Kapitel 15
Freitag, 30. März 1889 – Cimetière de Montmartre
Nica
Nica fröstelte in ihrer Kleidung, die sich klamm anfühlte. An diesem trüben Abend herrschte dichter Nebel. Nicht mehr lange, und die Abenddämmerung würde einsetzen. Sie wechselte einen Blick mit Miss Jhadav, die neben ihr und Giselle stand. „Glauben Sie, dass die drei tatsächlich hier sind?” Sie deutete auf den Zaun des Friedhofs von Montmartre.
Die Eingangstür war bereits geschlossen, wie sie kurz darauf herausfand. „Ich fürchte, wir kommen hier gar nicht mehr hinein.”
Miss Jhadav zuckte mit den Schultern. „Wie ich vorhin schon sagte – einer der Magier aus Paris hat mir eine Nachricht geschrieben, dass er hier drei Leute gesehen hat, die offensichtlich an der Seuche erkrankt sind. Aber ob es diejenigen sind, die wir suchen, das werden wir schon selbst herausfinden müssen. Falls sie noch hier sind, meine ich. Er schrieb mir auch, dass der Friedhof recht groß ist.”
Giselle deutete auf das kleine Haus, das sich neben dem Eingang befand. „Lasst uns dort fragen, falls noch jemand da ist.”
Doch auf ihr Klopfen antwortete niemand. Giselle ging einige Schritte und warf einen Blick in eines der dunklen Fenster. Sie schüttelte den Kopf. „Keiner zu sehen.”
Nica schaute sich suchend um. „Seht ihr die Brücke dort?” Sie deutete auf ein bläuliches Brückengeländer, das in der Nähe zu sehen war. „Seltsam, sie spannt sich quer über den Friedhof. Vielleicht haben wir von dort eine Chance, hinunterzuklettern?”
„Also, ich weiß nicht …”, sagte Miss Jhadav zögernd.
„Lasst uns zumindest einmal schauen.”
Sie gingen einige Meter, bis sie eine Treppe erreichten, die zur Brücke hinaufführte. Oben waren einige Passanten unterwegs und eine Kutsche fuhr vorbei. Nica schaute vom Geländer hinunter. Unten war ein Teil des Friedhofs zu sehen, die Dächer von Mausoleen und mehrere Grabstätten im Nebel, der immer dichter wurde. Bei diesem Anblick lief es ihr kalt den Rücken herunter. Für eine Schauergeschichte wäre es sicher eine passende Kulisse gewesen und sicherlich auch ein interessantes Motiv für eine entsprechende Illustration. Mit einem Mal sehnte sie sich nach ihrer Freundin, nach einer heißen Tasse Tee und einem wärmenden Kaminfeuer.
Aber sie wollte nicht aufgeben, immerhin ging es hier um eine Freundin von Giselles Tochter, deren Leben in Gefahr war. Nica fasste sich ein Herz und ging ein Stück weiter. Sie bemerkte eine Stelle mit einem Grabstein, der in den Boden eingelassen war.
Miss Jhadav und Giselle schlossen zu ihr auf. Letztere schaute in die Tiefe. „Wir könnten uns etwas brechen, wenn wir unglücklich aufkommen. Lasst uns lieber morgen wiederkommen, wenn der Friedhof für die Öffentlichkeit zugänglich ist.”
„Und wenn es dann für die drei schon zu spät ist?”, sagte Nica leise. „Du hast sie doch in der Oper gesehen, da ging es ihnen schon schlecht.”
Giselle schwieg einen Moment. „Na schön. Aber lasst uns besser warten, bis die Brücke frei ist, bevor wir hier Aufsehen erregen.”
Nica nickte ihr zu. Sie blieben auf dem seitlichen Gehweg der Brücke stehen, um einen günstigen Moment abzupassen.
