Kapitel 9
Freitag, 23. März 1889
Rue Violet, 15. Arrondissement
Giselle
Am folgenden Abend fuhr sie mit Miss Jhadav und Fiona zu einer Adresse im 15. Arrondissement. Monsieur de Letrende hatte der jungen Hexe geschrieben, dass eine gewisse Madame Laurent sie alle auf seine Nachricht hin zu sich eingeladen hatte. Fiona hatte Giselle gebeten, sie ebenfalls zu begleiten, da ihr Französisch besser war und sie im Zweifelsfall für Miss Jhadav übersetzen konnte.
Ein kalter Regenschauer prasselte auf sie nieder, als sie aus der Kutsche stiegen, aber zum Glück war es nicht weit bis zu der angegebenen Adresse. Dennoch war Giselle froh, dass sie ihren Regenschirm dabei hatte. Madame Laurent lebte im Erdgeschoss eines alten, mehrstöckigen Hauses.
Bonsoir – guten Abend”, begrüßte die Dame sie alle, als sie ihnen die Tür öffnete. Sie war ungefähr in Giselles Alter, ihr blondes Haar war schon etwas graumeliert und zarte Falten durchzogen ihre Gesichtshaut.
Giselle stellte sich auf Französisch vor. „Ich bin keine Hexe”, erklärte sie. „Aber Miss Jhadav spricht kein Französisch und ich bin hier, um zu übersetzen.”
„Oh …” Madame Laurent runzelte die Stirn.
„Mrs Butler ist absolut vertrauenswürdig”, kam Fiona Giselle zu Hilfe. „Wir kennen uns schon seit Jahren. Außerdem ist sie eine Spiritistin. Sie hat also ebenfalls Kenntnisse des Okkulten.”
Madame Laurent zögerte einen Moment und musterte Giselle mit kritischer Miene. „Also gut. Kommen Sie herein”, sagte sie schließlich mit einer einladenden Geste auf Französisch. „Monsieur de Letrende und einige weitere magisch Begabte sind bereits eingetroffen.”
Sie führte sie durch einen kleinen Flur in einen Raum, der an eine Mischung aus Werkstatt und Labor erinnerte. Zwei breite hölzerne Arbeitstische gab es hier, Schränke und Regale mit allerhand Utensilien und Gerätschaften. In der Luft lag ein schwacher, undefinierbarer Geruch, eine Mischung aus Metall, Holz, Bohnerwachs und allerhand Substanzen, die Giselle nicht einordnen konnte.
„Warten Sie bitte kurz, ich hole die anderen”, sagte ihre Gastgeberin. In den folgenden Minuten sah Giselle sich weiter im Raum um. Auf einem der Tisch befanden sich gläserne Behälter, ein Bunsenbrenner, ein Mikroskop und noch andere Gegenstände, die ihr unbekannt waren. Ob Madame Laurent eine Wissenschaftlerin war?
Die Französin kehrte zurück, mit drei Herren und einer etwas jüngeren Dame.
„Darf ich Sie bekannt machen? Das hier ist Monsieur Ayadi aus Tunesien. Er ist Arzt.” Sie wies auf einen dunkelhäutigen Mann mit schwarzem Haar und dunkelbraunen Augen, der den Damen höflich zunickte.
„Monsieur de Letendre, der Gastgeber der magischen Zusammenkunft.” Der Angesprochene, ein älterer Mann mit teilweise grauen Haaren, verneigte sich vor den Damen.
Giselle, Miss Jhadav und Fiona stellten sich nun ebenfalls vor.
Madame Laurent fuhr fort: „Monsieur Durand, er arbeitet als Chemiker und lehrt an der Universität.”
Dieser Herr hatte hellbraunes Haar und wache, blaugraue Augen. „Es freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen”, sagte er mit freundlicher Miene.
„Und das hier ist Mademoiselle Roux. Sie ist als Krankenschwester tätig.” Die junge Frau hatte rötlichbraunes, fast kastanienfarbenes Haar und eine kleine Narbe an der linken Schläfe.
„Sehr erfreut”, sagte Giselle und übersetzte das, was Madame Laurent über die drei erzählt hatte.
„In welchem Krankenhaus arbeiten Sie, Mademoiselle Roux?”, erkundigte sich Fiona.
„Im Hôtel-Dieu de Paris . Dort, wo sich die Patienten befinden, die an der Seuche erkrankt sind. Ich war allerdings in den vergangenen Tagen im Urlaub und habe von der Seuche erst durch eine Kollegin erfahren, der ich in der Stadt über den Weg gelaufen bin. Und ich habe es auch in der Zeitung gelesen. Morgen fange ich wieder an zu arbeiten, dann kann ich mir sicher ein genaueres Bild machen.”
