Kapitel 14
Donnerstag, 29. März 1889 – Hôtel-Dieu de Paris
Eliott
Er roch das blutige Fleisch, noch bevor er es sah. Sein Magen zog sich schmerzhaft zusammen und ihm lief das Wasser im Mund zusammen. Zwei Pfleger und eine Krankenschwester schoben Teewagen mit zahlreichen Tabletts und Tellern durch den Saal. Endlich würde sein entsetzlicher Hunger gestillt werden! Zwar hatte es vor kurzem schon einmal blutig gebratenes Fleisch gegeben, aber zu dem Zeitpunkt war sein Appetit darauf noch nicht so stark gewesen. Ob das etwa mit dem Fortschreiten der Krankheit zusammenhing? Er wischte den unangenehmen Gedanken beiseite, denn sein Hunger fegte alle Bedenken fort.
Ein Pfleger reichte ihm ein Tablett mit einem Teller. Das Fleisch sah wunderbar saftig aus. Eliott sah auf die Gabel und das Messer. Ach was, es ging auch ohne und das viel schneller, er griff einfach nach dem Stück Fleisch und stopfte es sich in den Mund.
Verdammt noch eins, das schmeckte besser als alles, was er jemals gegessen hatte! Blut rann ihm den Mundwinkel entlang, aber was machte das schon? Er kaute weiter, schluckte, konnte nicht genug kriegen.
Rasselnde Atemgeräusche und schmatzende Laute um ihn herum. Alle Patienten ließen sich das Essen schmecken. Sein Bettnachbar sägte mit dem Messer bedächtig Stücke aus dem Fleisch. Der Pfleger war weitergegangen, versorgte andere Leute mit der Speise.
Nachdem er sich das gesamte Stück Fleisch einverleibt hatte, fühlte Eliott sich wunderbar gestärkt – so sehr, wie schon lange nicht mehr. Einer der Pfleger sprach auf Französisch mit ihm, doch Eliott hob hilflos die Hände. Der Pfleger zuckte mit den Schultern, nahm ihm das Tablett mit dem Teller und dem Besteck wieder ab und stellte es zurück auf den Teewagen.
Eliott verspürte einen seltsamen Bewegungsdrang. Aber das war wohl kein Wunder, weil er in den letzten Tagen so viel gelegen hatte. Vielleicht sollte er aufstehen und ein bisschen herumgehen? Eliott schlug die Bettdecke zurück und stieg aus dem Bett. Erstaunlich, endlich konnte er sich wieder fast ohne Schmerzen bewegen. Er spürte den kalten Boden unter seinen Füßen.
Der Pfleger drehte sich zu ihm um und sah ihn mit verwunderter Miene an.
„Ich möchte mich ein bisschen bewegen”, sagte Eliott. Er bewegte die Füße auf und ab. „Sehen Sie?”
Der Pfleger deutete mit strenger Miene auf das Bett. „ Couchez-vous à nouveau!
„Nein, Sie verstehen nicht”, begann Eliott. In diesem Moment ertönte ein Schrei hinter ihm. Er wirbelte herum. Einer der anderen Patienten war ebenfalls aufgestanden und bedrohte die Krankenschwester mit einem der Messer.
Im nächsten Moment brach die Hölle los: Mehrere der Anwesenden sprangen aus ihren Betten. Einer von ihnen riss einen Stuhl um, der mit einem krachenden Laut zu Boden fiel.
Eliott wurde mit einem Mal heiß, dabei war es eher kühl im Raum. Und warum verspürte er schon wieder Appetit auf blutiges Fleisch, obwohl er gerade erst gegessen hatte?
Irgendjemand brüllte mit heiserer Stimme: „ Sortons d'ici! Plus de viande! ” Andere Patienten antworteten ihm und es dauerte nicht lang, bis ein Stimmengewirr den Saal erfüllte. Die Krankenschwester floh.
Die beiden Pfleger versuchten inzwischen, beschwichtigend auf die Erkrankten einzureden, doch schon bald wurden auch sie mit dem Essbesteck bedroht. Einer von ihnen versuchte, einem aufgeregten Patienten das Messer zu entreißen, doch dieser bohrte es dem Mann in den Arm. Im nächsten Moment biss er zu. Der bloße Anblick heizte Eliotts Appetit an. Verdammt, was war das nur? Diese vermaledeite Krankheit – machte sie aus ihm allmählich ein Monstrum?
Er kam nicht dagegen an, lief zu den beiden Männern, die nun miteinander rangen. Der zweite Pfleger, ein großer, kräftiger Mann, wollte dazwischen gehen, doch andere Erkrankte rissen ihn zurück und im Nu fand sich Eliott in einer Prügelei wieder, deren Ziel die beiden Pfleger waren. Der Verletzte wurde zu Boden gerissen, eine Frau und ein Mann stürzten sich auf ihn und rissen Fleischfetzen aus seinem Arm. Eliott lief ein weiteres Mal das Wasser im Mund zusammen. Bloody hell, reiß dich zusammen, Breeches!
Schreie hallten durch den Saal. Scheppernd fiel eine Öllampe um, ihre Flamme setzte einen Vorhang in Brand.
Panik brach aus, schreiend taumelten und rannten die Patienten aus dem Saal. Auch die beiden Pfleger flohen. Er musste raus hier, schnell! Eliott stolperte hinter den anderen her, bis die Masse an Menschen ihn mit sich fortriss, aus dem Saal, hinaus in den dunklen Flur, der allerdings zunehmend vom Feuerschein erhellt wurde.
