WÄHREND SASCHA UND ICH und Toni getrennt voneinander zu Walter fuhren, fuhr Stanislav gemeinsam mit Möller in dessen Wagen zu einem abgelegenen Lkw-Parkplatz in einem sehr ruhigen Gewerbegebiet. Sie parkten hinter einem Schwerlaster mit polnischem Kennzeichen. Stanislav bat Herrn Möller, sich selber Handschellen anzulegen und sich damit ans Lenkrad zu fesseln.

Da Möller ein wenig störrisch und Stanislav ein wenig genervt war, kam es bei diesem Anlass zu einem kleinen Gerangel, bei dem sich Möller den linken Daumen, den linken Zeigefinger und den Mittelhandknochen brach.

Als Möller einsah, dass Stanislav nicht nur über mehr intakte Knochen, sondern obendrein über mindestens eine Dienstwaffe mehr als er, Möller, verfügte, kam der Polizist dieser Bitte, sich selber ans Auto zu ketten, schließlich nach. Zu seiner großen Verwunderung öffneten sich anschließend die Ladetüren des polnischen Lkw und gaben einen großen, zur Hälfte leeren Innenraum frei. In der vorderen Hälfte stand ein Geländewagen. Zwei Mitarbeiter von Stanislav befestigten zwei Auffahrrampen an dem Laster. Sie schoben Möller samt Fahrzeug in den Lkw, verzurrten ihn ordnungsgemäß und schlossen die Türen wieder.

Sascha und ich kamen zur gleichen Zeit gemeinsam bei strahlendem Sonnenschein auf dem Parkplatz von Walters Firma an. Tonis Wagen stand schon da, direkt vor dem Eingang. Wir warteten noch fünf Minuten und gingen dann in Walters Nachrichtenzentrale im Erdgeschoss – in den Raum, in dem alle Informationen seiner Patrouillen, seiner Objektüberwachungen und auch die Signale aller hausinternen Kameras zusammenliefen.

Walter stand mit einem seiner Controller – einem smarten, durchtrainierten Typen mit Dreitagebart und randloser Brille – hinter einem Bedienpult und betrachtete den Bildschirm, der das Verhörzimmer im Keller zeigte.

In dem Zimmer lag Malte offenbar bewusstlos auf einem Sofa. Toni kontrollierte gerade, ob die Verhörkamera aus war. Die Deckenkameras, mit denen wir ihn gerade beobachteten, bemerkte der Idiot nicht einmal. Und dass die Lautsprecherboxen der Gegensprechanlage nur dann Sinn ergaben, wenn es in dem Raum auch Mikrofone gäbe, kam Toni offensichtlich nicht in den Sinn.

»Seit wann ist er da?«, fragte ich Walter.

»Ist zehn Minuten vor euch gekommen. Hat eine tierische Welle gemacht, warum er nicht sofort über den ›Gefangenen‹ informiert worden wäre. Ich habe ihm klargemacht, dass es keinen Gefangenen gibt. Sondern nur einen Typen, den unsere Streife dabei beobachtet hat, wie er dich einen ganzen Tag lang verfolgt hat. Ich hab gesagt, die Streife hätte den Typen angesprochen. Der Typ hätte sofort eine Waffe gezogen, und die Waffe wurde ihm aus der Hand getreten. Leider konnte der Fuß unserer Streife nicht mehr vor dem Kinn von dem Typen stoppen. Der Typ ist seitdem bewusstlos. Wahrscheinlich hat er jetzt Kopfschmerzen und kommt gerade erst zu sich.«

»Und? Hat Toni das geschluckt?«, wollte Sascha wissen.

»Absolut. Er hat hier alles zusammengebrüllt. Hat mich vor meinen Leuten daran erinnert, dass Dragan ihm allein die Verhöre übertragen hat. Er hat dreimal gefragt, ob der Typ schon irgendwas gesagt hätte, und ist dann nach unten abgeschwirrt.«

Und da sahen wir ihn nun.

Toni begutachtete Malte. Dann gab er ihm eine Ohrfeige. Nichts geschah. Dass Malte tatsächlich nicht bei Bewusstsein war, lag in erster Linie an den K. o.-Tropfen, die ihm Walter genau zu diesem Zweck gegeben hatte. Jetzt schaute sich Toni Maltes geschwollenes, blau verfärbtes und an einer Stelle aufgeplatztes Kinn genauer an.

»Wie habt ihr das hinbekommen? Sein Kinn sieht echt so aus, als hätte er einen Tritt dagegen bekommen«, fragte ich interessiert.

»Er hat einen Tritt dagegen bekommen«, erläuterte Walter.

»Aber …?« Ich sah überrascht auf.

