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21

Jeden Tag entdeckte ich im Laden etwas Neues. Als ich meinen Beruf als Lehrerin aufgab, hatte ich so meine Zweifel gehabt, ob ich neu Fuß fassen würde, vor allem weil Leon nicht mehr da war. Nun stellte ich fest, dass ich viel stärker war, als ich geglaubt hatte. Wenn ich meine Neffen, meine Großmutter und Dawson, der nun praktisch auch zur Familie gehörte, bei der Arbeit beobachtete, erfüllte mich das mit Freude und Stolz. Das war meine Familie, und sie halfen mir, Leons und meinen Traum zu verwirklichen.

Wir waren alle mit unseren jeweiligen Aufgaben beschäftigt, als es im Cafébereich laut wurde. Ich entschuldigte mich bei meiner Kundin, die noch zögerte, den historischen Krimi zu kaufen, und ging nachsehen, was los war.

Dawson war krebsrot im Gesicht und schaute wie ein von zähnefletschenden Hunden umzingeltes Kaninchen. Ein dürrer, schmuddeliger Mann hielt ihn am Kragen gepackt. Er trug Jeans und ein T-Shirt voller Fettflecken und hatte fettige Haare und schmutzige Fingernägel.

»Lassen Sie ihn sofort los!« Ich drängte mich zwischen die beiden.

»Sie halten sich da raus, Lady.« Der Mann stieß mich weg.

Ich taumelte und wäre gefallen, wenn nicht Nana Jo hinter mir erschienen wäre. Ehe ich begriff, was vor sich ging, kamen auch Christopher und Zaq herbeigelaufen und bauten sich bedrohlich zwischen mir und meinem Angreifer auf.

»Fassen Sie meine Tante noch ein Mal an, und sie wird der letzte Mensch sein, gegen den Sie die Hand erheben.« Christopher sagte das so ruhig und bestimmt, dass ich eine Gänsehaut bekam. Meine Neffen waren fast eins neunzig groß. Ich hatte noch nie gehört, dass sie sich mit jemandem geprügelt hätten. Doch sie drohten dem Mann, ohne mit der Wimper zu zucken.

Wenn der eine falsche Bewegung machte, würden sie eingreifen, so viel stand fest.

Der Mann schien sie abzuschätzen. Sein Verstand sagte ihm offenbar, dass er gegen uns alle kaum Chancen hatte. Höhnisch grinsend hob er die Hände und wich zurück. Meine Neffen blieben schützend vor mir stehen.

Er wandte die Augen von ihnen ab und sah Dawson an. »Du denkst wohl, du hast gewonnen, Junge. Aber ich komme wieder, wenn deine Leibwächter nicht da sind.« Er verließ den Laden und fegte im Vorbeigehen ein paar Bücher von einem Tisch.

Ich atmete erleichtert auf, und im selben Moment kam Applaus von den Bistrotischen, wo ein paar Kunden bei Tee und Scones saßen. In der Aufregung hatte ich die völlig vergessen. Der Applaus brach unseren Bann.

Christopher und Zaq drehten sich zu mir um. »Alles okay, Tante Sammy?«

»Ja. Mir geht’s gut. Danke.« Ich umarmte die beiden. »Vielen Dank. Jetzt machen wir uns besser wieder an die Arbeit.«

Nana Jo sah mich fragend an und deutete diskret zu Dawson.

Ich schüttelte den Kopf.

Sie drückte mich kurz und begab sich wieder in den Verkaufsraum.

Dawson verweigerte jeden Blickkontakt und eilte durch die Hintertür in den Garten.

Ich lief ihm nach. »Wie geht es dir?«

»Gut. Die Sache tut mir echt leid.«

»Wer war der Mann?«

Er zögerte so lange mit der Antwort, dass ich die Frage schon wiederholen wollte. Ich war überzeugt, dass er sie mir beantworten konnte.

»Das war mein Dad.«

»Dein Dad?« Ich hätte es mir eigentlich denken können, aber ich war noch niemandem aus Dawsons Familie begegnet. Sein Vater und seine Mutter waren nie zu den Elternabenden erschienen. Wenn ein Gespräch angestanden hatte, war eine Nachbarin erschienen.