Ob das hier überhaupt etwas bringen würde? Nica sah noch einmal nach unten. Der Abstand von der Brücke bis zum Friedhof war nicht allzu tief, aber Giselle hatte nicht unrecht, sie würden vorsichtig sein müssen. Mittlerweile wurde es immer dunkler, ein blutig-rötliches Licht überzog den Himmel und auch der Nebel nahm diese Färbung an. Einige Minuten später war die Brücke leer.
Nica kletterte als erste über das Geländer. Einen Moment lang hielt sie sich daran fest, zögerte.
„Schnell, bevor wieder Leute auf die Brücke kommen”, sagte Giselle, die nun ebenfalls am Geländer hing.
Nica löste ihre Hände und ließ sich fallen. Einen Moment lang hing sie in der Luft, bis sie mit einem dumpfen Geräusch den Boden erreichte. Schmerz zuckte durch ihren rechten Fuß und sie keuchte auf. Sekunden später begriff sie, was passiert war – sie musste den Fuß im Fallen verdreht haben und so aufgekommen sein.
Giselle und Miss Jhadav landeten fast gleichzeitig neben ihr. Giselle stürzte auf die Knie und fiel mit einem Schrei der Länge nach hin.
Nica rappelte sich auf, doch schon der erste Schritt mit dem rechten Fuß tat ihr weh. Miss Jhadav half Giselle auf. „Ist alles in Ordnung?”
„Ja … ich habe mir nur die Knie aufgeschrammt.” Und das war nicht alles, denn auf Giselles Rock klaffte nun ein Loch, durch das der hellere Unterrock zu sehen war. Blut färbte diesen rot. Giselle zog die beiden Röcke hoch und betrachtete ihr blutendes Knie. „Ich glaube, ich werde langsam zu alt für solche Unternehmungen”, sagte sie und ließ die Röcke wieder fallen. „Aber es sieht schlimmer aus, als es ist.”
„Ich fürchte, ich habe mir den Fuß beim Fallen verdreht”, sagte Nica.
„Können Sie denn noch laufen?”, fragte Miss Jhadav.
Nica trat vorsichtig mit dem verletzten Fuß auf und ging einige Schritte. „Ja, es geht. Auch wenn es weh tut.”
„Wir werden später nicht zurück auf die Brücke klettern können”, sagte Miss Jhadav mit einem Blick nach oben.
„Bleibt nur der Zaun”, erwiderte Giselle. „Vielleicht hätten wir den gleich nehmen sollen, anstatt von der Brücke zu springen.”
Zweifelnd schüttelte Nica den Kopf. „Aber der Zaun ist ziemlich hoch.”
„Was meinen Sie, sollten wir uns für die Suche aufteilen?”, erkundigte sich Miss Jhadav nun.
„Und wenn wir uns hier verirren?”, entgegnete Nica.
„Ich kenne diesen Friedhof noch von früher”, sagte Giselle, die eine Laterne mitgebracht hatte. „Aber damals gab es diese Brücke hier noch nicht. Ich habe vor ungefähr dreißig Jahren einmal mit meinen Eltern das Grab von Heinrich Heine besucht – ein deutscher Dichter, der mit meinem Vater bekannt war. Jedenfalls, was ich sagen möchte, dieser Friedhof ist sehr groß und er war schon damals stark bebaut. Das heißt, er ist nicht gerade übersichtlich. Wir könnten uns selbst dann verirren, wenn wir gemeinsam auf die Suche gehen. Auf jeden Fall sollten wir uns an die Wege halten, die es hier gibt.”
„Wir könnten uns doch einfach aufteilen und nötigenfalls mit Rufen verständigen. Das geht bestimmt”, sagte Nica.
„Aber was ist, wenn die drei Gesuchten wirklich hier sind und wir sie durch unsere Rufe verschrecken?”, warf Miss Jhadav ein. „Außerdem, bei diesem dichten Nebel wird es schwierig, akustische Signale einem Standort zuzuordnen …”
„Wie wäre es denn, wenn wir uns in einer Stunde wieder am Eingang treffen?”, fragte Giselle. „Den müssten wir alle wiederfinden können, allein schon durch die leuchtenden Gaslaternen, die sich dort befinden.”
