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Durch Nana Jo und ihre Freundinnen hatte sich das Bild, das ich bisher von betagten Mitbürgern gehabt hatte, völlig gewandelt. Diese alten Damen waren nicht nur kreativ und intelligent, sondern auch aktiv und lebhaft. Es machte Spaß, mit ihnen zusammen zu sein.

Der Lunch in Randy’s Steak House war nur der Anfang. Nach dem Buffet wurden im örtlichen Schönheitssalon die Haare zum halben Preis frisiert. Rabattcoupons, die zwei zum Preis von einem versprachen, führten zu einer wilden Jagd durch nicht weniger als drei Supermärkte, und mein SUV füllte sich mit Toilettenpapier, Zahnpasta und Seife. Die Damen glaubten, die am unteren Rand der Coupons aufgedruckte Anzahl, die pro Haushalt abgegeben würde, fordere nur dazu heraus, überschritten zu werden, indem man möglichst viele Geschäfte aufsuchte.

Ich muss zugeben, ich freute mich über einen Ölwechsel zum halben Preis und eine kostenlose Wagenwäsche, die ich erhielt, weil Nana Jo meinen Wagen durch Mr Quickies’ Waschanlage fuhr. Margaritas zum halben Preis hätten mir noch mehr Freude gemacht, wenn ich sie hätte trinken dürfen. Als designierte Chauffeurin hielt ich mich jedoch an Cola, während die Damen sich die Kante gaben. Nach so viel Rührigkeit war ich schließlich erschöpft, doch es dauerte noch Stunden, ehe ich alle überzeugen konnte, dass es Zeit für die Heimfahrt war.

Dorothy flirtete mit einem Mann, der kaum älter war als ihr Sohn und kaum größer als ihr Enkel. Ich musste allerhand versprechen und Nana Jo allerhand androhen, damit sie sich endlich zum Wagen bringen ließ.

Todmüde legte ich mich zu Hause ins Bett und ließ mir die vielen neuen Details durch den Kopf gehen. Die Herkunft des Reichtums war besonders interessant. Wie waren die Parkers an so viel Geld gelangt? Wie konnten drei Brüder, die arm wie die Kirchenmäuse in den Krieg gezogen waren, so reich zurückkehren, dass sie zu Stützen der Gesellschaft wurden?

Ich bezweifelte, dass ich das je erfahren würde, und war mir auch nicht sicher, ob das eine Rolle spielte. Das Kriegsende lag so viele Jahre zurück, und wenn es einen Zusammenhang zwischen dem Krieg und ihrem Reichtum gab, konnte Clayton Parker nichts damit zu tun gehabt haben. Er war nicht vor Kriegsende zur Welt gekommen. Nein. So interessant das Rätsel war, es hatte nichts mit seiner Ermordung zu tun.

Was wusste ich mit Bestimmtheit? Vor sechs Monaten hatte sich etwas geändert. Bis dahin hatte Clayton Parker seine Beiträge pünktlich gezahlt. Er mochte seine Kunden betrogen haben, doch das war anscheinend für ihn nicht ungewöhnlich. Ich vermutete stark, dass er das schon jahrelang getan hatte.

Vor sechs Monaten war sein Onkel David aus dem Gefängnis entlassen worden. Gab es da einen Zusammenhang? Die zeitliche Übereinstimmung war derart auffällig, dass man sie nicht abtun konnte. Ich nahm mir vor, mich am nächsten Tag selbst schlauzumachen. Ich wollte möglichst viel über Clayton Parker erfahren, und dazu würde ich mich als Erstes an meinen Makler wenden. Er achtete auf alles, was in der Stadt vor sich ging. Außerdem hatte ich den Ehrgeiz, neben meiner Nana und ihren Freundinnen gut dazustehen.

Der Schlaf wollte sich nicht einstellen. Ich brauchte etwas, das mir half abzuschalten. Ich musste mich irgendwie von dem Fall ablenken, und dafür kannte ich das richtige Mittel.

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»Darling, ich wusste, ich kann auf dich zählen. Du warst immer ein Gentleman. Ich wusste, du würdest mich vor der Polizei beschützen.« Daphne zog einen Schmollmund. »Allerdings hatte ich gehofft, du würdest nichts über mein Kleid sagen oder darüber, dass du mich aus dem Labyrinth kommen sahst. Aber das können wir noch hinbiegen.« Sie legte wieder den Kopf an seine Brust und schmiegte sich an ihn wie ein Kätzchen.