»Ja. Ein toller Vater, was?«

»Möchtest du reden?«

»Es tut mir wirklich leid, Mrs Washington. Ich weiß nicht, wie er mich hier finden konnte. Ich habe ganz bestimmt nicht damit gerechnet, dass er herkommt und Ihnen Ärger macht.«

»Schon gut. Es ist ja nichts passiert.« Mir schien, dass Dawson eine Umarmung gebrauchen konnte, und deshalb nahm ich ihn einmal fest in den Arm. »Na komm, gehen wir wieder hinein.«

Der Rest des Tages verlief wie immer. Die Buchhandlung schien Profit abzuwerfen und die Kundenbedürfnisse zu erfüllen. Jeden Tag sah ich alte und neue Freunde, die meine Liebe zu Krimis teilten. Abends war ich oft mit Nana Jo und den Damen zusammen oder half Dawson beim Lernen. Ihn bei seiner akademischen Arbeit zu unterstützen, verband mich noch ein wenig mit meiner Lehrtätigkeit.

An diesem Abend half ich Dawson bei einer Abhandlung in Englischer Literatur. Wir verglichen Shakespeares Der Widerspenstigen Zähmung mit Jane Austens Stolz und Vorurteil, zwei meiner Lieblingsbücher. Jane Austen war sogar meine Lieblingsschriftstellerin.

Nana Jo hatte ein Date mit Freddie. Sie sträubte sich, uns allein zu lassen, doch ich bestand darauf.

Mitten in unseren Betrachtungen der verschiedenen Frauenfiguren hörten wir von unten ein Geräusch. Wir stockten und saßen still da, horchten und warteten. Snickers schlief zu meinen Füßen, aber Oreo war aufgesprungen und spitzte die Ohren. Ich hielt den Finger an die Lippen und huschte auf Zehenspitzen in mein Schlafzimmer, um den Baseballschläger und das Handy zu holen. Dann schlichen Dawson, Oreo und ich die Treppe hinunter. Unten legte Dawson eine Hand auf meine Schulter, sodass ich stehen blieb.

Er trat vor mich. Ich war gerührt, weil er mich beschützen wollte, aber ich war diejenige mit dem Baseballschläger. Ich bot ihm den Schläger an.

Dawson schüttelte den Kopf und flüsterte: »Bleiben Sie hinter mir.«

Vor der Treppe lagen Glasscherben von dem eingeschlagenen Fenster der Hintertür. Das rote Licht der Alarmanlage blinkte. Die Polizei würde bald kommen.

Dawson schlich den Flur hinunter. Inzwischen war auch Snickers bei uns. Ich hob die Hunde auf den Arm, damit sie nicht in die Scherben traten, und setzte sie ein Stück weiter wieder ab. Sie blieben dicht bei mir und knurrten angriffslustig.

Aus dem Büro kam ein lauter Schlag. Dawson stürmte hinein, ich hinterher, wobei die Pudel bellend an mir vorbeiflitzten.

Dawson rammte den Einbrecher und warf ihn um wie ein Linebacker den Quarterback. Sie schlugen beide lang hin und rangen miteinander.

Ich stand dabei, den Baseballschläger schlagbereit in den Händen. Da ich mit dem Rücken zur Tür stand, erschrak ich, als plötzlich das Licht anging.

In der Tür sah ich Nana Jo mit der Pistole in der Hand. Sie schob mich beherzt beiseite, ging auf die Ringer zu und gab einen Schuss auf die nackte Ziegelwand ab. »Aufhören oder die nächste Kugel reißt dir ein Loch ins Gehirn.«

Beide Männer erstarrten, und ich sah, wer der Einbrecher war.

Dawsons Vater. Nach seinem verschwommenen Blick und dem Schnapsgeruch zu urteilen, war er betrunken.

Oreo knurrte und sprang auf sie, um auch endlich mitzumischen. Dawson schnappte ihn und wich von seinem Vater weg.

»Ruf die Polizei an.« Nana Jo senkte weder die Pistole, noch ließ sie den Einbrecher für eine Sekunde aus den Augen.

»Das ist nicht nötig. Er ist eingebrochen und hat die Alarmanlage aktiviert. Der Streifenwagen wird gleich hier sein.«

Wie aufs Stichwort hörten wir die Einsatzsirenen, und mehrere Polizeiwagen hielten vor dem Haus.

Ich sah meine Großmutter an. »Alles okay bei dir?«

»Jep.« Sie blinzelte nicht mal.

Ich eilte zum Seiteneingang und führte die Polizei in mein Büro.

Zwei Polizisten betraten es mit gezogener Waffe. »Runter. Auf den Boden. Hände hoch.« Sie brüllten. »Waffen fallen lassen. Hände über den Kopf. Alle. Sofort.« In der Tür blieben sie stehen und versperrten sie.

