Kapitel 16
Montag, 8. April 1889
Montmartre, im 11. Arrondissement
Eliott
„Eliott, hören Sie mich?” Undeutlich drang die Stimme an sein Ohr. Sie kam ihm vage bekannt vor.
Er versuchte, die Augen zu öffnen, doch es gelang ihm erst nach zwei, drei Anläufen. Und auch das brachte ihm nur wenig, denn er konnte nur verschwommen sehen. Auch war das Licht viel zu grell, sodass er blinzelte.
„Eliott, ich bin es. Fiona.”
Der Name kam ihm bekannt vor. Er kramte in seinem Gedächtnis. Wenn nur diese verdammten Kopfschmerzen nicht wären, die hinter seiner Stirn pochten. Wie sollte man da nur einen klaren Gedanken fassen? Er wandte ihr das Gesicht zu, sah die roten, glänzenden Haare. Dann fiel es ihm doch noch ein. Die Irin, die er in London kennengelernt hatte. Wie lange war das her? Ein Jahr, oder noch länger?
„Ich …”, begann er mit krächzender, heiserer Stimme. „Ich erinnere mich.” Neben ihr stand eine weitere Frau, die ihm vage bekannt vorkam, mit schwarzen Haaren und dunkelbraunen, großen Augen. Sein Herz schlug mit einem Mal schneller. Amrita. Amrita Jhadav.
„Mister Breeches, wir haben möglicherweise ein Heilmittel für Sie”, erklärte sie. „Wenn Sie gewillt sind, es auszuprobieren?”
„Ein Heilmittel? Aber wie …?” Er brachte den Satz nicht zu Ende, die Worte kratzten zu sehr in seiner Kehle.
„Wir haben mit Ärzten und anderen Leuten daran gearbeitet. Außerdem haben mehrere magisch Begabten und ich gemeinsam Heilmagie darauf gewirkt. Aber wir wissen noch nicht, ob es funktioniert. Ein paar Patienten haben eingewilligt, es auszuprobieren. Denen haben wir natürlich nichts von der Magie erzählt.”
Eliott brauchte einen Moment, um ihre Worte zu verarbeiten. Bloody hell … Alles war besser, als weiter in diesem Dämmerzustand vor sich hinzuvegetieren. Außerdem hatte er nichts mehr zu verlieren. Oder doch? Er war hin- und hergerissen. Was, wenn dieses Mittel seinen Tod einfach beschleunigte, anstatt ihn zu heilen? Verdammt, er wollte nicht sterben!
„Wie hoch … stehen die Chancen, dass es wirkt?”, fragte er stockend, die Stimme rau wie ein Reibeisen.
Miss Jhadav zuckte mit den Schultern. „Ich fürchte, das wissen wir ebenfalls nicht. Es wurde ja gerade erst entwickelt. Und die Krankheit war bis vor kurzem völlig unbekannt. Aber Victor, Alec und Fiona haben es bereits genommen und fühlen sich seitdem besser. Was natürlich keine Garantie ist, dass es bei Ihnen ebenfalls wirkt.”
Eliott sah sie an, konnte sie allerdings kaum erkennen, weil seine Augen ihm den Dienst versagten. Er hätte es im Leben nicht zugegeben, aber er hatte eine verdammte Angst, an dieser vermaledeiten Krankheit zu verrecken, oder aber an einem Heilmittel, das möglicherweise nicht ausreichend erforscht war. Er hatte kein Testament gemacht, fiel ihm ein. Andererseits – er hatte kaum Angehörige und auch nichts von Bedeutung, das er hätte vererben können. Er gab ein Seufzen von sich, das in ein Röcheln überging.
„Also gut”, sagte er, nachdem er seine Stimme wieder einigermaßen im Griff hatte. „Ich werde es versuchen.”
Amrita nickte ihm zu. Sie schraubte den Deckel eines kleinen Glases auf und holte eine weiße Tablette heraus. Ihre Hände steckten in Handschuhen. Sie reichte Eliott die Medizin, zusammen mit einem Glas Wasser.