Nica nickte ihr zu.
Kurz darauf teilten sie sich auf.
„Viel Glück!”, rief sie den anderen beiden zu.
Dann ging sie einen der gepflasterten Wege entlang, vorbei an mehreren düsteren Mausoleen in verschiedenen Größen, die aus dem Nebel hervorragten. Eigentlich waren die Bauwerke kein schlechtes Versteck. Probeweise rüttelte sie an einer der schweren Türen aus mit Metall beschlagenem Holz. Doch diese war verschlossen. Sie versuchte es an weiteren Türen, doch keine von diesen ließ sich öffnen.
Ob das hier überhaupt etwas bringen würde? Warum sollten Celestine, François und Paul ausgerechnet hier Zuflucht gesucht haben? Allerdings war der Friedhof nur etwa eine halbe Stunde Fußweg von der Opéra Garnier entfernt. Dennoch, sich hier zu verstecken, das ergab wenig Sinn …
Sie schrak zusammen, als plötzlich eine dunkle Gestalt am Wegesrand auftauchte, die einen Arm erhoben hatte. Mit klopfendem Herz trat sie näher heran. Die Gestalt rührte sich nicht vom Fleck und blieb stumm. Erst, als Nica direkt vor ihr stand, wurde ihr klar, dass es sich um eine Statue handelte.
Schaudernd wandte sie sich ab und bog in einen der kleineren Wege ein. Der Friedhof war teilweise hügelig, entsprechend gab es auch Grabstätten, die auf einer höheren Ebene lagen, die dann oberhalb der ebenerdigen Gräber sichtbar wurden. Nica fühlte sich fast in eine eigene Stadt versetzt – eine Stadt der Toten. Ihre Schritte hallten durch den Nebel, während sie weiterwanderte, wobei sie den rechten Fuß vorsichtiger als sonst bewegte. Es half nicht viel, noch immer schmerzte ihr Knöchel. Irgendwo weiter hinten auf dem Gelände erklangen krächzende Laute, sicherlich Raben oder Krähen. Das rötliche Licht der Dämmerung verblasste allmählich und wurde teilweise vom Nebel verschluckt.
Wenn sie doch nur früher hergekommen wären! Am Vormittag war sie zu Giselle gefahren, die ja im Moment bei ihrer Tochter wohnte, und dort hatte sich auch Miss Jhadav vorübergehend einquartiert.
Sie hatten das Haus von Paul Charron aufgesucht, aber ihn dort nicht angetroffen. Ebenso war es ihnen mit der Wohnung von François Lefèvre ergangen, deren Adresse sie von Alec erhalten hatten. Offenbar hatte François ihn und Victor zu sich nach Hause eingeladen, obwohl sie sich kaum kannten. Woher sonst hätte Alec seine Adresse kennen sollen? Und auch von Celestine fehlte weiterhin jede Spur, wie sie später an diesem Tag herausgefunden hatten.
Danach hatte es noch eine ganze Weile gedauert, bis Miss Jhadav die entsprechende Nachricht von jenem Magier erhalten hatte, der sich diesen Stadtteil in der magischen Suche angeschaut hatte, von der auch Fiona erzählt hatte.