Ein Mann vor ihm ging zu Boden, doch andere trampelten einfach über ihn hinweg. Er gab ein Röcheln von sich und blieb regungslos. Eliott wollte stehen bleiben, nach ihm sehen, doch die Leute hinter ihm schubsten ihn, drängten ihn weiter und auch die Hitze des sich ausbreitenden Feuers machte ihm Angst. Er wollte nicht auch noch niedergetrampelt werden! Hin- und hergerissen drängte er sich an den Rand des Flures, während die anderen Patienten vorbeihasteten. Manche rannten, einige taumelten so sehr, dass es ein Wunder war, dass sie nicht zu Boden stürzten.
Eliott wartete, bis auch die letzten an ihm vorüber waren, dann hastete er zu dem Mann, der auf dem Boden lag. Verflixt, der regte sich nicht mehr.
Eliott legte ihm zwei Finger an den Hals, um seinen Puls zu fühlen. Nichts. Er schaute zurück zu der offenen Tür des Saales, der mittlerweile vom Feuer hell erleuchtet war. Der Rauch füllte mittlerweile auch den Flur. Eliott sah in das blasse, graue Gesicht des reglosen Mannes. Armer Teufel. Dem war nicht mehr zu helfen. Im nächsten Moment musste er an rohes Fleisch denken. Ihm wurde noch heißer, doch das lag nicht an dem Feuer, welches den Saal verwüstete. Der Drang, den Mann zu beißen, wurde übermächtig.
Er kämpfte gegen den Impuls an, der sein gesamtes Bewusstsein auszufüllen drohte.
Verdammt, ich verliere den Verstand! Eliott zwang sich, den Blick abzuwenden. So schnell es ging, stand er auf, ehe ihn dieser grässliche Drang überwältigen konnte. Er hastete hinter den anderen her, über den kalten Boden. Wütende Schreie erklangen, dazwischen überraschte Rufe. Eliott verstand kein Wort, aber es war ihm egal. Hauptsache, er kam hier raus, bevor sich das Feuer noch weiter ausbreitete, dessen Rauch einen beißenden Geruch verbreitete.
Den gleichen Gedanken hatten die anderen offenbar auch, denn sie strebten dem Ausgang zu, obwohl sie dort auf einen Nachtwächter und einen weiteren Pfleger trafen. Allerdings hatte der Wächter weder einen Knüppel noch eine andere Waffe. Er konnte die panischen Menschen nicht aufhalten, der Pfleger und er wurden einfach beiseite gestoßen, von den ersten, die bereits die Eingangstür aufrissen.
Eliott stürzte hinter den anderen nach draußen. Es dämmerte und die kühle Abendluft bildete einen scharfen Kontrast zu der Hitze in seinem Inneren. In einiger Entfernung ein Glockenläuten. Ein großer von Pferden gezogener Feuerwehrwagen hielt auf das Krankenhaus zu und in einiger Entfernung folgte ein weiterer.
Mehrere Feuerwehrleute sprangen aus dem Gefährt, kümmerten sich gar nicht um die Patienten. Sie rollten einen Schlauch aus und liefen damit hinunter zur nahegelegenen Seine. Sicherlich wollten sie das Wasser aus dem Fluss pumpen, um damit den Brand zu löschen. Rufe hallten über den Vorplatz, die Eliott nicht verstand. Vermutlich Anweisungen.
Die Masse der Patienten liefen an diesen Leuten vorbei, in Richtung einer Brücke weiter östlich, die zu dieser Stunde kaum noch befahren wurde. Eliott taumelte ebenfalls in diese Richtung, auch wenn er kaum wusste, wo ihm der Kopf stand. Aber er hatte noch dunkel in Erinnerung, dass sich sein Hotel auf der nördlichen Seite der Seine befand.
Den kühlen Wind fühlte er an seinen Haaren und seinem Pyjama zerren. Er fror an den nackten Füßen, doch zugleich war da noch immer diese Hitze in seinem Inneren.
Ein einzelner Passant kam ihnen entgegen, ein Mann mit einem Zylinder, der sie verunsichert musterte und stehenblieb. Einer der Patienten, ein hochgewachsener Mann mit einem zerzausten, aschblonden Haarschopf, rannte auf ihn zu und verbiss sich in dessen Hals. Der Passant schrie auf, versuchte sich loszureißen, doch der andere Mann war stärker.
Eliott stürzte sich auf den Angreifer, doch der stieß ihn grob beiseite, sodass er fast das Gleichgewicht verlor. Woher nahm dieser Kerl trotz der Erkrankung die Kraft dazu? Eliott zerrte ein weiteres Mal an ihm, doch zwei weitere Patienten schubsten ihn und bissen in die Arme des schreienden Passanten, der sich nicht mehr auf den Beinen halten konnte und zu Boden ging.
„Himmel, sind Sie denn völlig wahnsinnig?”, schrie Eliott sie an, bis ihm einfiel, dass diese Leute vermutlich kein Wort von dem verstanden, was er sagte. Seine Worte gingen in ein Röcheln über. Weitere der Erkrankten stürzten sich nun wie Geier auf den Verletzten. Verdammt, er musste die Polizei rufen; allein würde er nie mit diesen Irren fertig werden. Aber wie sollte er Hilfe holen?
Im Haus von Monsieur de Letendre
Fiona
Ein weiteres Mal hatten die magisch Begabten ein Ritual begonnen, doch dieses Mal waren sie wesentlich mehr; zwanzig Hexen und Magier hatten sich in einem großen Salon im Haus von Monsieur de Letrende im Kreis versammelt. Darunter befanden sich auch zwei Mitarbeiterinnen des hiesigen Büros für übernatürliche Fälle, dem Bureau des affaires surnaturelles. Zwei weitere Magier schützten das magische Gewebe, das sie gewirkt hatten, vor Angriffen, so wie es die Krankenschwester Mademoiselle Roux und Monsieur Ayadi bei der ersten magischen Suche gemacht hatten.
