Sie wollen ihn mit dem Monster nicht ins Gebäude lassen, es gibt einen lautstarken Wortwechsel, bis Martin gerufen wird und zur Pforte kommt. Wo Elvis Hudlicka steht mit seinem Hund an der Leine. Eigentlich mehr ein Kalb. Das Tier darf nicht in die Polizeidirektion, und Elvis weigert sich, ihn draußen vor der Tür anzubinden.
»Sie müssen ihn doch kennenlernen, Herr Chefinspektor, damit Sie sehen, dass Schnecki keiner Maus was zuleide tut.« Elvis lächelt seinem Hund zu, der versucht, wie ein putziger Pudel auszusehen, was nicht wirklich gelingt. »Ich habe ihn gerettet, nachdem sie ihn ausgesetzt hatten, die bösen Menschen, einfach auf der Straße aus dem Auto geworfen. Verletzt war er und halb verhungert, als ich ihn gefunden hab. Hat sich ganz klein gemacht, als ob er sich in ein Schneckenhaus verkriechen wollte. Also hab ich ihn ›Schnecki‹ getauft. Er ist ein ganz lieber Kerl, das sehen Sie doch auf den ersten Blick.«
»Tiere dürfen hier nicht rein«, wiederholt der Pförtner zum x-ten Mal. »Vorschrift ist Vorschrift, ganz wurscht, wie liab das Viecherl ist.«
Martin löst das Dilemma, indem er Elvis vorschlägt, dass sie gemeinsam hinausgehen, ein Stück spazieren, dabei könnten sie ja auch reden, und sowieso sei das so ein Bagatellfall, dass jedes Blatt Papier verschwendet sei. Martin sieht nach draußen: Sonnenstrahlen und Frühlingsgefühle. An so einem Tag ist die fensterlose Kammer fast schon Folter. Da kommt ihm der Mann mit Hund gerade recht.
Elvis und Schnecki sind sofort einverstanden. Der Portier schaut ihnen nach und denkt, dass der Chefinspektor nicht zu Unrecht in den Katakomben unten sitzt. Der Glück pfeift doch auf alle Vorschriften, und wenn das jeder tät, gäb es nix als Chaos. Dem österreichischen Beamten ist Chaos ein Gräuel, naturgemäß. Weshalb er den Chefinspektor nur noch sehr knapp grüßt, wenn der an ihm vorbeischlendert. Der Glück ist auch bei den Kollegen nicht sehr beliebt. Mehr so ein Einzelgänger. Und wer, bitte schön, ist so deppert, seinem Chef eine zu tuschen?
Martin und Elvis gehen in Richtung Gmeiner-Park, und Elvis erzählt, dass er sein Tierheim vor vier Jahren gegründet hat. Es finanziert sich aus Spenden, und Sissy Wallner war seine größte Gönnerin. Was für eine Rasse der Schnecki sei? Na, so genau wüsst er’s nicht, aber ein Irischer Wolfshund sei bestimmt dabei gewesen.
Die Leute auf dem Gehsteig weichen ein Stück aus, wenn sie an »Schnecki« vorbeimüssen. Elvis lächelt dann, und Martin denkt, dass der große Hund seinem Herrn so was wie Bedeutung verleiht. Elvis ist klein und zierlich, mit langen Haaren, die die abstehenden Ohren nicht gänzlich verbergen. Irgendwie strahlt er was Trauriges aus, eine Melancholie der hängenden Schultern, denen die Welt zu schwer geworden ist.