Er nahm beides entgegen, schluckte die Tablette und das Wasser. Dann musste er husten und hielt sich die Hand vor den Mund.
„Aber erzählen Sie doch mal, wie haben Sie das Heilmittel …” Ein erneuter Hustenanfall schüttelte ihn.
„Wir haben uns zusammengetan mit einem englischen Arzt”, erklärte Fiona. „Er weiß mittlerweile auch, dass es Magie gibt. Genaugenommen wusste er das schon vorher, aber das ist eine längere Geschichte. Jedenfalls hoffen wir nun, dass es sich gelohnt hat. Ach, übrigens, wir haben das antike Gefäß verbrannt, in dem wir die Krankheitserreger gefunden haben. Das erschien uns sicherer.”
„Oh. Dann sind nur noch drei dieser alten Gegenstände vorhanden, die ich bei Dubois gefunden habe?”
„So ist es”, erwiderte sie.
„Das wird meinem Auftraggeber nicht gefallen. Aber damit kann ich leben.”
„Vermutlich wird es eine Weile dauern, bis Sie die Wirkung des Heilmittels spüren werden”, sagte Miss Jhadav. „Es kann auch sein, dass es Sie erst einmal schläfrig macht.”
„Auch das noch. Ich glaube, ich habe ganze Tage verschlafen. Welches Datum ist heute eigentlich?” Er hatte jegliches Zeitgefühl verloren.
„Es ist der achte April”, sagte die Inderin mit ruhiger Stimme.
„Oh.” Verdammt, es war wirklich mehr Zeit vergangen, als er gedacht hätte. Mehr als eine Woche. Andererseits – für die Entwicklung eines Heilmittels war das ganz schön schnell. Vielleicht hatten sie es auf magische Weise versucht? Er wollte ihr diese und noch mehr Fragen stellen. Aber wie sie angekündigt hatte, machte das Mittel ihn müde. Es dauerte nicht lange, ehe ihm die Augen zufielen.
Als er später wieder erwachte, saß Miss Jhadav auf einem Stuhl neben seinem Bett. Sie hatte ein Buch im Schoß und blätterte darin. Als sie bemerkte, dass er wach war, klappte sie es zu und legte es beiseite. Die nächtliche Dunkelheit war bereits hereingebrochen, nur zwei Kerzen auf dem Tisch in der Nähe sorgten für etwas Licht.
„Sie sind noch immer da?”, fragte er verblüfft.
Miss Jhadav lächelte. „Wie fühlen Sie sich, Eliott?”
Er horchte in sich hinein. „Ich habe immer noch ein wenig Kopfschmerzen, aber sie sind nicht mehr so stark wie in den letzten Tagen. Ich weiß nicht, ob meine Augen wieder besser funktionieren, es ist zu dunkel. Und ich habe starken Durst.”
„Warten Sie, ich hole Ihnen ein Glas Wasser.”
„Danke.” Er hätte gern etwas Hochprozentigeres gehabt, aber vielleicht war das in seiner aktuellen Situation keine so gute Idee.
„Fiona ist zu ihrem Quartier in Montmartre zurückgekehrt”, erklärte sie, als sie mit dem Getränk zurückkehrte.
„Das dachte ich mir, es ist ja schon spät. Sagen Sie, was ist denn drin in diesem Mittel und wie funktioniert es?”, fragte er sie.
„Dr. MacAlistair und der Chemiker Monsieur Durand haben mit Salicylsäure experimentiert. Sie basiert auf einer Substanz, die in verschiedenen Pflanzen vorkommt, zum Beispiel in Weidenrinde. Diese Säure wirkt gegen Schmerzen und Fieber. Sie haben diese mit einer anderen Substanz kombiniert, welche die Krankheitserreger bekämpft und entzündungshemmend wirkt. Diese Substanz haben sie aus einem Pilz gewinnen können.”
„Was denn für ein Pilz?”, fragte er überrascht.
