»WAS HAT DER SPACKO dir zum Schluss noch gesagt?«, wollte Sascha wissen, als wir zwanzig Minuten später auf der Terrasse des Kindergartens standen. Sascha rauchte eine selbst gedrehte Zigarette, ich trank den von Toni verschmähten, naturtrüben Apfelsaft. Carla war auf der Toilette. Walter und Stanislav deckten sich im Büro mit Werbematerial für die Schwester und die Freundin ein.

»Was zu erwarten war. Bis Montag will Toni Dragan sehen oder ich bin tot.«

»Die feige Sau. Aber der Rest hat doch hervorragend funktioniert.«

Ich war froh, dass Sascha es von sich aus ansprach. Ich wusste, dass er nicht mit Dragan telefoniert haben konnte. Aber ich wusste nicht, ob Sascha wusste, dass ich das wusste. Warum hatte er gelogen? Nur um Toni eins auszuwischen? Oder kannte er die Wahrheit?

Die Neugier, das herauszufinden, überwog.

»Du hast also heute Vormittag mit Dragan telefoniert«, sagte ich mit ausdrucksloser Stimme.

Sascha sah mich einen Moment eindringlich an, bevor er sprach. »Björn, ich habe keine Ahnung, was hier gespielt wird. Ich weiß nur, dass wir von deinem Spiel alle mehr profitieren werden als von Tonis. Also stell nicht solche Fragen, dann stell ich auch keine.«

»Alles klar, Herr Officer. Dann auch noch mal ganz offiziell meinen Glückwunsch zur Beförderung.«

»Danke, Herr Anwalt. Und übrigens: Für die anderen bist du wegen der Sache mit dem Finger der Held. Für mich auch. Der Polizei vorzutäuschen, Dragan wäre tot, ist ein genialer Schachzug.«

Das war gut. Ich brauchte jetzt die Unterstützung aller. Denn es gab eine Menge zu unterstützen. Toni musste ausgeschaltet werden. Boris musste beruhigt werden. Der Maulwurf bei der Polizei, Möller, musste mundtot gemacht werden. Und Malte, der ostdeutsche Attentäter, musste entsorgt werden. Und alles bis Montag. Eine Menge Arbeit für mich allein. Auch eine Menge Arbeit für Sascha und mich zusammen. Bei aller Achtsamkeit hätte ich nicht gewusst, wie ich es ohne die Unterstützung der übrigen Officer hätte hinbekommen sollen.

Zum Glück bedeutet Achtsamkeit ja nicht, nur noch das zu machen, wozu man willens oder in der Lage ist. Achtsamkeit bedeutet auch, die Dinge, die man will, zu unterteilen in Dinge, zu denen man selber in der Lage ist, und in Dinge, zu denen andere viel besser in der Lage sind. Diese Dinge konnte man getrost an vertrauensvolle Menschen abgeben.

Ich hatte mit Sascha bereits besprochen, wie wir die Aufgaben verteilen wollten. Ich hatte Sascha versprochen, das mit Dragan zu besprechen. Und Dragan hatte, o Wunder, dieser Aufgabenverteilung zugestimmt und noch den einen oder anderen Verbesserungsvorschlag gemacht.

»Wann sagen wir es den anderen?«, fragte Sascha und löschte die aufgerauchte Zigarette, indem er die Glut auf dem Fliesenboden ausrieb. Die Kippe behielt er in der Hand.

Sascha und ich hatten gemeinsam beschlossen, Carla, Walter und Stanislav das Video der Befragung von Malte zu zeigen, sobald Toni weg war. Die drei hatten miterlebt, wie weit sich Toni aus dem Fenster gelehnt hatte, als es darum ging, Boris die Schuld für die Situation in die Schuhe zu schieben. Es würde jetzt keinen allzu großen Aufwand mehr brauchen, ihn ganz aus diesem Fenster zu schubsen. Vor allem nicht nach seinem Ausraster zum Schluss.

Sascha und ich standen neben einer Feuerschale, über der die Kindergartenkinder bei den Hipstern wahrscheinlich im Herbst veganes Stockbrot gebraten hatten. Ich machte mir eine mentale Notiz, im nächsten Herbst Thüringer Rostbratwürste für den gleichen Anlass zu bestellen. Als Carla, Walter und Stanislav sich ebenfalls nach draußen gesellten, legte Sascha gerade die gestempelten Zeitungsausschnitte in die Feuerschale und verbrannte sie zu Asche.

»Schade, dass wir die immer verbrennen müssen«, sagte Carla. »In ein paar Jahren wären das historische Dokumente.«

»Für die du historisch lange im Knast landen kannst, wenn die im Archiv der Polizei landen«, konnte ich mir nicht verkneifen zu erwähnen. »Aber das wichtigste historische Dokument des heutigen Abends habe ich noch gar nicht vorgelesen.«

Ich wedelte mit einer weiteren Zeitungsseite.

»Und was ist mit Toni?«, wollte Carla wissen. »Muss die Spaßbremse der Form halber nicht auch dabei sein?«

»Genau um den geht es. Hört einfach zu.«

Ich faltete die mit Dragans Daumen gestempelte Zeitung auseinander. Das Datum besagte, dass sie vom heutigen Tag war. Sprich: Sie war einen ganzen Tag jünger als die Nachrichten von vorhin. Dafür war die Zeitung fast unleserlich mit Kringeln und Strichen übersäht.

Ich las vor: »Wenn Toni euch, wie zu erwarten, frühzeitig verlassen hat, dann schaut euch jetzt bitte das Video an, das Björn mir heute Vormittag geschickt hat.«

Die drei warfen sich unsichere Blicke zu. Ich zeigte ihnen auf meinem iPhone den Mitschnitt der Befragung von Malte vom Vorabend.

Der Inhalt des Videos sorgte für Empörung. Nicht wegen der Folter. Sondern wegen der Erkenntnis, die aus den Stromstößen gewonnen werden konnte. Dass nämlich Toni ein Verräter war. Dass Toni Dragan, Sascha und – mit Maltes Hilfe – auch Murat und mich beseitigen wollte. Dass ihm das im Fall von Murat auch gelungen war, in meinem Fall nicht. Toni hatte aber noch vor einer halben Stunde vor versammelter Mannschaft für seinen Mitarbeiter Murat, den er selbst hatte erschießen lassen, die Hand ins Feuer gelegt. Er hatte vor versammelter Mannschaft die Schuld an Murats Tod Boris in die Schuhe schieben wollen. Er wollte nach wie vor einen Bandenkrieg entfesseln.

Er hatte uns alle hintergangen.

»Die Handgranaten hat das Schwein von mir«, sagte Walter. Er sah mich betrübt an. »Ich hatte ja keine Ahnung, was der Penner damit vorhat.«

»Lasst uns sofort in dessen Schuppen fahren und den Verräter an Ort und Stelle erledigen.«

»Wir sollten ihm die Elektroklemmen von diesem Malte ans Kleinhirn tackern«, sagte Carla.

Ich hob beschwichtigend die Hände. »Lasst uns doch erst mal hören, was Dragan dazu zu sagen hat.« Damit entfaltete ich eine weitere Zeitungsseite.

Es war ein längerer Text mit dezidierten Anweisungen, wie verschiedene Aufgaben zunächst an alle Officer delegiert werden sollten, um am Ende gemeinsam ein perfektes Ergebnis zu erzielen.

Wir erörterten noch eine halbe Stunde lang die Details von Dragans Plan. Nachdem jeder von uns wusste, was er bis Montag zu tun hatte, verbrannte Sascha auch diese Zeitungsseite und das Treffen war beendet.