Martin hat das Gefühl, dass Elvis Tiere näher sind als Menschen: »Sie müssen sich nicht mehr sorgen wegen dieses Vorfalls. Ich habe mit dem Opfer telefoniert, als ich die Akte auf den Tisch bekam. Da war der schon nicht mehr so hysterisch. Kein Schmerzensgeld, und er verlangt auch nicht mehr, dass Schnecki eingeschläfert wird. Das Einzige, was Sie tun müssen, damit die Sache vom Tisch kommt: sein Jackett bezahlen, weil der Riss am Ärmel halt nicht zu reparieren sei.«
»Er ist selber schuld«, sagt Elvis. »Der Hund wollte mich nur verteidigen, weil der auf mich losgegangen ist. Und er hat ihn grad so gestreift. Ich mein, wenn Schnecki richtig zugebissen hätt, wär der Arm weg gewesen.«
Na, ein bisserl fester hätt er schon zubeißen können, der Hund. Martin lächelt Hund und Herrchen an, und Schnecki versucht immer noch, wie ein Unschuldslamm auszusehen. »Sag ich doch, eigentlich ist nix passiert.«
»Und was soll das Jackett kosten?«
»Achthundert Euro.«
»Ui.« Elvis stolpert beinahe. »So viel Geld hab ich grad nicht.«
»Aber bald«, sagt Martin. »Sie erben von Ihrer Gönnerin ein halbes Palais, das ist zig Millionen wert. Können Sie sich nicht von jemandem was leihen?«
Elvis hebt die schmalen Schultern ein Stück nach oben. »Ich hab keine Familie mehr. Die Eltern sind auch tot. Ich hab nur meine Hunde. Und Max vielleicht. Wer sollte mir also Geld leihen?«
»Ich werde mit dem Adelmauseder reden, vielleicht lässt er mit sich handeln. War ja nicht mehr neu, das Jackett. Und wer ist Max?«
Durch den Hermann-Gmeiner-Park, früher Börsepark, ziehen sich auf den Wegen Schriften, die eine jüdische Geschichte erzählen. Martin liest im Vorbeigehen, sie steuern auf die Westseite zu, jenseits des großen, lärmerfüllten Kinderspielplatzes.
Elvis sieht schon ein bisserl entspannter aus: »Max Rainer. Er studiert Tiermedizin. Die Sissy hat uns bekannt gemacht vor einem Jahr ungefähr. Seither hilft mir Max mit den Hunden, er behandelt sie umsonst. Max ist ja fast fertig, na und jetzt hat er zwei Millionen geerbt, das hat er sich wirklich verdient.«
»Warum eigentlich?«
»Weil er ein guter Mensch ist«, antwortet Elvis. Seiner Meinung nach gibt es nicht viele von denen. Aber wen interessiert schon seine Meinung? Also redet er lieber mit seinen Hunden, die hören ihm aufmerksam zu und verstehen ihn.
»Aber deshalb erbt man nicht!«
Elvis steuert auf eine Ruhebank zu. Aus der großen Tasche holt er eine Flasche Wasser, schüttet etwas in seine zur Schale geformte Hand und lässt Schnecki daraus schlürfen. Martin setzt sich dazu, blinzelt in die Frühlingssonne. Erst als der Hund getrunken hat, antwortet Elvis.
»Warum nicht? Die Sissy hat es gesehen. Sie war ja auch ein guter Mensch. Sie liebte Hunde. Leider sind ihre beiden Möpse gestorben. Ich wollt so gern, dass sie ein Hunderl aus dem Asyl nimmt, aber Sissy war auf Möpse fixiert. Trotzdem hat sie reichlich gespendet, dafür ist sie sicher in den Himmel gekommen.«
Elvis richtet seinen Blick nach oben, als könnte er sie dort sehen, aber da ist nur strahlendes Blau. »Max ist außerdem der Enkel von Sissys Jugendliebe. Als sie mit Casanova in der Tierklinik war, hat sie Max getroffen und … na ja, er sieht wohl seinem Großvater sehr ähnlich …«
Casanova? Max denkt an die Adelmaus, aber was haben die beiden dann in der Tierklinik gemacht?
»Casanova hieß der Mops«, erklärt Elvis. »Max hat sich aufopfernd um ihn gekümmert, aber das Tier ist trotzdem gestorben. War unter ein Auto gekommen, weil irgendeine blöde Trutschn nicht aufgepasst hat!«
Das erste Mal, dass Elvis’ Stimme nicht sanft und leise klingt. Eher böse und rachsüchtig. Diese andere Seite, die jeder in sich trägt, denkt Martin. »Hat Max eigentlich gewusst, dass er so viel erben wird?«
Elvis sieht ihn von der Seite an und entscheidet dann, dass der Chefinspektor Glück zu den Guten zählt: »Ja, schon. Beim Begräbnis von Casanova hat sie ihm gesagt, dass er Millionär wird, wenn sie einmal nicht mehr ist. Aus Zuneigung zu seinem Großvater und als Dank für alles, was er für ihren Mops getan hat. Max war das richtig peinlich damals, aber Geld, hab ich zu ihm gesagt, kann doch nie schaden. Man kann so viel Gutes damit tun. Wenn ich die Erbschaft kriege, werde ich ein neues und größeres Domizil für meine Hunderl kaufen.« Er streichelt Schneckis Kopf: »Gell, das wird schön für euch. Wie im Paradies.«
Der Hund sieht seinen Herrn dankbar an, als ob er verstanden hätte. Was natürlich Blödsinn ist, denkt Martin. Ob Elvis eine Freundin hat? Es geht ihn nichts an, aber er fragt trotzdem.
