ICH BESCHÄFTIGTE MICH bis zum Nachmittag damit, meine im Wald getroffenen Lösungen so auszuarbeiten, damit ich sie in Dragans Namen beim abendlichen Meeting bei den anderen Officern implementieren konnte … Was für ein businesssprachlicher Humbug. Ich schaute zu Hause einfach, was ich brauchte, um meine Lösungen voller Wahrhaftigkeit vortragen zu können. Und das waren Dragans Daumen und ein paar Zeitungsseiten.
Den Rest des Nachmittages, bis zum Officer-Meeting, nutzte ich, um meine eigene berufliche Zukunft zu planen.
Als Volljurist kann man alles machen. Das bildet sich zumindest jeder Jura-Erstsemester-Student ein. Es stimmt auch insofern, als dass man dann als Volljurist alles machen kann, wenn man reiche Eltern hat. Wenn man reiche Eltern hat, kann man allerdings auch mit einer Ausbildung als technischer Zeichner, mit einem Praktikum als Gleisbegeher oder auch ohne jede Qualifikation alles machen. Die Dichte von Kindern reicher Eltern ist in einer Jura-Erstsemester-Vorlesung allerdings ungleich höher als bei technischen Zeichnern oder Gleisbegehern.
Ich war kein Kind reicher Eltern. Und ich konnte nur »Anwalt«. Und als solcher am ehesten »Strafrecht« und »Wirtschaft«. Da ich die letzten zehn Jahre ausprobiert hatte, ob mir ein Angestelltenverhältnis Spaß machen würde – das tat es nicht –, wollte ich nun einmal ausprobieren, wie es mit der Freiberuflichkeit aussah. Sofern ich den 30. April überleben würde, würde ich zum 1. Mai gerne ein paar schöne Kanzleiräume anmieten, am liebsten in der Nähe meiner Wohnung, in der Nähe des Hauses meiner Tochter und in der Nähe ihres zukünftigen Kindergartens.
Das Haus, in dem sich die Räumlichkeiten von »Wie ein Fisch im Wasser« befanden, entsprach nicht nur geografisch diesen Anforderungen. Es war auch, dank meines bisherigen Geschicks in Sachen Räumungsverhandlungen, bis auf den Kindergarten leer. Ich beschloss daher, mir die leeren Räume in den oberen Etagen mal genauer anzuschauen, und fuhr mit dem Bus hin.
Tatsächlich waren es wunderschöne Büro-Einheiten mit hohen Decken, Stuck-Verzierungen, Schiebetüren und einem tollen Parkettboden. Als Edelbordell wäre dieses Haus unschlagbar gewesen. Dragan hatte ein Händchen für solche Visionen. Jetzt hatte ich allerdings den rechten Daumen dieses Händchens als Gipsabdruck bei mir zu Hause und konnte selber entscheiden, was mit der Immobilie passieren sollte. Und was konnte es Schöneres geben als eine eigene Kanzlei direkt über dem Kindergarten von Emily?
Ich schlenderte durch die drei leer stehenden Etagen und richtete in Gedanken ein Büro ein, ein Besprechungszimmer, ein Spielzimmer für Emily. Ich war gerade dabei, mir ein Fernsehzimmer mit bequemer Lümmel-Couch auszumalen, als mein Telefon klingelte. Es war Peter, der Leiter der Mordkommission. Ich hoffte inständig, dass der Anruf nichts mit Fingern, sondern bloß was mit Handgranaten zu tun haben würde.
»Hallo, Peter, was gibt’s?«
»Ich wollte dich kurz auf dem Laufenden halten wegen deines Firmenwagens.«
»Ich habe keinen Firmenwagen.«
»Gut, also wegen deines Ex-Firmenwagens. Die Explosion wurde durch eine Handgranate ausgelöst.«
Ich war erleichtert. Tat aber verwundert. Was mir schwerfiel, da ich diese Information am Vorabend bereits selber mittels mehrerer Stromstöße herausbekommen hatte.
