Tom. „Diese Spuren kommen aus einer anderen Richtung“, sagte er laut zu Elenna. „Sanpao hat überall in Avantia plündernde Truppen.“

Tom bemerkte einen graugrünen Schatten am Fuß des Vulkans. Es waren Bäume. Die Äste zitterten. Das Licht veränderte sich und der Schatten verschwand, dann tauchte er wieder auf – zart wie ein grünes Seidenband. Es war ein Wald, der Gestalt annahm und wieder verschwand.

„Da ist es!“, rief Tom. „Das verborgene Waldland.“

„Ich verstehe, wie es zu seinem Namen kam“, sagte Elenna grinsend.

Erst als sie den Waldrand erreichten, festigte sich der Wald endgültig und verschwand nicht mehr. So nah am Vulkan war die Asche viel dichter. Die Spuren der Piraten und die Hufabdrücke ihrer eigenen Pferde waren daumentief. Elennas Augen waren rot und tränten. Toms Mund und Nase waren voll mit dem bitteren Geschmack der Ascheflocken. Jedes Blatt und jeder Zweig waren mit Asche zugedeckt. Wie Schneewehen lag sie auf dem Boden und die Blumen beugten sich unter der Last. Irgendwo in diesem Wald war der Baum des Seins. Und Sanpao?

Sie ließen Storm und Blizzard am Waldrand zurück, wo sie wenigstens etwas vor der Asche geschützt waren und atmen konnten. „Bleib hier und ruhe dich aus“, sagte Tom und klopfte Storms schwarzen Nacken. Der Hengst wieherte und zupfte an Toms Haar. Elenna streichelte Blizzard zum Abschied.

Tom und Elenna betraten den Wald. Die Bäume sahen aus wie Gespenster. Asche rieselte von den Blättern und regnete grau herunter. Die Fußspuren der Piraten führten tief in den Wald hinein. Tom und Elenna folgten ihnen und sahen sich die ganze Zeit aufmerksam um.

„Wenn die Piraten hier sind, ist auch das nächste Biest nicht weit“, sagte Tom. Er zog sein Schwert und Elenna spannte einen Pfeil auf den Bogen.

Sie kamen zu einer Lichtung. Tom keuchte. Durch die Reihen der weiß gefärbten Stämme erkannte er in der Mitte einen braunen Baumstamm, der weit über die anderen Bäume hinausragte. Der Stamm war so dick wie die Spanne von Toms Armen. Die Rinde glänzte wie poliertes Leder. Dutzende dunkelgrüne Blattkeimlinge entrollten sich zu Blättern, die wie Smaragdsplitter glitzerten.

„Der Baum des Seins“, rief Tom.

Sie gingen zum Stamm und strichen mit den Händen über die glatte, dunkle Rinde.

„Kaum zu glauben, dass er dürr und verdorrt war, als wir ihn das erste Mal gesehen haben“, sagte Elenna.

„Er wird mit jedem Biest, das wir besiegen, stärker“, erwiderte Tom. „Wenn wir Sanpao aus Avantia verjagen, wird der Baum vielleicht seine vollständige Kraft zurückerhalten.“

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„Und ich kann meine Mutter holen“, dachte er noch. Ihr edles Gesicht kam ihm in den Sinn. Ob sie wusste, dass er an sie dachte und versuchte, sie zu retten?

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Während sie neben dem Baum standen, hatten sich dichte Aschewolken um sie gelegt. Tom konnte kaum noch die anderen Bäume erkennen. Seine Haut prickelte am ganzen Körper. Durch die Erfahrung, die er auf seinen vielen Missionen gesammelt hatte, wusste er, dass etwas Böses in der Nähe lauerte. Verborgen in der Asche.

Wusch! Ein Netz flog über seine rechte Schulter. Es zog sich um seinen Schild zusammen und wurde zurückgerissen. Samt Schild verschwand das Netz zwischen den Ästen.