Auf dem Tisch in der Mitte ihres Kreises befanden sich nicht nur brennende Kerzen und eine Räucherschale, aus der duftender Rauch quoll, sondern auch ein Stadtplan von Paris, der die zwanzig Arrondissements zeigte. Diese hatten sie unter sich aufgeteilt, um die magische Suche besser einzugrenzen. Miss Jhadav, die neben ihr stand, nahm sich das 8. Arrondissement vor. Fiona durchsuchte das neunte, in welchem sich auch die Opéra Garnier befand. Das Opernhaus erkannte sie auf ihrer Astralreise schon bald wieder, es leuchtete schwach bläulich. Das große Gebäude diente ihr als Orientierungspunkt, während sie ihre Suche auf die Straßen ringsum ausdehnte.
Wieder fand sie ein Wirrwarr aus Energieströmen, während sie im Geiste über der Stadt schwebte und aus der Vogelperspektive heraus Ausschau hielt. Menschen, Pferde und Kutschen aller Art waren zu dieser späten Stunde unterwegs, sicherlich auf dem Weg nach Hause oder zu abendlichen Vergnügungen. Die Energiefäden all dieser Wesen und Objekte pulsierten in verschiedenen Farben – bläulich, grünlich oder auch erdfarben. Nach jenen violett-schwarzen, welche die Krankheit anzeigten, suchte sie vergebens. Das Arrondissement war allerdings relativ klein und ein Krankenhaus gab es dort nicht. Ein weiterer Blick auf die Oper – es kostete sie einige Mühe, deren Mauern im Geiste zu durchdringen. Als es ihr endlich gelungen war, machten sich pochende Kopfschmerzen hinter ihrer Stirn breit und die Augen tränten.
Im Inneren fand sie eine ganze Menge an Leuten, die sich auf einen bestimmten Bereich konzentrierten. Gewiss waren es der Zuschauerraum und die Bühne. Fiona verließ diesen Bereich, um sich den Keller anzusehen, aber die magische Suche laugte sie immer mehr aus. Ihre Hände zitterten, kalte Schauer rannen ihr über den Rücken. Es wollte ihr nicht gelingen, tiefer in das Gebäude zu gelangen. Aber wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, dass die drei Verschwundenen hier waren?
Plötzlich wurde der Kreis unterbrochen, irgendjemand von den anderen hatte sich herausgelöst. Das magische Gewebe, das sie gemeinsam gewebt hatten, fiel ruckartig in sich zusammen, die feinen Fasern und Fäden lösten sich mit einem knisternden Geräusch auf.
„Verzeihung, aber ich habe mich sehr erschrocken”, sagte Mademoiselle Roux. Sie hatte die Hände ihrer Nachbarn aus dem Kreis losgelassen. „Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, im Krankenhaus Hôtel-Dieu ist ein Feuer ausgebrochen. Und in seiner Nähe sind über zwanzig Erkrankte unterwegs.”
„Wie meinen Sie das denn – in der Nähe?”, fragte Monsieur de Letendre.
„Wie ich schon sagte, sie sind außerhalb des Krankenhauses unterwegs und steuern auf die Brücke Pont d’Arcole zu.”
„Aber wie ist das denn möglich?”, fragte Monsieur Durand. „Ob sie vor dem Feuer fliehen?”
„Ich weiß es nicht. Aber sie bewegen sich sehr schnell. Und das ist noch nicht alles – sie haben jemanden angegriffen, der nun regungslos am Boden liegt. Seine Lebenszeichen sind erloschen.”
Eine Dame mit einer strengen Hochsteckfrisur und einer nicht weniger strengen Miene räusperte sich. Es handelte sich um eine weitere Mitarbeiterin des Büros für übernatürliche Fälle, die auch bei der ersten Zusammenkunft der magisch Begabten anwesend gewesen war. „ Mesdames et Messieurs , wir müssen diesen Leuten Einhalt gebieten, ehe die Situation außer Kontrolle gerät. Ich werde mich unverzüglich dorthin begeben und auch die Polizei verständigen”, sagte sie.
„Mademoiselle Blanchaud, können wir irgendwie helfen?”, fragte Monsieur de Letendre.
Sie schüttelte den Kopf. „Ich denke, das ist nun ein Fall für das Bureau des affaires surnaturelles. Ich wünsche Ihnen einen guten Abend.” Damit wandte sie sich zum Gehen.
Fiona übersetzte Miss Jhadav diese Worte.
„Was ist, wenn Eliott auch dort draußen ist?”, fragte die Inderin leise.
Daran hatte sie noch gar nicht gedacht.
Mademoiselle Blanchaud war bereits an der Tür.
„Warten Sie bitte”, rief Fiona ihr zu. „Wir möchten Sie begleiten. Es könnte sein, dass ein Freund von uns unter den Erkrankten ist.”
Einen Moment lang musterte die Dame sie kritisch. „Dann kommen Sie”, sagte sie schließlich.
Fiona verabschiedete sich mit einem hastigen Knicks von den anderen, während Miss Jhadav einfach nur nickte. Rasch folgten sie der Französin nach draußen.
Am Straßenrand standen drei Kutschen. Auf zweien davon saßen deren Fahrer, beide in dunklen Mänteln. Mademoiselle Blanchaud hielt auf die dritte zu. Eines der Pferde gab ein schnaubendes Geräusch von sich. Ohne Umstände kletterte die hochgewachsene Frau selbst auf den Kutschbock.
„Steigen Sie ein, meine Damen”, sagte sie und wies auf die Tür des Gefährts.
Fiona folgte der Aufforderung. Miss Jhadav kletterte hinter ihr in die Kutsche, die sich rumpelnd in Bewegung setzte.
Fremde Straßen flogen am Fenster vorbei, auf den Gehwegen Passanten, hier und da ein Baum. Von all dem war im Dämmerlicht nicht mehr allzu viel zu erkennen, nur hier und da sorgten Gaslaternen oder beleuchtete Fenster für bessere Sicht.