»Durch eine Handgranate? Wie das?«
»Primitive, aber wirksame Zündvorrichtung. Die Handgranate wurde mit Panzerband in die hintere Radverkleidung geklebt. Der Sicherungsstift wurde mit einem Draht mit der Felge verbunden. Die kleinste Reifenbewegung hat den Sicherungsstift aus der Handgranate gezogen und dann … Bumm.«
»Klingt technisch einfach, aber emotional kompliziert.«
»Drei Dinge kann ich dir sagen. Erstens: Die Handgranate war derselbe Typ wie in Frau Bregenz’ Wohnung am Dienstag und wie am Autobahnparkplatz am Freitag.«
Also konnte auch Peter sich ausrechnen, dass Toni hinter dem Anschlag auf mich steckte. Hatte dafür aber keine Beweise.
»Zweitens: Die Granate war so angebracht, dass sie den Fahrer nicht hätte töten können. Hätte dich jemand umbringen wollen, hätte er die Granate unter die vordere Radverkleidung klemmen müssen.«
»Und drittens?«
»Drittens würde ich dich gerne unter vier Augen sprechen.«
»Klar. Wo?«
»Wo bist du? Ich komme zu dir.«
»Ich bin grad in einer von Dragans Immobilien. Herderstraße 42. Ich weiß nicht, ob es hier irgendwo ein Café gibt …«
»Welcher Stock?«
»Wie, welcher Stock? Ich bin grad in der dritten Etage, wieso?«
»Ich bin in zehn Sekunden da.«
Ich steckte verwundert mein Handy weg und hörte bereits Schritte im Holztreppenhaus. Fünf Sekunden später klopfte Peter an die angelehnte Wohnungstür und kam herein.
»Was machst du denn hier?«, fragte ich erstaunt.
»Das Gleiche könnte ich dich fragen.«
»Ich schaue mir eine Immobilie eines Mandanten an. Sagte ich doch.«
»Und ich schaue mir Opfer deines Mandanten an.«
»Ich bin vielleicht Opfer eines Handgranatenanschlages, aber doch nicht Opfer meines Mandanten.«
»Es geschehen ja noch andere Verbrechen in dieser Stadt, die nichts mit Handgranaten zu tun haben.«
»Ach so?«
»Ich denke da an Körperverletzungen, Nötigungen, Verleumdungen, Computerbetrug …«
Ich hielt es für ausgeschlossen, dass die Hipster aus dem Erdgeschoss Anzeige erstattet hatten. Sie wussten genau, dass sie noch bis zum Wochenende Zeit hatten, ihre Sachen zu packen und den Geschäftsübergang an die Eltern zu kommunizieren. Wäre dies nicht der Fall, stünden sie vor dem beruflichen Nichts.
Ich nickte. »Aha. Und deswegen ermittelst du ausgerechnet in einem Kindergarten?«
»Na ja, war wohl falscher Alarm. Die Frau eines der Gesellschafter hat sich heute Morgen bei uns gemeldet und wollte mit dem zuständigen Beamten für Dragan Sergowicz reden. Der bin ja nun ich.«
»Und was wollte die Frau?«
»Sie sagte mir, ihr Mann sei gestern Abend von zwei Mitarbeitern von Herrn Sergowicz massiv bedroht und verprügelt worden. Ihm sei die Nase gebrochen und ein Zahn ausgeschlagen worden. Außerdem sei damit gedroht worden, ihm ein Bein zu brechen und seine Firmen mit einer Rufmord-Kampagne zu überziehen, wenn er nicht seine Anteile an dem Kindergarten an Herrn Sergowicz übertragen würde.«
Nase gebrochen und Zahn raus … Das war der Hipster mit der E-Pfeife. Wunderte mich nicht, dass sich diese Lusche bei seiner Frau ausheulte.