„Sehr gut”, sagte Giselle.
„Bitte, zeigen Sie uns den Gegenstand?”, bat Monsieur de Letendre.
„Legen Sie ihn ruhig dort auf den Tisch. Ach, warten Sie, ich werde Handschuhe holen”, warf ihre Gastgeberin ein.
„Ich habe selbst welche dabei”, erwiderte Fiona und zog ihre Lederhandschuhe aus der Handtasche. Danach holte sie das antike Gefäß aus der mitgebrachten Tasche, die Miss Jhadav trug. Vorsichtig legte sie es auf den Tisch, mit der Öffnung nach oben. Dann nahm sie den Deckel ab und legte ihn daneben.
Die Magier und die beiden Hexen aus Paris versammelten sich um den freistehenden Tisch. „Dann lassen Sie uns einmal schauen, was uns die magische Sicht offenbart”, schlug Monsieur de Letrende vor.
Giselle, Fiona und die indische Hexe warteten schweigend, während die anderen magisch Begabten sich dieser Aufgabe annahmen. Sie alle ließen sich Zeit, beugten sich mal mehr und mal weniger weit vor. Nach etwa zehn Minuten beendeten sie die Untersuchung.
Nun berichtete jeder von ihnen, was er gesehen hatte. Sie alle erwähnten jene seltsamen schwarz-violetten Schlieren, die anstelle gewöhnlicher Energieströme aus dem Gefäß krochen und von denen Fiona erzählt hatte.
„Das deckt sich mit dem, was Miss Jhadav und ich gesehen haben”, erklärte die junge Irin.
„Hmm. So weit, so gut. Was können Sie uns noch über diesen Gegenstand berichten?”, fragte Monsieur de Letendre.
Abwechselnd erzählten Fiona und Giselle das Wenige, was sie wussten. Dass Eliott durch seinen Auftrag den Gegenstand zusammen mit einigen weiteren wiederbeschaffen sollte und ihn im Haus von Sébastien Dubois gefunden hatte. Dass der Hausherr seltsamerweise kurz vorher verstorben war. Und dass Eliott unmittelbar nach dem Fund der Objekte erkrankt war, die er ohne Handschuhe angefasst hatte. Fiona erwähnte auch, dass der amerikanische Detektiv einen der Bediensteten des Monsieur Dubois ebenfalls unter den Seuchenpatienten im Hôtel-Dieu wiedergefunden hatte.
„Gut”, sagte Madame Laurent, nachdem Fiona und Giselle ihren Bericht beendet hatten. „Nehmen wir einmal rein hypothetisch an, dieser Gegenstand ist für die Erkrankungen verantwortlich. Oder vielleicht eher die unbekannte Substanz, die sich darin befindet. Hat jemand der Anwesenden schon einmal von einer Krankheit gehört, die mit einem antiken Gegenstand in Verbindung stand?”
„Das nicht direkt”, sagte Monsieur Ayadi mit gerunzelter Stirn. „Allerdings habe ich einmal von einem französischen Archäologen gehört, der unmittelbar nach einer Ausgrabung in der Nähe von Tunis erkrankte. Das ist allerdings schon gut fünf oder sechs Jahre her. Als er nach Paris zurückkehrte, ging es ihm bereits sehr schlecht. Die Ärzte gingen erst von einer Lungenentzündung aus, doch es gab Symptome, die damit nicht übereinstimmten. Er ist leider kurz darauf verstorben. Aber ob seine Erkrankung mit einem antiken Gegenstand zusammenhing, ist fraglich.”
Mit einem nachdenklichen Gesichtsausdruck rieb er sich übers Kinn. „Ich hörte damals allerdings eine interessante Theorie dazu. Es wäre denkbar, dass sich auf Gegenständen, die nach Jahrhunderten oder gar Jahrtausenden ausgegraben werden, immer noch Bakterien, Pilze oder Viren befinden, die selbst nach einer so langen Zeit noch für Erkrankungen sorgen können. Vielleicht umso mehr, wenn man als heutiger Zeitgenosse noch nie mit solchen antiken Mikroorganismen in Berührung gekommen ist. Ich gebe zu, das ist eine waghalsige Theorie, die bisher auch nicht bewiesen werden konnte, aber ich denke, wir sollten diese Möglichkeit nicht von vornherein ausschließen.”
Giselle übersetzte seine Worte für Miss Jhadav.