Nica bekam ein flaues Gefühl im Magen. Wie es ihrer Freundin wohl mittlerweile ging? Am Morgen war sie blasser als sonst gewesen, doch sie hatte nicht über Unwohlsein oder andere Probleme geklagt. Ob sich das mittlerweile geändert hatte? Oder hatte sie Glück gehabt und sich doch nicht bei einem dieser wildgewordenen Patienten angesteckt? Aber nein, das war wohl nichts als Wunschdenken, schließlich war sie sogar gebissen worden …
Ein leise klackendes Geräusch riss sie aus ihren Gedanken. Auf der Straße vor ihr bewegte sich etwas im Nebel. Nica erstarrte, als sie ein Knurren hörte und wich unwillkürlich zurück. Ein großer schwarzer Hund mit struppigem Fell stand vor ihr. Oder war es am Ende gar ein Wolf? Sie war sich nicht sicher, schwer zu sagen im abnehmenden Zwielicht. Der Schweiß brach ihr aus, sie wagte kaum zu atmen. Das Tier knurrte ein weiteres Mal und schien ihr den Weg versperren zu wollen. Instinktiv drückte sie sich seitwärts an die kalte Wand eines Mausoleums. Der Hund oder Wolf sah sie noch einmal an, schnüffelte kurz, dann trottete er an ihr vorbei. Nica stieß die Luft aus und ging hastig weiter. Sicherlich nur ein streunender Hund, der ihr hier im Nebel wie ein Wolf vorgekommen war?
Zu einer anderen Zeit hätte sie die zahlreichen Skulpturen und die kunstvoll gestalteten Grabsteine, an den sie vorüberging, vielleicht wertschätzen können, sie aus künstlerischer Sicht betrachtet, doch mittlerweile wurde es zunehmend dunkler und ihr war alles andere als wohl. Keine Menschenseele begegnete ihr. Sie warf einen Blick auf ihre Taschenuhr, hatte schon Schwierigkeiten, den Stand der Zeiger genau zu erkennen. Sie hätte eine Laterne mitnehmen sollen, aber Giselle war die einzige von ihnen, die eine dabei hatte. Noch eine halbe Stunde, bis sie sich wieder am Eingang treffen wollten. Vermutlich würde sie eine Viertelstunde brauchen, bis sie dort war, also blieb ihr nicht mehr viel Zeit, weiter in den Friedhof vorzudringen.
Sie nahm sich weitere Mausoleen vor, doch jedes einzelne dieser rechteckigen Bauwerke war abgeschlossen. Wer immer hier für Ordnung sorgte, war offenbar gründlich, oder vielleicht befanden sich die entsprechenden Schlüssel im Besitz von Familienangehörigen.
Wieder hörte sie das Krächzen der Krähen in der Nähe und ein Flattern von Flügeln, aber sie konnte die Vögel nicht sehen. Plötzlich durchbrach ein Licht den Nebel. War das Giselles Laterne? Vorsichtig ging sie darauf zu und erkannte die Gestalt der Witwe.
„Ach, du bist es, Gott sei dank”, sagte Giselle. „Ich habe mich schon gefragt, ob hier noch Besucher unterwegs sind.”
„Hast du irgendjemanden außer uns gesehen?”, fragte Nica.
Giselle schüttelte den Kopf. „Nein, der Friedhof scheint völlig verlassen zu sein.”
„Den Eindruck habe ich auch. Ich habe übrigens versucht, bei mehreren Mausoleen die Türen zu öffnen, aber sie sind alle abgeschlossen.”
„Das sollten sie auch sein. Komm, gehen wir zum Eingang zurück, die Zeit ist fast um.”
In diesem Moment hörte sie Schritte in nächster Nähe. Sie wirbelte herum, ohne an ihren verletzten Fuß zu denken, was eine erneute Schmerzwelle hindurchjagte.
„Was tun Sie hier?”, fragte sie ein Mann auf Französisch, der eine Laterne trug. Er war schon älter und seine Miene wirkte grimmig. „Der Friedhof ist geschlossen. Ich habe hier die Aufsicht.”
„Verzeihen Sie”, sagte Giselle. „Aber wir suchen drei Leute, die an der Seuche erkrankt sind, die in der Stadt umgeht. Sicherlich haben Sie davon schon gehört, oder?”
„Na, das ist ja ein starkes Stück”, erwiderte er mit hochgezogenen Augenbrauen. „Gestern habe ich zwei Männer und eine Frau entdeckt, die sind hier herumgeirrt. Sahen alle mehr tot als lebendig aus, da habe ich ihnen gesagt, dass ich einen Arzt rufe. Aber ich habe nicht herausgefunden, was sie hier auf dem Friedhof verloren hatten.”