„Ich mache mir Sorgen um Eliott”, sagte Miss Jhadav leise. „Was, wenn er auch dort draußen in diesem Pulk von Leuten ist? Oder wenn er es war, der angegriffen wurde?”
Fiona blickte sie an. Waren das Tränen, die ihr über die Wangen liefen, oder spielte die schlechte Beleuchtung ihren eigenen Augen einen Streich?
„Er kann sich eigentlich ganz gut verteidigen … normalerweise”, erwiderte sie.
„Das mag ja sein, aber jetzt, mit dieser Erkrankung …” Miss Jhadav sprach nicht weiter.
Fiona krallte ihre Finger in den Stoff ihres Rocks. „Ich teile Ihre Sorge. Aber ich schätze, wenn es im Krankenhaus tatsächlich brennt, ist er draußen eher in Sicherheit. Zumindest hoffe ich das.”
Fiona hätte gern noch mehr gesagt, irgendetwas Beruhigendes – auch um sich selbst zu beruhigen. Doch ihr fiel nichts ein, sie war viel zu nervös. Miss Jhadav schien es ähnlich zu gehen, ihre Aura wechselte die Farbe hin zu einem flirrenden, aufgeregten Orangerot. In beklommenem Schweigen verbrachten sie die weitere Fahrt.
Wenig später hielt die Kutsche endlich an. Ein Blick aus dem Fenster, sie befanden sich mitten auf einer Brücke, aber Fiona konnte nicht sehen, ob etwas den Weg blockierte. Sie öffnete die Tür. Mademoiselle Blanchaud schwang sich gerade vom Kutschbock, hinunter auf den Gehweg. Weiter vorn erklangen Schreie und ein schrilles Pfeifen.
„Polizei! Keinen Schritt weiter!”, rief ein Mann.
Als Fiona um die Ecke der Kutsche spähte, setzte ihr fast das Herz aus. Ein Pulk aus Leuten versperrte die Fahrbahn der Brücke in einiger Entfernung, alle nur mit Nachthemden oder Pyjamas bekleidet. Drei von ihnen stürzten sich auf einen Mann in einer dunklen Polizeiuniform. Ein weiterer Polizist setzte sich mit einem Knüppel zur Wehr, der ihm allerdings aus der Hand geschlagen wurde. Am anderen Ende der Brücke hielt eine Kutsche, deren Pferde scheuten und wieherten.
Wieder ein Pfiff und weitere Rufe, mit denen sich mehrere Polizisten zu erkennen gaben.
Mademoiselle Blanchard holte eine kleine, handliche Pistole aus ihrer Manteltasche. „Bleiben Sie besser hier, das könnte gefährlich werden”, wandte sie sich an Fiona. Danach eilte sie direkt auf die Menschenansammlung zu.
„Haben Sie Eliott gesehen?”, fragte Miss Jhadav, die nun ebenfalls ausgestiegen war.
„Nein, wir müssen näher heran”, erwiderte Fiona. Ganz egal, was Mademoiselle Blanchaud ihnen geraten hatte, sie würde nicht eher hier weggehen, bis sie herausgefunden hatte, ob Eliott in Gefahr war.
Vorsichtig gingen sie gemeinsam auf die spärlich bekleideten Leute zu, die sich mit den Polizisten prügelten und dabei grollende, heisere Laute von sich gaben, die kaum noch menschlich klangen, ihre Gesichter zu grässlichen Fratzen verzerrt. Das alles verschmolz zu einem wütenden Gewirr aus Armen, Beinen und Köpfen, die im Zwielicht kaum zu unterscheiden waren.
„Und was machen wir, wenn die uns angreifen?”, flüsterte Fiona.
Miss Jhadav schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht. Aber wir sollten versuchen, den Polizisten zu helfen.”
„Eliott!”, rief plötzlich jemand, so laut, dass es über die ganze Brücke schallte.
War das nicht Alecs Stimme? Aber wo war er? In all dem Durcheinander konnte sie ihn nicht erkennen. Er rief noch etwas, doch es ging in dem Lärm aus Schreien, heiseren Lauten und Rufen unter.
„Haben Sie das gehört?”, fragte sie Miss Jhadav.
„Ja, aber ich kann Eliott immer noch nicht sehen.”
Das Licht der Dämmerung tauchte die Brücke in einen fahlen, rötlichen Schein. Zwei der kämpfenden Leute drehten zu ihnen um, ein großer Mann in einem dunklen Pyjama, dessen hageres Gesicht in der fahlen Beleuchtung einem Totenschädel glich. Neben ihm eine Frau in einem langärmeligen Nachthemd, das ihr bis zu den Knöcheln reichte. Ihre Haare standen wirr zu allen Seiten ab. Die beiden kamen rasch näher, auf nackten Füßen tapsten sie schwankend heran.
Fiona ging unwillkürlich einen Schritt rückwärts, aber Miss Jhadav hielt sie am Arm fest. „Haben Sie etwas, das sie als Waffe benutzen können?”
Fionas erster Gedanke war Magie. Nein, keine gute Idee in aller Öffentlichkeit. Sie schüttelte den Kopf.
Miss Jhadav zog ein Klappmesser aus ihrer Manteltasche. „Habe ich immer dabei, man weiß ja nie.”
Fiona verabscheute Gewalt. Aber in diesem Moment erschien ihr Amritas Messer äußerst praktisch. Die Inderin hielt es deutlich sichtbar vor sich, während sich der Mann und die Frau ihnen immer weiter näherten.
Laissez-nous passer! – Lassen Sie uns durch!”, rief Fiona mit zitternden Händen. Ihr brach der Schweiß aus.
Die beiden standen nun fast vor ihnen, schienen sich von dem Messer überhaupt nicht beeindrucken zu lassen.