Nana Jo nahm den Arm herunter, legte die Pistole auf ein nahes Regalbrett und hob die Hände über den Kopf.

Ich musste mich auf die Zehenspitzen stellen, um den Polizisten über die Schulter zu sehen.

»Das ist meine Großmutter. Sie ist okay.«

Die Polizisten schätzten die Situation ein. Nach einer Ewigkeit steckten sie die Waffen weg und traten weiter in den Raum, sodass ich wieder sehen konnte, was da vorging.

»Na, wenn das nicht A-Quadrat ist.« Einer legte dem Einbrecher, der auf dem Boden lag, Handschellen an. Dawson wich mit Oreo im Arm zur Wand zurück.

»A-Quadrat?«, wiederholte ich.

»Alex Alexander«, sagte der Polizist.

Sein Partner gab über Funk durch, dass die Lage unter Kontrolle sei, und zog seinen Notizblock hervor.

»Ah … Alex Alexander, A-Quadrat, jetzt verstehe ich.«

Dawson ging mit rotem Gesicht auf und ab. Er hielt Oreo noch auf dem Arm und blickte überall hin, nur nicht zu seinem Vater, der bäuchlings gefesselt hinter ihm lag.

»Ist es in Ordnung, wenn ich mit den Hunden in den Garten gehe?«, fragte er.

Ein Polizist nickte. »Ja, aber bleiben Sie in der Nähe.«

Dawson öffnete das Glastor und trat, ohne sich umzusehen, auf die Terrasse.

Der Polizist stellte Fragen und füllte ein Formular aus und stellte noch mehr Fragen. Endlich gingen sie und nahmen den Einbrecher mit.

Dawson war unterdessen mit den Hunden draußen geblieben. Er hatte sicher nicht mit ansehen wollen, wie sein Vater abgeführt wurde. Ich gesellte mich zu ihm in den Garten, wo er auf und ab ging.

»Es tut mir wirklich leid.« Er hielt jetzt Snickers auf dem Arm, obwohl Oreo sich besser knuddeln ließ.

Der suchte jedoch gerade nach einem Grashalm, den er noch nicht bewässert hatte.

»Aber wieso denn? Du bist nicht verantwortlich für das, was dein Vater tut.«

Dawson drehte sich weg.

»Möchtest du reden?«

»Ich bin ihm völlig egal. Ihm geht es nur um Geld.«

»Geld? Welches Geld?«

»Vom Football. Er will, dass ich in der NFL spiele. Das College abbreche und Profi werde, bevor ich mir eine Verletzung zuziehe, die meine Chancen ruiniert. Deshalb hat er sich so aufgeregt, bevor ich bei ihm abgehauen bin.«

»Dawson, das tut mir leid.« Ich ging zu ihm und legte einen Arm um ihn. »Was willst du jetzt tun?«

Er machte sich sanft los. »Ich steh auf Football und will spielen. Eines Tages auch in der Profiliga. Aber … in dieser Saison habe ich begriffen, dass ich außerdem eine Ausbildung brauche. Denn ich werde nicht ewig Football spielen können. Und was dann?«

Ich war erfreut und beeindruckt, weil er tatsächlich an das Leben danach dachte. »Nun ja, was machst du denn gern, außer Football zu spielen?«

»Es klingt bestimmt verrückt, doch ich liebe es wirklich zu backen.«

»In meinen Ohren klingt das gar nicht verrückt.«

»Hat schon mal jemand von einem Football-Spieler gehört, der später Küchenchef wurde?«

Ich kicherte. »Das klingt nach Reality-TV . Wenn du gern backst, dann solltest du etwas daraus machen. Du kannst das nämlich ausgezeichnet.«

Wir redeten darüber, wie es wohl wäre, als Küchenchef zu arbeiten, und kamen bei jedem zweiten Satz überein, dass wir uns genauer informieren müssten.

Dawson sah erschöpft aus, und ich war auch ziemlich müde. »Ich denke, wir hatten für heute genug Aufregung. Machen wir Schluss. Wir können uns morgen weiter mit Shakespeare befassen. Wie wär’s, wenn du die Hunde bei dir behältst? Snickers ist eine wunderbare Trösterin.«

Dawson nickte. Er klopfte an seinen Oberschenkel, und Oreo folgte ihm in seine Wohnung.