„Der stammt eigentlich aus China und heißt Glänzender Lackporling. In China wird er Pilz des ewigen Lebens genannt und ist dort ein beliebtes Heilmittel. Er regeneriert die Leber und wirkt sowohl entgiftend als auch entzündungshemmend. Außerdem soll er die Selbstheilungskräfte anregen. Ein Apotheker hier aus Paris, der auch Mittel der traditionellen chinesischen Medizin anbietet, hat Dr. Ayadi schon vor einigen Jahren von diesem Pilz erzählt, den er in seinem Garten züchtet. Er hat ihn wohl von einer Reise nach China mitgebracht. Und Dr. Ayadi hat damit gute Erfahrungen bei seinen Patienten gemacht. Und sie haben auch noch weitere Substanzen verwendet, um das Heilmittel zu entwickeln.”
„Also haben diese Herren das gemeinsam geschafft?”
„Nun, es war eine Gemeinschaftsarbeit, es gab auch noch mehr Leute, die sie unterstützt haben, zum Beispiel eine Krankenschwester und Madame Laurent. Aber ich denke, den entscheidenden Teil haben wirklich Monsieur Ayadi, Monsieur Durand und Dr. MacAlistair geschafft. Sie haben fast Tag und Nacht daran gearbeitet. Und wir magisch Begabten haben uns dann noch mit Heilmagie daran beteiligt. Jede einzelne Tablette ist mit magischer Energie aufgeladen.”
Eliott stellte das Glas wieder ab, aus dem er gerade hatte trinken wollen. „Sie meinen, ich werde jetzt mit Magie vollgepumpt?”
„Nun, so würde ich nicht ausdrücken. Die Heilmagie, mit der wir diese Tabletten belegt haben, dient in erster Linie dazu, die Krankheitserreger lahmzulegen und darüber hinaus die Selbstheilungskräfte anzuregen.”
Zweifelnd sah er sie an. Er hatte schon eine ganze Menge mit Magie zu tun gehabt, das reichte eigentlich für ein ganzes Leben. Was würde die magische Energie nun mit seinem Körper anrichten? Aber verdammt, er hatte wohl keine andere Wahl als abzuwarten, schließlich hatte er die Tablette bereits geschluckt.
„Inzwischen haben wir das Mittel auch an die Pariser Krankenhäuser weitergeleitet und an das Gefängnis, in dem mehrere der Patienten einsitzen”, sagte Miss Jhadav.
„Ah, ich verstehe. Und wie geht es den anderen?”, erkundigte er sich.
Sie hob eine Hand. „Recht unterschiedlich. Fiona hat sich in den letzten Tagen mehrmals übergeben müssen, Alec Maynard hatte Schwierigkeiten mit dem Gleichgewicht. Lord Berlington hatte starkes Fieber und Probleme mit den Augen, so ähnlich wie Sie. Aber sie alle haben das Heilmittel zu sich genommen, wie ich bereits sagte. Auch wenn wir uns wie gesagt nicht sicher waren, ob es überhaupt wirken würde. Allerdings stand ja praktisch außer Frage, dass sie sich ebenfalls angesteckt haben.”
„Ach so. Na, dann bin ich froh, dass sie sich auf dem Wege der Besserung befinden. Was ist eigentlich aus den drei Leuten geworden, die vermisst wurden?”
„Sie sind im Krankenhaus, dort wo Sie auch waren. Sie werden auch das Heilmittel bekommen und ich hoffe, dass es bei ihnen anschlägt. Das war wirklich seltsam – die drei sind quer durch die Stadt und hoch nach Norden geirrt, bis ein Angestellter der Stadt sie auf dem Friedhof von Montmartre gefunden hat. Der hat dann einen Arzt geholt und so sind sie schließlich ins Krankenhaus gekommen.”
„Hmm, das ist allerdings seltsam. Aber auch nicht seltsamer als diese verrückte Seuche an sich, nicht wahr? Apropos verrückt, ich hatte zwischenzeitlich auch einige merkwürdige Anwandlungen. Ich hatte einen unerklärlichen Hunger auf rohes Fleisch. Und damit war ich offenbar nicht der einzige, manche von den anderen Patienten sind ja völlig durchgedreht und haben Leute gebissen.”