Der Mann griff nach Amritas Handgelenk, doch sie war schneller, drehte sich etwas und riss ihren Arm dabei zur Seite, stach ihm in den Unterarm. Er gab ein knurrendes Geräusch von sich.
Die Frau in dem langen Nachthemd packte Fiona am Arm und biss zu. Sie schrie auf, riss sich los und trat nach der Angreiferin, während ein brennender Schmerz durch ihren Arm jagte. Das Adrenalin rauschte in ihren Adern.
Die Frau stolperte rückwärts, doch nur für einen Moment. Sie bleckte ihre blutig verschmierten Zähne zu einem teuflischen Grinsen und holte zu einem wuchtigen Gegenschlag aus, der Fiona von den Füßen riss.
Der Aufprall auf dem steinernen Boden drückte ihr die Luft aus den Lungen. Die Frau mit den wirren Haaren stürzte sich ein weiteres Mal auf sie. Fiona rollte sich zur Seite, lag nun allerdings mit der Vorderseite ihres Körpers am äußeren Rand der Brücke. Nur das metallene Geländer hinderte sie an einem Sturz in die Tiefe. Als sie die keuchenden Atemgeräusche der Frau hörte, trat sie mit beiden Füßen nach hinten. Ein dumpfes Geräusch und ein Ächzen waren die Antwort. Fiona rappelte sich auf. Ihre Gegnerin war in die Knie gegangen, doch sie regte sich bereits wieder und auch das teuflische Grinsen war ihr nicht vergangen. Das Nachthemd zeigte einen klaffenden Riss, der ihre blassen Beine entblößte.
Weiter hinten herrschte noch immer Tumult – Schreie hallten durch die Nacht, ein schrilles Glockenläuten und grollende Geräusche vermischten sich mit dem Stampfen von Füßen.
Ein Messer blitzte hinter der Frau auf; Amrita kämpfte noch immer mit dem Mann. Mehr sah Fiona nicht, denn ihre Angreiferin war wieder direkt vor ihr. Dieser Anblick, zusammen mit dem brennenden Schmerz brachte etwas in ihrem Inneren zur Explosion. Mit einer Wut, die ihr fremd war, schlug sie der Frau mitten ins Gesicht. Diese schrie auf und wich zurück.
Der Zorn setzte eine ungeahnte Energie in Fiona frei. Wie ein heißer Strom fuhr ihr diese durch die Adern, bahnte sich über ihre Handflächen rasend schnell einen Weg nach draußen. Sie verlor die Kontrolle, die magische Energie traf die Frau mit voller Wucht am Hals. Mit einem röchelnden Laut taumelte sie zu Boden und blieb dort regungslos liegen. Ihre Aura verwandelte sich in ein trübes Grau. Fiona erschrak. Hatte sie die Frau getötet?
einige Zeit vorher – ganz in der Nähe, auf der Île de la Cité
Alec
An diesem Abend besichtigte er mit Victor die große Kathedrale Notre-Dame auf der Île de la Cité , jener vollbebauten Insel, die sich mitten in der Seine befand. Die Kathedrale war ein beeindruckendes Bauwerk, das er bisher nur aus dem Roman „Der Glöckner von Notredame” kannte. Allein schon die drei Eingangsportale an der westlichen Fassade, die in mit zahlreichen Figuren verzierte Spitzbögen übergingen, waren eine Pracht, die sich im Inneren des Gebäudes mit den zahlreichen hohen Buntglasfenstern noch fortsetzte – hier reihten sich zwei Stockwerke übereinander. Leider waren die Farben der bunten Fenster in der Dämmerung kaum noch zu erkennen. Das galt auch für die Chimärenfiguren, die außen von der oberen Balustrade auf Paris hinabblickten. Er hatte in jenem Roman davon gelesen und kniff die Augen zusammen, aber es war bereits zu dunkel, um einzelne Figuren dort oben auf dem Dach zu unterscheiden.
„Ach, wir hätten tagsüber hierherkommen sollen”, sagte er zu seinem Freund, als sie einmal ganz um das Gebäude herumgingen.
„Vielleicht schaffen wir das ja noch einmal vor unserer Abreise”, erwiderte Victor. „Ich mache mir Sorgen um Eliott. Und um die drei Verschwundenen. Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass wir doch noch jemanden finden, der auf die Annonce antwortet und sie wirklich gesehen hat.”
Alec nickte nachdenklich. „Ja, hoffentlich.”
Sie gingen weiter und betrachteten die Kathedrale, die so hoch war, dass Alec schon Schmerzen bekam, weil er den Kopf so weit in den Nacken legen musste. An mehreren Stellen war das Bauwerk von einem hohen gotischen Strebewerk umgeben und auf der Nord- und Südseite befanden sich vorgelagerte Querschiffe, die über riesige Fenster-Rosetten verfügten.
„Komm, lass uns zurück nach Montmartre gehen”, sagte Victor, als sie das Gebäude umrundet hatten. Alec nickte ihm zu, obwohl es ihm schwer fiel, den Blick von dem prächtigen Bauwerk zu nehmen, das sich gewiss wunderbar als Motiv für eine Zeichnung oder ein Gemälde machen würde.
„Wie wäre es mit einem kleinen Spaziergang?”, fragte sein Freund.
„Warum nicht? Ich beobachte immer gern, wie die Farben sich in der Dämmerung verändern, bis nach der blauen Stunde schließlich alles dunkel wird. Das könnte ich mir stundenlang ansehen …”
„Da spricht der Künstler.” Victor lächelte und sah sich um. Niemand war in ihrer Nähe. Er griff nach Alecs Hand und drückte sie einen Moment lang. Sie ließen die Kathedrale hinter sich und wanderten die Rue d’Arcole hoch in Richtung Seine.