Zum ersten Mal sah Victor wirklich klar.

»Ich wusste, ich kann mich auf dich verlassen«, sagte sie wieder. »Du bist mein Ritter in glänzender Rüstung, der das Fräulein in Nöten rettet.«

Victors Blick fiel auf ihre Frisierkommode. Er schaute in den Spiegel und war froh, dass Daphne sein erschrockenes Gesicht gerade nicht sehen konnte. Was er sich immer gewünscht hatte, war in Erfüllung gegangen: Er hielt Daphne im Arm. Der Duft ihres Parfüms hüllte ihn ein und machte ihn schwindlig. Sie hatte ihn als »ihren Ritter« bezeichnet. Sie war alles, was er sich wünschte. Oder nicht?

Nach kurzem Anklopfen und einem diskreten Hüsteln kam Penelope ins Zimmer. Nervös machte sich Victor von Daphne frei. Verwundert, wieso es ihm etwas ausmachte, dass Penelope ihre Umarmung gesehen hatte, stand er auf und fühlte sich nicht imstande, ihr in die Augen zu blicken.

»Detective Inspector Covington ist da. Er möchte dich sprechen, Daphne. Es könnte einen ungünstigen Eindruck machen, wenn er euch so zusammen sieht.« Sie vermied es ebenfalls, Victor anzusehen.

Er glaubte, dass ihn nichts mehr so sehr erschüttern könnte wie Pennys Gesichtsausdruck, als sie ihn in den Armen ihrer Schwester entdeckt hatte. Doch dann sagte Daphne: »Aber warum denn? Schließlich werden wir heiraten.«

»Tod durch eine oder mehrere unbekannte Personen.« Penelope teilte ihrer Tante und ihrem Onkel das Urteil des Coroners mit.

»Nun, damit war zu rechnen, liebe Penny.« Lady Elizabeth strickte in einem Sessel am Fenster. »Schließlich hat man den armen Mann erstochen aufgefunden.«

Lady Elizabeth Marsh war eine stattliche Frau von Mitte fünfzig und eine typische Angehörige des britischen Adels. Sie wusste zu jedem Empfang die richtigen Leute einzuladen, war stets passend gekleidet und benahm sich immer vorbildlich. Zudem bewies sie häufig eine Klugheit, die viele überraschte, die sie nicht gut kannten.

»Ganz recht, altes Mädchen. Der Coroner kann wohl kaum auf Selbstmord befinden, zumindest nicht heutzutage.« Lord William biss auf seinen Pfeifenstiel. Seinem Ton nach hegte er ein leises Bedauern, weil die guten alten Zeiten vorbei waren, da der Adel Respekt und Furcht einflößte und unschöne Morde unter den Teppich kehren konnte. Er zuckte mit den Schultern und rauchte, während er ab und an zu seiner strickenden Gattin hinübersah und die Schritte seiner Nichte verfolgte, die im Salon auf und ab ging.

»Dieser Parker war ein ganz gehöriger Halunke.« Lord William war angenehm beleibt, Anfang sechzig und liebte gutes Essen, guten Wein und seine Pfeife. Diese Vorlieben bezahlte er häufig mit Magenbeschwerden, wie auch während des Ballabends. Die Beschwerden waren der Grund für seine sonst selten vorkommende schlechte Laune.

»Ich war überrascht zu hören, dass die amerikanische Polizei ihm hierher gefolgt ist«, sagte Lady Elizabeth.

Penelope hielt inne. »Das kommt mir merkwürdig vor. Ich habe noch nie gehört, dass die Polizei derart heimlich ermittelt. Man stelle sich das vor: Ein Polizist spielt in einem Orchester, nur um einen Verdächtigen im Auge zu behalten.« Sie nahm ihre Wanderung wieder auf.

»Offenbar hat er ihn nicht aufmerksam genug beobachtet«, erwiderte ihr Onkel.

»Eine oder mehrere unbekannte Personen, so ein Unsinn!« Penelope stampfte mit dem Fuß auf, wie sie es schon als Kind getan hatte. »Jene ›Person‹ wird nicht mehr lange unbekannt sein. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis dieser Inspector jemanden festnimmt. Und das wird Victor sein. Ich weiß es!«

»Setz dich hin, Mädchen. Du machst mich ganz schwindlig.« Lord Williams Stirnrunzeln war eher freundlich gemeint als tadelnd.