Ich traf Nana an der Seitentür, wo sie das Loch in der Fensterscheibe mit Klebeband verschloss.

»Gut, dass du die Alarmanlage hast installieren lassen. Aber nichts schreckt Einbrecher mehr ab als eine Schusswaffe.«

»Wieso bist du so schnell zurückgekommen? Du warst doch mit Freddie verabredet.«

»Wir haben uns getroffen, aber ich war die ganze Zeit unruhig. Ich hatte wohl so eine Ahnung.«

Ich drückte sie. »Darüber bin ich heilfroh.«

Wir fegten die Scherben auf, schalteten die Alarmanlage wieder ein und gingen zu Bett. Todmüde wie ich war, hoffte ich, sofort einzuschlafen, doch ich wälzte mich stundenlang hin und her. Schließlich gab ich auf und schaltete den Laptop ein.

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Lady Elizabeth sah, wie ihre Nichte aufsprang und anfing, in der Bibliothek auf und ab zu gehen.

»Was soll das heißen? Er kann doch unmöglich glauben, dass Victor der Mörder ist? So beschränkt kann er nicht sein.«

Sie saßen zu viert beim Tee, sie, ihr Gatte, Penelope und James, und besprachen, was sie zuletzt in Erfahrung gebracht hatten.

Lady Elizabeths Bericht über das Tischtuch war mit gedämpfter Freude aufgenommen worden. Penelope hatte sofort die Polizei anrufen wollen, da der Vorfall Victor klar entlastete. Schließlich wusste er, wo sich in dem Haushalt die Handtücher befanden. Doch auch sie musste einsehen, wie schwach das Argument war, und konnte ihren Enthusiasmus nicht mehr überzeugend aufrechterhalten.

James saß still am Feuer. Erst nachdem Lady Elizabeth ihn mehrmals angesprochen hatte, war er bereit gewesen, von seinem Gespräch bei Scotland Yard und Detective Inspector Covingtons Theorie zu berichten.

»Nun, sicherlich ist Victor nicht der Einzige, der eine militärische Ausbildung genossen hat.« Sie griff nach ihrer Tasse und trank einen Schluck.

James zuckte mit den Schultern. »Stimmt, aber wie viele Ballgäste waren beim Militär und hatten ein Motiv, Parker umzubringen?«

Lord William stopfte seine Pfeife, bemüht, nicht allzu viel Tabak auf den Teppich zu krümeln. »Jedenfalls heißt das, wir können die Frauen vom Verdacht ausschließen. Nicht, dass jemand mit einem Funken Verstand sie überhaupt in Betracht gezogen hätte.«

»Ich bin mir nicht so sicher, ob wir sie ausschließen können, mein Lieber, aber es dürfte doch unwahrscheinlich sein.« Lady Elizabeth schenkte Tee nach.

Ihr Gatte verschluckte sich beinahe. »Was meinst du?« Er wischte sich Tabakkrümel vom Hemd. »Es gibt keine Frauen beim Militär.«

Lady Elizabeth lächelte ihn vage an, bevor sie darauf einging. »Da hast du recht, doch eine Frau könnte jemanden angestiftet haben, den Mord zu begehen. Oder ein Soldat könnte ihr gezeigt haben, wie man jemanden ersticht.«

Lord William starrte seine Gattin mit großen Augen an.

James wirkte ebenfalls ungläubig, doch in seinen Augen zeigte sich Anerkennung. Seine Mundwinkel zuckten, und er trank hastig einen Schluck Tee.

»Da hol mich doch der …« So viel nur brachte Lord William hervor, das aber mehrere Male.

»Ja, mein Lieber. Nun, wer außer Victor war an dem Abend bei uns, der militärisch ausgebildet ist?« Lady Elizabeth kehrte zum Wesentlichen zurück.

»Das gilt für fast alle Männer. Wir haben alle in der einen oder anderen Funktion gedient, ich auch.« Lord William schwoll die Brust. »Da war der Burenkrieg, Mafeking …«

»Gewiss doch, mein Lieber.« Sie unterbrach, was eine langwierige Beschwörung der glorreichen Kriegszeiten zu werden versprach. »Doch du hast am Ball eigentlich nicht teilgenommen. Du warst zwar im Haus, aber nicht unten bei den Gästen.«

Penelope lächelte ihren Onkel an. »Außerdem wissen wir, dass du Parker nicht erstochen hast.«

»Verdammt richtig, ich habe ihn nicht erstochen. Das hätte nur Schlamassel gegeben. Wenn ich ihn hätte tot sehen wollen, hätte ich ihn erschossen«, sagte Lord William.