„Und dann? Ich meine, wo sind sie jetzt?”
„Na, da wo sie hingehören – im Krankenhaus.”
„In welchem?”
„Der Arzt sagte, sie sollten ins
Hôtel-Dieu
, auf der
Île de la Cité
, die hätten da wohl die meisten Patienten mit dieser Seuche. Er hat sich dann um alles weitere gekümmert.”
Giselle und Nica wechselten einen Blick.
„Können Sie uns zu diesem Arzt bringen?”, fragte Giselle. „Es gab gestern einen Brand in jenem Krankenhaus. Ich schätze, es ist sicherer, wenn wir ihn fragen, wo sie genau untergebracht wurden.”
„Oh. Ich kann Ihnen die Adresse sagen, es ist nicht weit von hier. Sein Name ist Dr. Arnaud.”
„Das wäre sehr freundlich. Ach, und nichts für ungut, wir sind hier zu dritt auf der Suche. Wir alle wollten uns gleich am Eingang des Friedhofs treffen.”
„Na, dann hoffe ich mal, dass Ihre Begleitung auch bald dorthin kommt”, sagte er mit missbilligender Miene, ehe er ihnen die Adresse des Arztes und eine Wegbeschreibung nannte.
Miss Jhadav wartete bereits am Eingang auf sie und blickte den Angestellten vom Friedhof überrascht an. Giselle erklärte ihr die Lage und der Mann schloss ihnen das Eingangstor auf.
„Alles Gute. Und das nächste Mal kommen Sie bitte nur her, wenn der Friedhof geöffnet hat”, sagte er zum Abschied.
Zwanzig Minuten später standen sie vor der Haustür des Arztes. Nica betätigte den Türklopfer, einen Löwenkopf aus Messing. Dumpf hallte das Klopfen durch die neblige Abendluft.
Ein Dienstmädchen öffnete ihnen und Giselle setzte ihr in höflichen Worten auseinander, dass sie dringend den Hausherrn sprechen mussten.
Das Dienstmädchen ließ sie an der Tür warten und der Arzt kam kurz darauf selbst zu ihnen.
„
Bonsoir, Mesdames
– guten Abend, die Damen. Womit kann ich dienen?” Er musterte Giselles Rock mit dem blutigen Fleck. „Sind Sie verletzt, Madame?”
„Guten Abend und ja, aber es ist nur geringfügig und nicht der Anlass unseres Besuches”, erwiderte sie. „Wir suchen die drei Erkrankten, die Sie und der Mann von der Friedhofsaufsicht gestern gefunden haben. Es sind Bekannte von uns und wir machen uns große Sorgen um sie.”
„Ja, das stimmt. Ich habe die drei gestern ins Krankenhaus
Hôtel-Dieu
gebracht. Der jungen Dame ging es besonders schlecht, aber ich fürchte, die beiden Herren waren auch nicht viel besser dran. Ich konnte ihnen jedenfalls nicht helfen. Unglücklicherweise gab es im Krankenhaus einen Brand, aber er konnte gelöscht werden. Ich habe so lange mit den Dreien in einer Kutsche in der Nähe gewartet. Später habe ich gehört, dass es einen gewalttätigen Zwischenfall im Krankenhaus gegeben hätte, mehrere der Patienten hätten Pfleger und Krankenschwestern angegriffen. Und es gab dann auch draußen eine Schlägerei, aber anschließend wurden die Übeltäter von der Polizei mitgenommen.”
Er räusperte sich. „Aber ich habe dem diensthabenden Arzt versichert, dass die drei Patienten, die wir auf dem Friedhof gefunden haben, nicht gewalttätig seien und als das Feuer gelöscht war, hat er sie in ein Zimmer bringen lassen, das nur sehr geringfügig vom Feuer beschädigt worden war. Das hat mich alles einen Haufen Zeit gekostet, Jedenfalls, wenn die drei noch am Leben sind, finden Sie sie gewiss im
Hôtel-Dieu
.”