»Das sind aber eine Menge unangenehmer Behauptungen. Gibt es dafür Zeugen?«
»Nun, das ist ein bisschen komisch. Ich bin einfach mal rausgefahren zu dem Mann – der gerade hier unten sein Büro im Kindergarten leerräumt. Und der kann sich an all das überhaupt nicht erinnern.«
»Er hat also gar keine gebrochene Nase?«
»Doch. Und der Zahn fehlt auch. Er behauptet aber felsenfest, er sei die Kellertreppe hier im Haus heruntergefallen.«
»Und dafür gibt es Zeugen?«
»Ja. Die beiden anderen Gesellschafter können das bezeugen. Die zufälligerweise auch beide gebrochene Nasen haben.«
»Auch die Kellertreppe?«
»Auch die Kellertreppe.«
»Dann werde ich wohl mal ein Wörtchen mit meinem Mandanten bezüglich des Zustandes der Kellertreppe reden müssen.«
»Gut. Das ist gut. Da ist nur noch …«
»Mach dir keine Sorgen. Mein Mandant und seine Mitarbeiter werden von einer Strafanzeige gegen die Ehefrau wegen Verleumdung absehen.«
»Das ist auch gut. Gut.«
Peter hatte noch etwas auf dem Herzen, das sah man ihm an. Schließlich rückte er raus mit der Sprache. »Ich hab da unten an der Wand ein paar Bilder von den Kindern und ihren Eltern gesehen. Lustiger Zufall, da waren auch Paul und Mary drauf.«
»Wer sind Paul und Mary?«
»Die Kinder von Karl Breuer, das ist der Leiter des Bauamts. Mit dem spiele ich regelmäßig Squash. Der äußerst sich immer ganz begeistert über ›Wie ein Fisch im Wasser‹.«
Ach, sieh mal einer an. Der Bauamtschef. Immer wenn Dragan eine beschleunigte Bearbeitung für irgendetwas brauchte, äußerte Herr Breuer erst massive Bedenken bezüglich Klima- oder Tierschutz, besprach diese dann mit Dragan in einem von Dragans Bordellen und ließ sich dort die Bedenken wegblasen. Und der feine Herr hatte seine Kinder in meinem Kindergarten? Das war gut zu wissen.
»Kann sein. Kenne ich nicht. Ist ja nicht mein Kindergarten.«
»Jetzt haben die drei ehemaligen Gesellschafter aber übereinstimmend ausgesagt, dass sie ihre Anteile an dem Kindergarten komplett auf eine Tochterfirma von Dragan übertragen haben. Weißt du da was von?«
»Klar. Ich habe den Deal ja entworfen. Aber du weißt ja – ich bin bloß Anwalt. Nicht Erzieher. Sascha ist allerdings gelernter Erzieher.«
»Und Sascha ist der neue Geschäftsführer des Kindergartens?«
»Richtig. Wieso?«
»Also … versteh mich nicht falsch, aber …« Plötzlich wirkte er regelrecht kläglich. Er gab sich einen Stoß: »Habt ihr da noch Plätze frei?«
Ich konnte es fast nicht glauben, dass mein Plan, den ich eigentlich nur gegenüber Sascha zusammenimprovisiert hatte, tatsächlich funktionierte. Mit Kindergartenplätzen lockte man Eltern an. Und machte sie abhängig. Ich hatte mich schon gewundert, warum Peter mir ungefragt die Ermittlungsergebnisse in Bezug auf den Anschlag auf meinen ehemaligen Dienstwagen gegeben hatte. Ganz einfach: weil das Leben ein Geben und Nehmen war. Peter wollte etwas von mir. Einen Kindergartenplatz.
Die Hipster hatten das Haus noch nicht einmal verlassen und schon waren Sascha, der Leiter des Bauamtes und nun auch der Leiter der Mordkommission die ersten Junkies meiner neuen Droge. Wenn das mal kein guter Start war.
Allein schon aus Achtsamkeitsgründen konnte ich Peter die Bitte, seinen Sohn im Kindergarten aufzunehmen, nicht verwehren. In meinem Achtsamkeitsführer stand unmissverständlich:
»Wir können geben, und wir können nehmen. Dies ist ein Kreislauf. Und wenn sich Geben und Nehmen das Gleichgewicht halten, geht es uns gut. Wer nur gibt, aber nicht nehmen kann, fühlt sich in diesem Kreislauf ausgelaugt. Und wer nur nimmt, aber nicht geben kann, fühlt sich schlecht.«
Ich wollte weder, dass Peters sich ausgelaugt, noch dass ich mich schlecht fühlen würde. Natürlich würde ich ihm den Kindergartenplatz geben. Allerdings würde ich seinen Sohn nur dann unter meine schützenden Fittiche nehmen, wenn Peter mir dafür den Finger von Dragan geben würde.