Lady Elizabeth hielt mit erhobener Tasse inne und sah ihn stumm an.

Prompt entschuldigte er sich. »Verzeih, meine Liebe. Da sind wohl die Pferde mit mir durchgegangen. Das ist kaum ein angemessenes Thema für eine Dame. Bitte verzeih mir.«

Lady Elizabeth blieb für einige Zeit still.

Schließlich brach Penelope das Schweigen. »Worüber denkst du nach? Dir ist doch etwas eingefallen, nicht wahr?«

Ihre Tante stellte die Kaffeetasse hin und nahm ihre Stricknadeln und ein flauschiges Wollknäuel aus dem Korb zu ihren Füßen, um ein paar Maschen aufzunehmen.

Penelope eilte zum Sofa und setzte sich neben sie. »Du hast über etwas Bestimmtes nachgedacht, stimmt’s?«

Lady Elizabeth behielt den Blick auf ihre Stricknadeln gerichtet. »Nun, mir ist etwas in den Sinn gekommen, was Mrs McDuffie und Thompkins erwähnt haben.« Sie hielt inne, um die Maschen zu zählen. »Als ich in die Gesindestube hinuntergegangen bin, wurde gerade ein Teppich nach draußen getragen.«

James sah Penelope an. Sie schüttelte nur den Kopf und wartete ab.

»Der Teppich war nass. Niemand wusste, warum.«

»Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz …«, gestand James.

»Ja, so ging es mir zunächst auch«, fuhr sie angeregt fort. »Doch dann fiel mir ein, dass Mrs McDuffie am Ballabend einen … äh … nun ja, einen nackten Mann über den Rasen laufen sah.«

»Mir ist wirklich nicht klar, wie das mit der leidigen Angelegenheit zusammenhängen könnte«, erwiderte Lord William bestimmt. »Wahrscheinlich hatte der Kerl zu viel getrunken und ist in den Brunnen gefallen. Schlechte Manieren, das. Nichts ist schlimmer, als wenn ein Mann nichts vertragen kann.«

»Das war auch meine Vermutung«, räumte Lady Elizabeth ein. »Dann aber erinnerte ich mich an Mrs McDuffies Bemerkungen über das verschwundene Tischtuch.«

James und Penelope wechselten einen Blick und sahen dann Lady Elizabeth an, als wäre ihnen ein Licht aufgegangen.

»Das muss es sein«, sagte James. »Ich habe mich gewundert, wie der Täter ihn erstechen konnte, ohne sich mit Blut zu bespritzen. Deshalb dachte ich, er muss den Ball verlassen haben.«

»Als die Polizei eintraf, fehlte niemand, und alle wurden befragt«, erinnerte Penelope.

»Dann haben wir die Erklärung«, meinte James.

»Würde mir mal jemand sagen, worüber hier eigentlich gesprochen wird?«, verlangte Lord William.

»Verstehst du denn nicht, Onkel? Der Mörder muss sich ausgezogen und Parker dann im Garten erstochen haben.«

James nahm den Faden auf. »Dann hat er sich im Brunnen das Blut abgewaschen.«

Lady Elizabeth schüttelte den Kopf. »Nein. Ich glaube nicht, dass er sich im Brunnen gewaschen hat, zumindest nicht ganz. Sonst wäre der Teppich nicht tropfnass gewesen.«

James nickte. »Das leuchtet mir ein.«

»Er muss in die Bibliothek gegangen sein, ein Gefäß mit Wasser genommen und sich dort gewaschen haben.«

»Dabei hat er das Wasser auf den Teppich vergossen«, fügte James hinzu.

»An dem Abend standen da mehrere große Vasen«, gab Penelope zu bedenken.

»Dann hat er sich mit dem Tischtuch abgetrocknet und sich wieder angekleidet. Also war es der Mörder, den Mrs McDuffie nackt im Mondschein gesehen hat«, schloss Lady Elizabeth.

Lord William starrte ein paar Augenblicke lang ins Leere, bis ihm die Erleuchtung kam, und lächelte schließlich. »So ist der Teppich nass geworden.«

Seine Gattin nickte. »Und er versteckte das Tischtuch in der Kommode, weil es nass und mit Blut befleckt war.«

»Aber warum?«

Alle drei blickten ihn fragend an.