Vor der gleichnamigen Brücke blieb Victor abrupt stehen und deutete auf die Fahrbahn, auf der ein gewaltiger Lärm herrschte. Menschen schrien, riefen durcheinander, manche stöhnten wie vor Schmerz. Im ersten Moment begriff Alec nicht, was dort los war, aber allmählich wurde es ihm klar: Polizisten in dunklen Uniformen prügelten sich mit Männern und Frauen, die nur Nachtwäsche trugen. Manche dieser spärlich Bekleideten bewegten sich auf bizarre Weise, als versuchten sie sich in einem morbiden Tanz, dessen Schritte sie nicht beherrschten. Eine Kutsche stand quer vor der Brücke und versperrte den Weg.
„Was um Himmels Willen …” Weiter kam Alec nicht, denn in diesem Moment erkannte er Eliott zwischen all den Leuten. Der hochgewachsene Amerikaner ragte zwischen mehreren kleineren Leuten hervor.
Ohne weiter nachzudenken, rief Alec laut dessen Namen.
Eliott sah zu ihm hinüber, hob die Hände, dann verpasste er einem Mann im Pyjama einen Fausthieb ins Gesicht, der diesen nach hinten taumeln ließ. Der Amerikaner rief Alec etwas zu, doch er konnte es auf die Distanz hin nicht verstehen.
„Da ist Eliott! Wir müssen ihm helfen!”, rief er.
Victor nickte und sie näherten sich der Menschenansammlung. Verdammt, Eliott war irgendwo in der Masse verschwunden. Ein Mann mit einem grauen Gesicht, der in einem Pyjama mit Nadelstreifen steckte, griff nach Alecs rechten Arm, mit erstaunlicher Kraft.
Alec wollte sich losreißen, doch der Mann packte noch fester zu. Blitzartig umfasste er mit seiner rechten Hand den Arm seines Angreifers und drückte mit der linken Hand so sehr auf dessen Oberarm, dass er diesen beiseite schubsen konnte. Hinter ihm schrie Victor auf und Alec wirbelte herum.
Eine kleinwüchsige Frau hatte sich in die Hand seines Freundes verbissen! Victor zog und zerrte, aber sie ließ einfach nicht los. Alec musste sich überwinden, sie anzugreifen – das hier war schließlich kein finsteres Andersweltwesen, sondern ein Mensch, noch dazu eine Frau. Allerdings eine, die seinen Freund biss.
Mit voller Kraft trat er dorthin, wo er unter dem dünnen Nachthemd ihre rechte Kniekehle vermutete. Die Frau gab einen heiseren Laut von sich und sackte nach hinten weg, sodass sie fast gegen ihn fiel.
Victor starrte mit schmerzverzerrter Miene auf seine blutende Hand, doch nur einen Moment lang. „Lass uns Eliott suchen und hier verschwinden!”, rief er Alec zu.
Das war leichter gesagt als getan, denn sie wurden von mehreren dieser wildgewordenen Menschen angerempelt, geschubst und schließlich an den Rand der Brücke gedrängt. Eliott war nirgends zu sehen.
Hinter ihnen erklangen laute Rufe auf Französisch.
„Polizei! Auseinander!”
„Lassen Sie den Mann los!”
„Kommen Sie nicht näher, oder ich schieße!” Das war eine weibliche Stimme. Zwischen all den Leuten sah Alec eine hochgewachsene Frau mit einer strengen Hochsteckfrisur, die sich mit einer kleinen Pistole und grimmiger Miene die Angreifer vom Leib hielt.
Ein Mann in einem gestreiften Pyjama hob langsam beide Hände. Andere dagegen näherten sich der Frau mit grollenden Geräuschen.
Hinter ihnen erklang Hufgetrappel, ein kurzer Blick zeigte ihm eine weitere Kutsche, die am Rand der Brücke hielt – ein großes Gefährt, aus dem mehrere Uniformierte sprangen, die mit Knüppeln bewaffnet waren.
Ein weiterer Angreifer wollte sich auf Alec stürzen, ein dürrer Mann mit schütterem Haar. Diesmal kam ihm Victor zu Hilfe, er trat nach dem Kerl, was diesen mit einem ächzenden Laut rückwärts taumeln ließ. Doch der Mann gab nicht auf, er lief auf Victor zu. Dieser drehte sich rasch zur Seite, sodass der Mann an ihm vorbeistürzte, wenn auch nur für einen Moment, ehe er sich wieder umdrehte und mit weit ausgestreckten Händen nach Victor greifen wollte. Victor duckte sich, stolperte allerdings und fiel zu Boden. Der Verrückte beugte sich über ihn, doch Alec zerrte an dessen Arm. Ein unwilliges Grunzen kam über die Lippen des Mannes, der von Victor abließ und sich stattdessen Alec zuwandte, das Gesicht zur einer hässlichen Grimasse verzerrt, in der kaum noch etwas Menschliches lag.
Abscheulich! Dieser Anblick würde ihn bis in seine Träume verfolgen … Mit diesem Gedanken prügelte Alec auf den Angreifer ein, ehe der ihn auch noch beißen konnte. Er drängte ihn zurück, bis zum Brückengeländer.
Der Kerl gab dennoch nicht auf. Was immer ihn antrieb, schien eine rasende Wut freizusetzen. Seine Faust landete in Alecs Gesicht, der Aufprall vibrierte schmerzhaft im Wangenknochen. Alec schwankte zur Seite, konnte sich aber wieder fassen. Aus der Hüfte heraus drehte er sich auf seinen Gegner zu, ballte dabei die Hand zur Faust und schlug dem Mann mit Wucht gegen die Schläfe. Mit einem Stöhnen sackte dieser am Brückengeländer in sich zusammen.
Victor hatte sich inzwischen wieder aufgerappelt und kam zu ihm. Blut tropfte von seiner Hand. Alec dröhnte noch immer der Schädel von dem Schlag gegen seine Wange. Mit einem Seufzen wankte er seinem Freund entgegen.