„Vielen Dank, Monsieur, Sie haben uns sehr weitergeholfen”, erklärte Giselle.
„Nicht der Rede wert. Ich wünsche Ihnen einen guten Abend.”
Sie verabschiedeten sich und der Arzt schloss die Tür.
„Also auf zum Krankenhaus, nicht wahr?”, fragte Nica. „Vermutlich werden sie uns nicht zu Celestine und den anderen lassen, aber zumindest können wir nachfragen, wie es ihnen geht.”
Eine Dreiviertelstunde später erreichten sie das Krankenhaus auf Seine-Insel. Im Schein der Gaslaternen vor dem Gebäude sah Nica Überreste des Feuers – ein Teil der Fassade war angesengt.
Der Mann am Empfang warf ihnen einen Blick zu, der zwischen Überraschung und Missbilligung zu schwanken schien. „Sie wünschen?”, fragte er nuschelnd.
Giselle schilderte ihm ihr Anliegen und ließ auch nicht aus, dass Celestine und die beiden Männer an der Seuche erkrankt waren.
„Sind Sie Angehörige der drei?”, fragte er mit einem Stirnrunzeln.
„Ich bin Celestine Duchesnays Tante”, erwiderte Giselle, ohne mit der Wimper zu zucken. „Und sie ist mit Paul Charron verlobt. Monsieur Lefèvre ist ein Kollege von ihr, die beiden tanzen der Opéra Garnier.”
„Aha. Also, es ist keine Besuchszeit. Auch nicht für Angehörige. Davon einmal abgesehen, lassen wir ohnehin keine Besucher zu den Seuchenpatienten, das ist zu gefährlich. Aber mehrere von denen wurden ins Gefängnis gebracht. Es gab hier einige Sicherheitsprobleme und dazu auch noch einen Brand.” Er verzog das Gesicht und deutete auf einen Teil an der hinteren Wand, der von Ruß geschwärzt war. „Warten Sie hier, ich werde mich erkundigen.”
„Danke, Monsieur”, erwiderte sie.
Sie blieben in der Eingangshalle stehen, in der es schwach nach Rauch und Bohnerwachs roch.
Einige Zeit später kehrte der Mann zurück. „Also, ich habe mich nach den Dreien erkundigt. Paul Charron hat gestern Abend einen der Pfleger angegriffen. Diesem Herrn scheint die Krankheit gehörig das Gehirn zu vernebeln. Die Kollegen haben daraufhin die Polizei verständigt, aber die wollten ihn nicht abholen. Die Patienten im Gefängnis haben offenbar mehrere Polizisten angesteckt. Jedenfalls, das Risiko weiterer Infektionen war ihnen zu hoch. Daraufhin hat der Oberarzt den Patienten stattdessen in einem Einzelzimmer einsperren lassen. Celestine Duchesnay und François Lefèvre sind in einem anderen Zimmer untergebracht und verhalten sich friedlich, zumindest bisher. Mademoiselle Duchesnay ist sehr geschwächt. Die Ärzte wissen nicht, wie lange sie der Krankheit noch standhalten kann.”
Er warf Giselle einen mitfühlenden Blick zu. „Es tut mir leid, mehr kann ich Ihnen im Moment leider nicht sagen.”
Giselle bedankte sich ein weiteres Mal bei ihm und wechselte einen niedergeschlagenen Blick mit Nica.
„Immerhin wissen wir nun, wo sie sind”, sagte Miss Jhadav leise, während sie das Krankenhaus verließen.
„Ja, aber das ist ein schwacher Trost, nicht wahr?”, antwortete Giselle. „
Doux Jésus
, als einzige Hoffnung bleibt wohl, dass es den Ärzten und den magisch Begabten doch noch gelingt, ein Heilmittel zu entwickeln, und zwar bald. Wenn nicht, sehe ich schwarz ...”