»Nachdem die K. o.-Tropfen angefangen haben zu wirken, lag er sowieso auf dem Boden. Hat sich einfach angeboten. War mehr so wie … ein lasch getretener Freistoß.«

»War das nötig?«

»Wir hätten auch eine Maskenbildnerin auf ihn loslassen können. Aber nichts sieht mehr nach Fußtritt vors Kinn aus als ein Fußtritt vors Kinn. Geht auch schneller und kostet weniger als so eine Maskenbildnerin. Und ich sag mal so, der Typ hat davon nichts mitbekommen. War ja schon vorher k. o.«

»Okay, okay. Pragmatischer Ansatz. Wird Dragan gefallen.«

Alle im Raum warteten jetzt gespannt, wie Toni reagieren würde. Wir waren uns sicher, dass Toni Malte beseitigen wollte, um ihn als Zeugen auszuschalten. Darauf basierte Dragans Plan. Also meiner. Wir waren allerdings unterschiedlicher Meinung, wie Toni das bewerkstelligen würde. Ich war der Ansicht, Toni würde Malte sofort umbringen. Walter war der Meinung, Toni würde Malte zunächst einmal foltern, um herauszubekommen, ob er schon etwas verraten hätte. Und anschließend würde er ihn umbringen. Und Sascha wettete darauf, dass Toni Malte aus Prinzip in einem Rutsch zu Tode foltern würde, völlig egal, ob er dabei noch etwas sagen würde oder nicht.

Jeder von uns setzte 50 Euro.

Durch meine positiven Erfahrungen mit der absichtsvollen Zentrierung und der Überwindung innerer Widerstände hatte ich keine großen Probleme mit der Tatsache, dass gleich ein Mensch sterben würde. Das war ja bereits das gewünschte Ergebnis meiner achtsamen Betrachtungsweise der Problembereiche »Malte« und »Toni«. Hier gab es also keine ungeklärten Emotionen. Allerdings verspürte ich eine gewisse Anspannung in Hinsicht auf die Frage, wie die Tötung Maltes vonstattengehen würde. Die Anspannung war zu gering, um sie vor allen Leuten wegzuatmen. Aber sie war ausgeprägt genug, um mich in meinem Wohlbefinden zu beeinträchtigen. Ich erinnerte mich an eine weitere Entspannungsübung von Joschka Breitner. Er nannte sie das »In-sich-hinein-Lächeln«:

»Es gibt Muskeln in Ihrem Körper, deren Anspannung sofort zur achtsamen Entspannung führt. Die Rede ist von den Muskeln, die Sie zum Lächeln brauchen. Setzen Sie bitte nur für sich allein ein Lächeln auf. Verfolgen Sie den Verlauf Ihres Lächelns. Spüren Sie, wie die Anspannung der Muskeln um Ihren Mund herum dazu führt, dass sich automatisch Anspannungen in Ihrem Halsbereich lösen. Spüren Sie weiter, wie diese Entspannung wie eine kleine Welle durch Ihren Körper gleitet. Ihr Lächeln setzt sich in allen Körperteilen fort. Lächeln Sie, sooft Sie können, in sich hinein.«

Ich begann also, in mich hinein zu lächeln, um die aufkommende Anspannung sehr schnell und effektiv zu lösen. Ich hatte mit meiner kleinen Übung keinen Moment zu früh begonnen.

Wir beobachteten Toni dabei, wie er sich über Malte beugte und dessen Puls fühlte. Anschließend zog er Malte vom Sofa herunter und ließ ihn auf dem Boden liegen. Dann wandte er sich ab, und es sah für einen Moment so aus, als wollte er fortgehen. Aber wie aus dem Nichts heraus drehte sich Toni wieder um, holte dabei mit dem rechten Fuß, der in einem schweren Stahlkappenschuh steckte, aus und trat mit voller Kraft gegen Maltes Kopf. Der Kopf lag anschließend in einem dermaßen unnatürlichen Winkel zum Rumpf auf dem Boden, dass ohne jeden Zweifel klar war, dass Maltes Genick gebrochen und der Mann tot war.

Walter, Sascha und auch der Controller wichen erschrocken zurück und guckten angewidert weg. Ich hatte auf Grund meiner »In-mich-hinein-Lächeln«-Übung ein Höchstmaß an Gelassenheit erreicht und konnte entspannt den Geschehnissen auf dem Bildschirm folgen. Als Walter und Sascha sahen, dass ich in einer Situation, die selbst sie als widerwärtig empfanden, einfach nur lächelte, zogen sie wahrscheinlich völlig falsche Schlüsse. Sie begriffen nicht, dass ich die Bilder nur ertragen konnte, weil ich lächelte. Ein Missverständnis, das meinem wachsenden Ansehen als Führungspersönlichkeit nicht schadete. Ich war nicht nur der geniale Stratege, der der Polizei vorspielen konnte, Dragan sei tot. Ich konnte den Tod obendrein weglächeln, wenn ich ihm gegenüberstand. Ein weiterer Pluspunkt für mich war die Tatsache, dass ich mit einer Einschätzung richtiggelegen hatte: Toni hatte Malte direkt und ohne viel Foltergedöns um die Ecke gebracht.

Ich bekam wortlos von Walter und von Sascha jeweils 50 Euro zugesteckt.