„Lass uns nach Eliott sehen”, sagte er leise.
Wenige Minuten später war der Kampf auf der Brücke vorbei; mit ihren Knüppeln und anderen Waffen war es den Polizisten gelungen, die Angreifer unter Kontrolle zu bringen. Die wildgewordenen Männer und Frauen wurden von ihnen in die große Kutsche verfrachtet.
Alec sah sich um. Er entdeckte Eliott am Boden, in einiger Entfernung. Verblüfft stellt er fest, dass Fiona und Miss Jhadav vom anderen Ende der Brücke auf sie zukamen.
„Was machen Sie denn hier?”, fragte er, als sie vor ihm standen.
„Eine magische Suche hat uns hierhergeführt”, erklärte Fiona. „Aber das ist eine längere Geschichte.”
„Kommt ihr mit? Eliott ist dort vorn.”
„Ist er noch am Leben?”, fragte Fiona.
„Das hoffe ich sehr”, erwiderte Victor.
Victor beugte sich kurz darauf über den Amerikaner. Dieser blutete aus einer Wunde am Arm. „Eliott, hören Sie mich?”, fragte er.
Keine Antwort.
Vorsichtig drehte Victor ihn auf den Rücken.
Ein Polizist kam zu ihnen und sah hinunter auf der Verletzten. „Lebt dieser Mann noch?”, fragte er auf Französisch.
Miss Jhadav kniete sich neben ihm nieder und legte zwei Finger an seinen Hals. „Er lebt. Aber er ist bewusstlos.”
Der Polizist zögerte. „Wir haben den Befehl, alle diese Leute bis auf weiteres zu verhaften. Sie sind eine Gefahr für die Bevölkerung.”
„Aber Sie können sie doch nicht ins Gefängnis stecken”, begehrte Alec auf. „Sie brauchen medizinische Versorgung.”
„Keine Sorge, die bekommen sie auch im Gefängnis”, erwiderte der Polizist ungerührt.
„Wer hat Ihnen diesen Befehl gegeben? Bitte bringen Sie mich zu ihm”, sagte Victor.
„Von mir aus”, erwiderte der Polizist. „Kommen Sie mit.”
„Ich werde dafür sorgen, dass unser Freund nicht im Gefängnis landet”, sagte Victor auf Englisch zu Alec, ehe er dem Polizisten folgte.
„Ich hätte vorhin fast eine Frau getötet”, sagte Fiona leise. „Sie hat mich in den Arm gebissen … und dann ist alles außer Kontrolle geraten. Sie ist auch bewusstlos. Ich werde mit den Polizisten dort hinten reden, vielleicht haben sie eine Trage oder so etwas ähnliches.” Mit schnellen Schritten ging sie in Richtung der Polizeibeamten.
Kurz darauf kam Victor mit jener Dame zu ihnen, die sich mit einer Pistole verteidigt hatte.
„Ist er das?”, fragte sie und deutete auf Eliott.
„Ja, das ist unser Freund.”
Sie musterte Eliott einen Moment lang schweigend. „Im Hôtel-Dieu brennt es. Wir können ihn also nicht dorthin zurückbringen.”
„Wir könnten ihn bei uns unterbringen”, schlug Alec vor. „Wir haben eine Wohnung in Montmartre gemietet.”
Die Dame zögerte. „Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist. Auf jeden Fall sollten Sie ihn im Auge behalten. Andererseits fällt mir gerade keine Alternative ein, außer dem Gefängnis.”
„Wir werden auf ihn aufpassen, das verspreche ich Ihnen”, sagte Alec mit fester Stimme.
Prüfend musterte sie erst Alec und dann Victor. „Also gut. Aber Sie müssen auch sich selbst im Auge behalten, falls Sie sich durch die Kämpfe angesteckt haben sollten.” Sie deutete auf Victors Hand, die noch immer blutete.
Ein flaues Gefühl machte sich in Alecs Magen breit. Er zwang sich, tief durchzuatmen.
Victor nickte. „Das werden wir, keine Sorge.”
„Miss Jhadav, hier ist meine Karte …” Die Französin zog eine Geldbörse aus ihrer Manteltasche und händigte der Inderin eine Visitenkarte aus. „Falls Sie meine Hilfe benötigen sollten, melden Sie sich bitte.”
Miss Jhadav nahm die Karte entgegen. „Vielen Dank, Mademoiselle Blanchaud.”
„Und nun entschuldigen Sie mich bitte, ich muss meinen Vorgesetzten verständigen”, sagte die Französin, nickte ihnen zu und machte auf dem Absatz kehrt. Sie ging in Richtung der Kutsche, die mitten auf der Brücke stand.
„Wer war das denn?”, fragte Alec.
„Eine von uns. Sie ist außerdem für das hiesige Büro für übernatürliche Fälle tätig”, erklärte ihm die Inderin. „Ich schätze, sie hat eben mit den Polizisten gesprochen und denen gesagt, dass es sicherer sei, wenn diese wildgewordenen Patienten ins Gefängnis kommen.”
In diesem Moment gingen zwei Polizisten zusammen mit Fiona an ihnen vorüber, eine Trage im Schlepptau. Fiona deutete die Brücke hinunter und einer der beiden Männer nickte ihr zu. Wenig später transportierten sie die bewusstlose Frau, von der Fiona gesprochen hatte, die Brücke entlang bis zu dem großen Polizeiwagen.
„Ich schaue mal, ob ich eine freie Mietkutsche für uns alle finde”, sagte Alec. Victor nickte ihm zu. Alec ging die Brücke in Richtung der Insel hinunter. Die Polizei rückte ab, deren Fahrzeuge setzten sich mit rumpelnden Geräuschen in Bewegung. Eines der Pferde wieherte. Schon bald vermischte sich das Klappern der Hufe mit den knurrenden, heiseren Lauten, die aus einem der großen Wagen drangen.