»Warum machte er sich die Mühe, sich an- und auszuziehen und zu waschen? Warum hat er nach dem Mord nicht kurzerhand das Weite gesucht?«

»Weil er sich damit verdächtig gemacht hätte«, antwortete Lady Elizabeth. »Er musste bis zum Ende im Haus bleiben.«

»Und das bescherte der Polizei eine schwierige Ermittlung. Alle waren noch da und mussten befragt werden«, sagte James, und Lady Elizabeth nickte dazu.

Lord William schlug mit der Faust auf seine Armlehne. »Beim Zeus, ich denke, wir haben den Fall gelöst!«

Seine Gattin lächelte milde und strickte weiter.

Penelope schaute sie an und sah das Lächeln schwinden. »Was ist denn? Wir müssen Scotland Yard anrufen und es erklären. Du hast den Fall gelöst.«

Lady Elizabeth war nicht einverstanden. »Ich habe herausgefunden, wie der Mörder vorgegangen ist, ja, nicht jedoch, wer er ist.«

Penelope machte ein langes Gesicht. »Aber damit steht doch fest, dass es nicht Victor war. Er hatte gar nicht die Zeit dazu. Wir haben fast den ganzen Abend lang getanzt. Und er war gewiss nicht nass.«

James zündete sich eine Zigarette an und zog daran. »Deine Tante hat recht. Wir müssen mehr vorweisen als ein nasses, blutbeflecktes Tischtuch.«

Enttäuscht setzte sich Penelope aufs Sofa.

Lady Elizabeth bemerkte: »Wir werden also noch herausfinden müssen, wer der Mörder ist und warum er Parker ermordet hat.«

Plötzlich griff James in seine Jackentasche und zog ein Telegramm hervor. »Das hätte ich fast vergessen. Das kam kürzlich von dem Polizisten aus Amerika.«

»Was steht drin?« Penelope ging und schaute ihm über die Schulter.

»Patrick O’Hara, der Polizist aus Chicago, wird in ein paar Tagen hier eintreffen.«

»Wie soll uns das helfen?« Penelope schaute ratlos.

James zuckte mit den Schultern. »Ich habe gehofft, wenn der Mörder Parker von Amerika hierher gefolgt ist, könnte O’Hara ihn wiedererkennen. Als ich das eingefädelt habe, schien es weit hergeholt zu sein, dass ihn jemand von hier ermordet haben soll.«

Lady Elizabeth hörte zu stricken auf und lächelte erfreut. »Vielleicht haben Sie recht.«

»Also gut, meine Liebe. Was hast du im Sinn?«, fragte ihr Gatte.

»Ich überlege, ob wir die Mordnacht nachstellen können.«

»Wie bitte?«, riefen die beiden Herren gleichzeitig aus.

»Wie stellst du dir das vor?«, wollte Penelope wissen.

»Wie wäre es, wenn wir einen zweiten Ball geben und dieselben Gäste einladen? Dann muss der Mörder auch kommen. Und Detective O’Hara erkennt ihn vielleicht.«

»Kommt nicht infrage«, beschied Lord William. »Ein Mörder kommt mir nicht ins Haus. Er hat schon einmal getötet. Was sollte ihn abhalten, es wieder zu tun?«

»Wir können dafür sorgen, dass die Polizei anwesend ist«, schlug James vor.

Penelope zog die Brauen zusammen. »Aber dann weiß der Mörder, dass das eine Falle ist. Er wird auf der Hut sein. Vielleicht würde er das Haus gar nicht erst betreten.«

»Die Polizisten müssen sich eben unsichtbar machen. Wenn sie sich als Gäste verkleiden, werden sie nicht auffallen.«

»Als Gäste verkleidet? Wer würde ihnen das abkaufen?«, wandte Lord William ein.

James stand auf und ging zum Kamin. »Solange wir die Einzigen sind, die Bescheid wissen, kann das funktionieren. Der Mörder könnte tatsächlich glauben, dass er zu einem zweiten Ball eingeladen wurde.«

»Aber warum?«, fragte Lord William. »Warum sollten wir schon wieder einen Ball geben?«

Seine Gattin nahm das Stricken wieder auf und lächelte ihre Nichte an. »Nun, wenn wir eine Verlobung zwischen Penelope und Victor bekannt geben würden …«

Penelope stand wie versteinert da, während ihr die Röte in die Wangen stieg. »Woher weißt du …?«

Lady Elizabeth legte lächelnd ihr Strickzeug hin und hob die Teekanne hoch. »Möchte noch jemand Tee?«

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