»Ja, bitte tu das, Penelope. Du wirst sonst noch ein Loch in den Teppich laufen.« Lady Elizabeth lächelte ihre Nichte liebevoll an.

»Bitte verzeih, Tante Elizabeth.« Penelope setzte sich auf die Sesselkante. »Es tut mir leid, aber du hättest ihn sehen sollen. Victor saß da wie ein verlorenes Hündchen. Er wird sich glatt festnehmen lassen. Er bildet sich ein, sie beschützen zu müssen.« Penelope schluckte schwer an ihren Emotionen.

»Victor hatte schon immer eine ritterliche Art, selbst als Junge.« Lady Elizabeth hielt kurz beim Stricken inne. »Ich habe ihn von jeher gemocht.«

Penelope schnaubte. »Ich kann nicht fassen, dass sie ihn dafür bezahlen lässt. Von allen selbstsüchtigen, ichbezogenen, verwöhnten …« Sie sprang auf und ging wieder hin und her.

»Ich weiß, Liebes, doch du kannst unmöglich annehmen, dass Daphne den armen Mann getötet hat.« Lady Elizabeth kam auf den Punkt, strickte aber weiter.

Penelope blieb vor dem Fenster stehen und dachte darüber nach, dann seufzte sie und kehrte zu ihrem Sessel zurück. »Das ist es ja! Ich kann nicht glauben, dass sie es war. Daphne würde etwas so Grauenhaftes doch nicht tun. Außerdem würde sie es nicht riskieren, sich ein neues Kleid zu verderben.«

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass dem Mädchen jemand am Herzen liegt. Zumindest nicht so sehr, dass sie dafür tötet.« Lord Williams Tonfall war freundlicher als seine Worte.

»Ich glaube doch auch gar nicht, dass sie es war. Die Tat ist zu grausam.« Penelope kam wieder beim Fenster an.

»So weit würde ich nicht gehen. Daphne kann grausam sein. Aber ich stimme dir zu, was Charles betrifft. Er war ihr nicht wichtig genug, als dass sie ihn getötet haben kann.« Lady Elizabeth zählte Maschen.

Penelope durchmaß den Salon ihres Onkels von einem Ende bis zum anderen. »Warum will sie dann nicht mit der Polizei sprechen? Warum weicht sie aus? Und warum hat sie das Kleid verbrannt? Und warum …«

Ihre Tante beendete den Satz: »… will sie Victor heiraten?«

»Genau! Sie schert sich keinen Deut um ihn. Warum will sie ihn ausgerechnet jetzt zum Mann nehmen?«, fragte Penelope.

»Die entscheidende Frage ist nicht, warum sie das will, sondern was wir unternehmen wollen.« Lady Elizabeth wickelte Wollgarn von ihrem Knäuel.

Penelope blieb stehen. »Wie meinst du das?«

Lady Elizabeth strickte ein, zwei Minuten lang weiter, als hätte sie die Frage nicht gehört. »Wir können nicht zulassen, dass der arme Junge für etwas gehängt wird, was er nicht getan hat. Oder Schlimmeres.«

»Schlimmeres? Was könnte schlimmer sein, als gehängt zu werden?« Penelopes Stimme zitterte.

»Wir müssen ihn retten, bevor er seinen Plan in die Tat umsetzt.« Lady Elizabeth unterbrach sich, um sich nach dem Knäuel zu bücken, das ihr vom Schoß gekullert war. »Bevor er eine Dummheit begeht und Daphne tatsächlich heiratet.« Ihre Augen funkelten.

Lord William und Penelope erstarrten, dann prustete Lord William vor Lachen, und seine Frau und Nichte fielen mit ein.

Als sich das Gelächter legte, was einige Zeit dauerte, wischte sich Penelope die Tränen von den Wangen. »Das hat gutgetan. So herzhaft haben wir wohl seit einer Woche nicht mehr gelacht, jedenfalls nicht, seit dieser Albtraum angefangen hat.«

»Gut, gut. Wie wollen wir die Sache anstellen? Wie können wir Victor retten?«, meinte Lord William.

»Als Erstes werden wir wohl herausfinden müssen, wer den armen Mann umgebracht hat, nicht wahr, mein Lieber?«, antwortete seine Gattin. »Wir werden den wahren Mörder entlarven müssen.«

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