Hinter der Kathedrale wurde Alec fündig, ein Kutscher saß auf dem Bock seines Gefährtes und las im Schein einer Gaslaterne in einer Zeitung. Er bat den Mann, auf die Brücke zu fahren, um dort seine Freunde einzusammeln.
Kurz darauf hievte er gemeinsam mit Miss Jhadav den verletzten Eliott in das Fahrzeug, weil Victor seine blutende Hand nicht einsetzen konnte.
Später, als sie alle in der Kutsche saßen, kam Eliott wieder zu Bewusstsein.
„Was ist passiert?”, fragte er verwirrt. „Ich … es gab einen Brand, nicht wahr? Und die anderen Patienten, sie sind … ausgebrochen.” Er betrachtete seinen Arm, das Blut auf dem Ärmel. „ Bloody hell , einer von denen hat mich gebissen!”
„Ich fürchte, wir alle haben ein gewaltiges Problem – durch die Kämpfe auf der Brücke wurden wir alle von den Erkrankten berührt oder sogar gebissen”, sagte Victor. Mit einem Taschentuch tupfte er seine verwundete Hand ab. „Also ist es wohl nur eine Frage der Zeit, bis wir ebenfalls krank werden. Und vermutlich auch die Polizisten, die hier für Ordnung gesorgt haben.”
„Das hat mir gerade noch gefehlt.” Fionas Stimme verlor sich zu einem Flüstern.
In der Tat, das waren düstere Aussichten…
Montmarte, im 11. Arrondissement
Nica
„Wie um Himmels Willen konnte das alles passieren?” Mit Entsetzen hatte sie dem Bericht gelauscht, den ihre Freundin abwechselnd mit Victor und Alec erzählte. Ein Bericht, der von zahlreichen Verletzungen untermauert wurde – Eliott, Fiona und Victor waren gebissen worden, Alec hatte blaue Flecken im Gesicht. Gemeinsam mit Miss Jhadav waren die vier vor einer halben Stunde zu dem von Victor gemieteten Appartement gefahren, in dem Nica bereits wartete.
Eliott war einem Zusammenbruch nah gewesen und lag nun auf der Couch im Wohnzimmer, nachdem Miss Jhadav ihn verarztet hatte. Anschließend hatte sie sich auch um Fionas Bisswunde am Arm und um Victors verletzte Hand gekümmert. Eliotts leisen Atemgeräusche verrieten, dass er mittlerweile eingeschlafen war, doch von Zeit zu Zeit rasselte seine Lunge.
„Wir haben auch keine Erklärung für das, was auf der Brücke passiert ist”, sagte Alec mit ratloser Miene. „Eliott sagte vorhin, es hinge wohl mit diesem unerklärlichen Hunger auf rohes Fleisch zusammen. Zumindest vermutet er das. Das haben die Patienten im Krankenhaus zu essen bekommen und danach ist alles außer Kontrolle geraten.”
„Und es gibt noch ein anderes Problem”, meldete sich Victor zu Wort. „Ich fürchte, wir alle könnten uns während des Kampfes auf der Brücke angesteckt haben – genauso wie die Polizisten, die vor Ort waren.”
„Oh, nein!”, rief Nica. Eine eisige Welle von Furcht verkrampfte ihr den Magen.
„Wenn das so ist, wird es nicht mehr lange dauern, bis es uns ziemlich schlecht geht”, sagte Victor düster. „Bei Eliott waren es nur wenige Tage, nicht wahr?”
„Wir können nur hoffen, dass die magisch Begabten und der britische Wissenschaftler oder irgendjemand anderes bald ein Heilmittel entwickelt, ansonsten sehe ich schwarz …”, murmelte Fiona mit tonloser Stimme.
„Ich für meinen Teil werde auf keinen Fall in ein Krankenhaus gehen”, erklärte Victor. Seine Stimme duldete keinen Widerspruch. „Wer weiß, ob wir da nicht wieder auf Seuchenpatienten treffen, die so blutlüstern sind? Also wenn ihr mich fragt, ich schlage vor, wir bleiben bis auf weiteres hier. Ich denke, hier sind wir einigermaßen sicher.”
„Dann werde ich jeden Tag herkommen und Sie informieren, sobald ich etwas Neues in Sachen Heilmittel erfahre”, versprach Miss Jhadav.
„Danke”, sagte Fiona leise.
Victor und Alec schlossen sich dem an.
„Ich könnte Giselle fragen, ob sie mit mir zusammen die drei Verschwundenen sucht”, fiel Nica ein. „Miss Jhadav, würden Sie sich uns anschließen?”
Diese nickte ihr zu. „Ich hatte ohnehin vor, noch einmal wegen der magischen Suche bei den anderen Hexen und Magiern nachzufragen – wir sind ja mit Mademoiselle Blanchaud völlig überstürzt aufgebrochen, als wir diese Massen an Erkrankten außerhalb des Krankenhauses bemerkt haben.”
„Aber, wenn ihr nur zu dritt sucht, das wird doch sicher schwierig. Ich würde euch gern helfen”, sagte Alec.
Nica schüttelte den Kopf. „Danke, aber wenn Victor recht hat und ihr euch wirklich angesteckt habt, dann schone dich lieber.”
Alec verzog das Gesicht. „Es wird mir schwerfallen, hier untätig herumzusitzen.”
„Wir werden das schon schaffen”, entgegnete sie, auch wenn sie sich dessen nicht sicher war.
„Bitte, seid vorsichtig”, bat Fiona.
„Darauf kannst du wetten”, erwiderte Nica, fest entschlossen, sich ihre Unsicherheit nicht anmerken zu lassen. Wie um alles in der Welt sollten sie zu dritt in dieser Millionenstadt drei Leute wiederfinden?