Elvis sieht zu Boden, als er leise antwortet: »Ich hab keine Freunde außer Max, und eine Freundin hab ich auch nicht. Aber meine Hunde hab ich, die sind mir eh das Liebste. Ich hätte da übrigens schon ein Gelände für ein größeres Tierheim in Aussicht. Da müsste ich aber bald zuschlagen. Vielleicht kann ich bei der Bank fragen, ob sie mir auf die Erbschaft einen Kredit geben? Wie lange kann das mit der Auszahlung der Erbschaft denn dauern?«
»Keine Ahnung. Ein halbes Jahr bestimmt, wenn nicht mehr. Eine Freundin von mir ist unter den Erben. Romana Petuschnigg, kennen Sie die?«
»So eine rothaarige Alte?«
Oh, wenn Romana das hören würde, er hätte eine lebenslange Feindin. Martin nickt nur.
»Der Max hat auch eine rothaarige Freundin«, sagt Elvis. »Sie ist Schauspielerin, ziemlich bekannt sogar. Bea Martini. Einmal hat sie ihn begleitet, als Max ins Asyl kam, um Molly zu behandeln. Ich kann sie nicht leiden. Bea ist arrogant, redet zu laut und mag Hunde nicht besonders. Eine Katzenfrau, wenn sie überhaupt was für Tiere übrighat. Ich hoffe für Max, dass sie ihn bald verlässt.«
Einen künftigen Millionär sicher nicht, denkt Martin. Er kennt Bea Martini aus den Klatschspalten, einmal hat er sie in der Burg gesehen. Sie ist wirklich sehr hübsch, aber er fand auch, dass ihre Stimme unangenehm war. Zu schrill. Vermutlich eine schöne Hysterikerin, denkt Martin, manche Männer stehen auf so was. Er nicht.
Elvis sieht auf seine Plastikuhr: »Oh, ich muss los, die Hunde füttern. Rufen Sie mich an, wie viel das Jackett kostet? Ich überweise es dann diesem … Herrn.«
»Mach ich, ich schick Ihnen auch das Gesprächsprotokoll zu, und Sie unterschreiben und retournieren es bitte. Damit alles seine Ordnung hat. War eigentlich Ihre Mutter oder Ihr Vater Elvis-Fan?«
Elvis hält sich an Schnecki fest, und sein Gesicht wird maskenhaft. »Beide. Sie waren auch beide Alkoholiker, ich könnte nicht sagen, wer von ihnen schlimmer war. Ich hatte sicher keine glückliche Kindheit. Mit sechzehn bin ich dann von zu Hause abgehauen, aber das war eigentlich viel zu spät … Ich hasse Alkohol. Und Drogen!«
Martin wünscht sich, er hätte nicht gefragt. Seine verdammte Neugierde und sein Hang, sich einzumischen. Weshalb er ja auch Kriminaler geworden ist. »Das tut mir leid«, sagt er, was Besseres fällt ihm nicht ein. Er denkt, dass sicher niemand eine perfekte Kindheit hat, aber seine war ganz in Ordnung, obwohl die Eltern oft gestritten haben. »Wie gut, dass Sie Ihre Hunde haben«, sagt er zu Elvis, ein Satz, der tröstend gemeint ist.
Elvis lächelt. »Ja, ich weiß.« Sie sind keine Rettung, das ist ihm schon klar. Aber ein Grund, weiterzuleben.
Sie stehen beide auf und verlassen den Park, Elvis mit Schnecki in Richtung Straßenbahn, und Martin macht sich auf den Weg zurück in sein Kellerstüberl. Ein Frühlingstag in Wien, sonnenverliebt, denkt er. Blühende Zierkirschen- und Magnolienbäume, Krokusse und Narzissen, ausgelassene Kinder am Spielplatz und der Verkehrslärm der Ringstraße. Ein beinahe vollkommener Tag, an dem man einfach glücklich sein könnte.