Wir beobachteten, wie Toni erneut den Puls von Malte fühlte. Es schien keiner mehr da zu sein. Anschließend wuchtete Toni Malte wieder auf das Sofa und legte ihn so hin, wie er ihn vorgefunden hatte. Dann wollte er den Raum verlassen und stellte fest, dass die Tür verriegelt war.

Das war der Moment, auf den ich gewartet hatte. Ich betätigte den Knopf für die Gegensprechanlage. Ich sprach zwei Stimmlagen tiefer als normal.

»Hallo, Toni!«

Toni fuhr sichtlich zusammen.

»Schreckhaftes Häschen, was?«

»Wer ist da?«

»Ich bin viele. Vielleicht bin ich Malte, der ein wenig sauer ist, dass du ihn gerade umgebracht hast? Oder bin ich Murat, den Malte für dich erschossen hat? Oder bin ich Dragan, den du hast umbringen wollen?«

»Was soll der Scheiß?«

Ich sprach mit normaler Stimme weiter.

»Okay, Toni, lassen wir den Scheiß. Ich bin einfach nur der Typ, dessen Tochter du bedroht hast, weil du Dragan sehen wolltest. Und der dich deswegen nicht zu Dragan bringen wird, sondern zu jemandem, der dich viel sehnlicher erwartet.«

Toni trat mehrmals mit voller Wucht gegen die Stahltür, die davon völlig unbeeindruckt war.

»Hey, Anwalt-Arschloch. Du machst jetzt sofort die Tür auf, oder ich mach dich kalt.«

»Hallo, Toni«, sagte Walter. »Also, ich hab jetzt kein Abitur oder so … deshalb frag ich ganz offen: Wie willst du Björn töten, wenn die Tür zu bleibt?«

»Würd mich auch interessieren«, sagte Sascha.

»Holt mich hier raus. Der Typ verarscht euch. Dragan ist tot.«

»Okay …«, setzte Walter an. »Aber warte mal kurz: Wenn Dragan tot ist, warum hat er uns dann aufgetragen, dich in diese Versteckte-Kamera-Falle laufen zu lassen?«

»Ihr habt das gefilmt?«

»Richtig«, klinkte sich Sascha in das Gespräch ein. »Genauso, wie wir auch Maltes Geständnis gefilmt haben.«

»Und ich sag mal so«, sagte ich mal so, »Dragan was not amused.«

»Mach sofort die Tür auf, du Arschloch, ich mach dich kalt. Ich polier dir die …«

Ich schaltete die Gegensprechanlage aus. Ich hatte Toni an genau dem Punkt, an dem ich ihn haben wollte. Für jemanden wie Toni, der jedes Problem mit Gewalt lösen wollte, war es das Schlimmste, keine Gewalt mehr anwenden zu können, weil alle anderen Personen im Raum schon tot waren und der Rest der Welt ihn nicht beachtete. Es würde für ihn eine Tortur sondergleichen darstellen, wenn er nicht bekämpft, sondern ignoriert werden würde.

Wir würden Toni das komplette Wochenende lang in völligem Schweigen in diesem Kellerraum lassen. Zusammen mit Malte, der auf Grund von Tonis Gewaltexzess kein guter Gesprächspartner mehr war. Malte würde am Sonntagabend nach altbekannter Methode in der Müllverbrennungsanlage entsorgt werden. Sonntags war dafür angeblich der beste Zeitpunkt, wie Sascha mir erklärt hatte. Ich stellte fest, dass das Leben ein nie endender Lernprozess war. Toni seinerseits würden wir am Montag zu Boris bringen. Kurz: Wir lagen voll im Zeitplan.

Als wir auf den Parkplatz gingen, nahm mich Walter kurz zur Seite.

»Hör mal, Björn. Es geht mich ja nichts an, aber …«, druckste er herum.

»Schieß los, was gib es?«

»Also, es geht um Dragan und diese Zeitungsseiten.«

Mir wurde schlagartig kalt, trotz der Sonne, die noch immer schien. Was zum Teufel hatte Walter jetzt wieder rausgefunden?

»Was ist damit?«

»Ich will dir keine Ratschläge geben …«

»Nun red schon?«

»Nun … meine Leute folgen dir ja nun seit ein paar Tagen. Und es ist ziemlich auffällig, dass es nur einen einzigen Ort gibt, an dem du täglich bist und an dem du täglich etwas mitnimmst.«

»Und welcher Ort ist das?«

»McDonald’s.«

Ich war mehr als verblüfft. Ich hatte keine Ahnung, worauf das hinauslaufen sollte. »Und was willst du mir damit sagen?«

»Nun, wenn selbst meine Leute darauf kommen, dass die Übergabe von Dragans Nachrichten nur bei McDonald’s stattfinden kann, dann kommt da auch die Polizei drauf. Vielleicht solltet ihr das ein wenig subtiler gestalten …«

Ich stutzte. Die Tatsache, dass ich seit einer Woche jeden Tag zu McDonald’s ging und dort eine Zeitung kaufte, war auf einmal ein weiterer Beweis dafür, dass Dragan lebte.

Ich lächelte in mich hinein. Einfach nur so. Weil mir tatsächlich danach war.