Diese hörte sich das mit wachsendem Staunen an. „Das könnte erklären, warum meine magische Untersuchung bei Mister Breeches nichts ergeben hat. Vielleicht konnte ich die entsprechenden Bakterien oder Viren einfach nicht erkennen.” Sie runzelte die Stirn. „Es wäre zumindest denkbar.”
„Wir sollten keine leichtfertigen Schlüsse ziehen”, meldete sich Monsieur Durand zu Wort. „Ich wüsste zunächst gern, ob jemand von Ihnen schon einmal vergleichbare Energieströme gesehen hat.”
Alle Anwesenden schüttelten den Kopf. „Ich frage mich gerade, ob es vielleicht in meiner Bibliothek Schriften über dieses Phänomen gibt”, sagte Monsieur de Letrende. „Ich werde dort mal ein wenig stöbern.”
„Wenn Sie erlauben, würde ich Sie dabei unterstützen”, bot sich Giselle an.
„Madame, mit Verlaub, Sie sind keine von uns.”
Giselle lächelte ihn freundlich an. „Machen Sie sich keine Sorgen, Monsieur, ich habe keineswegs vor, Geheimnisse der magisch Begabten auszuplaudern, darauf gebe ich Ihnen mein Wort. Außerdem kenne ich mich recht gut mit Bibliotheken und wie man dort etwas findet, aus – unsere spiritistische Gesellschaft in London verfügt über eine recht umfangreiche Sammlung.”
Monsieur de Letrende musterte sie einen Moment lang prüfend, dann schüttelte er den Kopf. „Es tut mir leid, aber das kann ich nicht verantworten. Aber wer weiß, vielleicht hilft es uns weiter, wenn Sie an anderer Stelle in Büchern suchen, z.B. in der medizinischen Abteilung der Stadtbibliothek. Oder im Archiv eines Museums für Altertümer. Vielleicht gibt es hier in der Stadt irgendwo Schriften über Gegenstände wie diesen.”
Einen Versuch war es sicherlich wert. Sie nickte ihm zu. „Das ist auch eine gute Idee. Dem werde ich nachgehen, falls es nötig sein sollte.”
„Ich werde einmal etwas von dieser Substanz aus dem Gefäß holen und unter dem Mikroskop näher betrachten”, erklärte Madame Laurent. Mithilfe eines dünnen Löffels und spitzen Fingern beförderte sie eine kleine Menge der Masse auf eine Glasscheibe, die sie auf die entsprechende Fläche des Mikroskops legte.
„Das ist kein Sand. Der würde eine kristalline Struktur aufweisen”, erklärte sie kurz darauf. „Ich vermute, es handelt sich um Asche. Die allerdings in irgendeiner mir unbekannten Form manipuliert wurde. Vermutlich mit Magie. Je nachdem, wie lange sie schon in diesem Gefäß ist, hätte sie sich schon längst zersetzt. Ich habe aber auch Mikroorganismen darauf erkennen können, die sich bewegen. Allerdings sind es keine, die mir bekannt wären.”
„Lassen Sie mich bitte einmal sehen”, verlangte der Chemiker. Kurz darauf bestätigte er Madame Laurents Worte.
Auch Monsieur Ayadi riskierte einen Blick und nickte anschließend. „Es ist durchaus denkbar, dass es sich um Bakterien oder Viren handelt. Aber solche habe ich auch noch nicht gesehen.”
„Wenn das Asche ist – könnte es sich um die sterblichen Überreste eines Menschen handeln?”, fragte Miss Jhadav.
Giselle übersetzte ihre Worte.
„Das wäre durchaus im Bereich des Möglichen”, erwiderte Monsieur Ayadi. „Allerdings habe ich in der Ägyptischen Abteilung des Louvre Mumien gesehen und nach den Infotafeln dort war das Einbalsamieren und die Mumifizierung die übliche Bestattungsmethode im Alten Ägypten. Aber ob damals auch manche Leichen verbrannt wurden? Wer weiß … vielleicht sollte man sich mit dieser Frage an einen Sachverständigen im Museum wenden, eventuell weiß jemand von denen mehr darüber.”
Der Mediziner rückte seine Krawatte zurecht. „Hmm. Ich frage mich gerade, ob es wohl möglich wäre, anhand dieser Bakterien oder Viren ein Gegenmittel zu entwickeln, das wir als Heilmittel einsetzen könnten.”
„Aber würde das nicht sehr lange dauern?”, fragte Giselle mit zweifelnder Miene.