„Ja, ich hörte davon. Das ist mir auch unerklärlich.” Sie zuckte mit den Schultern. „Wir haben darüber gesprochen, auch mit dem Wissenschaftler aus London. Aber er war ebenfalls ratlos, was das anging.”
Einen Moment lang schwiegen sie beide.
„Lassen Sie mich bitte einmal Ihren Puls fühlen.” Sie beugte sich vor, griff nach seiner Hand.
Die ungewohnte Berührung ließ ihn zusammenzucken. Miss Jhadav ließ sich davon nicht irritieren, ruhig hielt sie seine Hand mit ihrer Linken und legte zwei Finger auf das Handgelenk. Einen Moment lang schwiegen sie beide, dann löste sie seine Hand aus ihrer.
„Ihr Puls liegt in einem guten Bereich, würde ich sagen”, erklärte sie. „Wenn man bedenkt, dass Sie bis eben geschlafen haben.”
„Sie meinen, es könnte schlimmer sein?”
„Oh ja.”
Ihm fiel noch eine ganz andere Frage ein. „Verzeihen Sie meine Neugier, aber wie kommt es eigentlich, dass Sie noch hier sind? Ich meine, erwartet Sie nicht jemand in London, oder Ihre Arbeit dort?”
Sie schüttelte den Kopf. „Ich hatte ohnehin Urlaub. Und dann wurde aufgrund der Seuche der Luftschiffverkehr gesperrt und soweit ich weiß kurz darauf auch der Passagierschiffsverkehr in die Nachbarländer. Da habe ich zwei Telegramme nach London geschickt, eines an meine Eltern und eines an meinen Arbeitgeber. Davon einmal abgesehen wollte ich meine Hilfe anbieten, wegen des Heilmittels.”
Sie zögerte, eh sie weitersprach. „Und ich … ich habe mir Sorgen um Sie gemacht. Ich wollte Sie nicht allein lassen.”
Mit einem Mal blieben ihm die Worte im Hals stecken. Er brachte nur ein „Danke” heraus, doch sie schüttelte lächelnd den Kopf.
„Wir kennen uns noch nicht lange, aber ich mag Sie, Eliott. Und der Gedanke, dass Sie vielleicht wie manch anderer Unglückselige an dieser Seuche hätten umkommen können, hat mich nachts oft nicht schlafen lassen.”
Ihre Worte rührten ihn mehr, als er jemals zugegeben hätte. Sie ließen ihn auch an seine eigene Angst vor dem Sterben denken und an all die Pläne, die er noch für sein Leben hatte. All die ungelebten Träume.
„Amrita, ich weiß nicht, wie ich das ausdrücken soll … ich bin kein Mann von großen Worten. Aber ich hatte ebenfalls Angst zu sterben, das muss ich zugeben. Diese vermaledeite Krankheit hat mir gezeigt, wie schnell das Leben zu Ende sein kann. Aber ich hoffe, dass es mir dank des Heilmittels bald besser geht. Und wenn es so ist und wir wieder in London sind … würden Sie, ich meine …”
Er stockte, brauchte einen Moment, um seinen Mut zusammenzunehmen. „Würden Sie einmal mit mir ausgehen?”, brachte er schließlich hervor.
Ihr Lächeln vertiefte sich, ihre Zähne glänzten in dem Zwielicht, das nur von den Kerzen im Raum beleuchtet wurde. Sie legte eine Hand auf seine und sah ihn direkt an. „Das würde mich sehr freuen.”
Er hätte sie ewig anschauen mögen, diese wunderbaren dunklen Augen ... Eliott wurde bewusst, dass er sie immer noch anstarrte. Er räusperte sich. „Das freut mich ebenfalls sehr. Wenn das keine Motivation für mich ist, wieder schnell gesund zu werden.”
Sie lächelte ihn an und ihm wurde warm ums Herz. Es war nicht jene seltsame Hitze, die mit seiner Krankheit einher gegangen war, eher eine sanfte Glut, die sein Inneres erfüllte. Zum ersten Mal seit langer Zeit blickte er seiner Zukunft mit Hoffnung entgegen.