»Du fragst eher allgemein? Oder ganz konkret für deinen Lukas?«
»Ja, für Lukas. Du glaubst ja gar nicht, wie schwierig das ist, einen Kindergartenplatz zu bekommen. Dieses bescheuerte Anmeldesystem …«
»Kotz. Kenne ich.«
»Wir haben achtundzwanzig Bewerbungen geschrieben.«
»Wir einunddreißig.«
»Und keine einzige Zusage.«
»Bei uns genauso.«
»Nun, da habe ich mir gedacht, frag ich dich einfach mal, ob du Chancen siehst, ob hier eventuell ein Platz frei wird.«
Ich sah ihn taxierend an. »Also, verstehe ich das richtig. Damit dein dreijähriger Sohn nicht weiter halbtags Haftbefehlsanträge für Dragan als Beschäftigungsmaßnahme in deinem Büro ausmalen muss, fragst du mich, ob Lukas nicht stattdessen in Dragans Kindergarten aufgenommen werden kann?«
»Nur so als Frage. Kinder sind Kinder, und Arbeit ist Arbeit. Außerdem ist das ja gar nicht Dragans Kindergarten, sondern der einer gemeinnützigen Gesellschaft, deren Gesellschafter eine Tochterfirma von Dragan ist. Ich darf ja auch als Polizist in einer Bar von Dragan ein Bier trinken. Wenn ich es selbst bezahle.«
»Und du würdest es in Kauf nehmen, dass Lukas dann eventuell in einer Gruppe mit Emily wäre, deren Vater im Verdacht steht, einen Finger entführt zu haben, der einen Ring trug, der so ähnlich aussah wie der vom Betreiber des Kindergartens?«
»Wer sagt denn so was?«, empörte sich Peter. »Es gibt fast zehnmal so viele Finger wie Menschen auf der Welt. Da gibt es durchaus mal Verwechslungen.«
»Definiere doch bitte ›Verwechslungen‹ für mich …«
Peter räusperte sich. »Ich habe mir die Akte noch mal genau angesehen. Der Finger ist ja wohl eindeutig auf dem Nachbargrundstück gefunden worden. Also hast du damit schon mal gar nichts zu tun. Leider habe ich auch keine zuverlässige Vergleichs-DNA von Dragan gefunden. Und das Labor ist wie immer völlig überlastet. Ich denke mir also, dass dieser Finger wohl eher keine Relevanz für unseren Fall hat …«
Das hörte sich doch gleich viel besser an. Entspannt steckte ich meine Hände in die Manteltaschen.
»Das sehe ich auch so. Nemo oder Flipper?«
»Bitte?«
»Möchte Lukas lieber in die Nemo- oder in die Flipper-Gruppe? Da unten tragen alle Gruppen Fischnamen.«
»Delfine sind doch keine Fische.«
»Wenn du einen Platz im hippsten Hipster-Kindergarten der Stadt haben möchtest, dann solltest du das nicht so eng sehen. Willkommen bei ›Wie ein Fisch im Wasser‹!«
Ich reichte Peter die Hand und zog dabei aus Versehen den Nachplapper-Vogel mit aus der Manteltasche. Er fiel auf den Boden zwischen uns und sagte mit seiner absurden Kopfstimme:
»Ich habe meinen Mandanten zerhackt und bin frei.«
Schön, dass das Scheißding endlich wieder funktionierte. Doof nur, dass es gerade in dieser Situation geschehen musste. Eine peinliche Gesprächspause entstand zwischen Peter und mir.
»Was war das?«, wollte Peter wissen.
»Was war das?«, plapperte der Vogel nach.
»Das ist der Nachplapper-Vogel mit dem defekten Sprach-Chip, von dem ich dir erzählt habe. Also: Nemo oder Flipper?« Ich steckte den Vogel wieder in meine Tasche.
Peter zögerte eine Sekunde. Dann sagte er voller Überzeugung: »Flipper. Lukas soll in die Flipper-Gruppe.«
»Eine gute Entscheidung. Das wirst du nicht bereuen.«
»… nicht bereuen«, kam es aus meiner Tasche.