„Nicht unbedingt. Vor einigen Jahren habe ich einmal einen Bericht in einem medizinischen Fachblatt gelesen. Einem englischen Wissenschaftler namens Dr. MacAlistair ist es gelungen, innerhalb kürzester Zeit ein Antidot zu einem Schlangengift herzustellen. In dem Artikel beschrieb er genau, wie ihm dies gelungen ist. Vielleicht ist das ja auch in unseren Fall möglich. Optimistisch gesprochen, meine ich. Aber ich würde darüber noch mit anderen magisch Begabten sprechen, die sich ebenfalls mit Medizin auskennen oder auf diesem Gebiet forschen.”
„Ich hatte noch mehr von uns angeschrieben, aber einige noch nicht erreicht”, erklärte Monsieur le Letendre. „Lassen Sie uns besprechen, wie wir weiter vorgehen wollen.”
„Ich könnte in den Louvre gehen und dort weiter nachforschen, wie es um die altägyptischen Bestattungsriten bestellt war. Und vielleicht finde ich auch noch mehr über diesen Gegenstand heraus”, schlug Giselle vor.
„Ich werde dich gern begleiten”, bot Fiona an. „vielleicht sollten wir diese Hieroglyphen abzeichnen und herausfinden, was sie bedeuten?”
Madame Laurent hatte inzwischen die Asche wieder vom Mikroskop zurück in den antiken Behälter befördert und schloss vorsichtig dessen Deckel. Nun nickte sie Fiona zu. „Ich hole Ihnen Papier und Schreibutensilien.” Sie verließ den Raum.
„Ich werde den Artikel aus dem Fachblatt suchen, von dem ich erzählt habe”, erklärte Monsieur Ayadi. „Vielleicht kann ich diesen Dr. MacAlistair erreichen und ihm einige Fragen stellen. Und ich werde mich an die anderen magisch Begabten mit medizinischen Kenntnissen wenden.”
„Sehr gut. Ich werde wie gesagt, in meiner Bibliothek stöbern”, sagte Monsieur de Letendre.
„Wie wäre es, wenn ich Sie dabei unterstütze?”, bot sich Madame Laurent an, die gerade wieder hereinkam.
„Sehr gern.”
„Ich werde mich auch durch die Fachliteratur wälzen, mit Hinblick auf medizinische Chemie”, bot Monsieur Durand an.
„Das ist gut”, erwiderte Monsieur Ayadi.
Nur wenig später machte sich Fiona daran, die kleinen eingravierten Bildsymbole abzuzeichnen. „Ich wünschte, Nica wäre hier, sie kann so etwas viel besser als ich”, sagte sie mit einem Seufzen.
„Es muss ja nicht schön werden. Die Hauptsache ist doch, dass man die Symbole erkennen kann”, sagte Miss Jhadav.
„Wie wollen wir verbleiben, wenn es um Nachrichten geht?”, erkundigte sich Monsieur de Letendre mit einem Blick in die Runde.
„Wenn Sie möchten, können wir uns morgen Abend wieder hier treffen und zusammentragen, was wir herausgefunden haben”, bot ihre Gastgeberin an.
„Sind Sie alle damit einverstanden?”, fragte Monsieur Ayadi. „Mir ist es recht.”
Die anderen nickten und Giselle schloss sich ihnen an.
„Gut, dann wird Madame Laurents Haus vorübergehend unser Informations-Hauptquartier. Mit Ihrem Labor bietet sich das ja auch an. Vielen Dank.”
„Nichts zu danken”, erwiderte die Dame mit einer wegwerfenden Geste.
„Danke für Ihre Hilfe”, sagte Fiona dennoch, auch mit einem Blick in die Runde.
„Das ist doch selbstverständlich”, entgegnete Monsieur de Letendre. „Schließlich können wir nicht tatenlos zusehen, wie eine Seuche unsere Hauptstadt heimsucht, nicht wahr? Insbesondere, wenn diese einen magischen Ursprung hat, was wir natürlich noch genauer untersuchen müssen.”
Kurz darauf einigten sie sich darauf, den Gegenstand in Madame Laurents Labor zu belassen.
„Ich werde ihn vorsichtshalber in den Schrank stellen, so lange wir ihn nicht untersuchen”, sagte ihre Gastgeberin.
„Tun Sie das, Madame. Ich denke, es ist zu gefährlich, diesen viel zu bewegen oder gar durch die Gegend zu transportieren”, erwiderte der Chemiker.
Später teilte sich Giselle mit Fiona und Miss Jhadav ein weiteres Mal eine Mietkutsche.
„Das alles erscheint mir sehr rätselhaft”, sagte sie zu den beiden Hexen. „Ich hoffe, wir finden bald mehr über diesen Gegenstand heraus. Und ob er überhaupt mit dieser merkwürdigen Krankheit in Zusammenhang steht.”
„Das hoffe ich auch”, erwiderte Fiona leise.