Kapitel 16

Romana entschwindet mit dem Taxi in Richtung Zentrum. Von Schweindi alias Alex musste sie sich vorerst schweren Herzens verabschieden. Den Hund werden sie am nächsten Tag abholen. Besser so. Denn wie Romana Martin gestanden hat, wissen Lotte und ihre WG noch nichts von dem neuen Mitbewohner. Auch wenn sie bis zu ihrer Abreise nach Kärnten nur noch kurze Zeit mit ihrem Vierbeiner dort logieren wird, sollte doch ein gewisses Einverständnis vorhanden sein. Was bei einem herzigen kleinen Hund wie diesem kein Problem sein dürfte. Sagt Romana.

Als Martin zu seinem Auto kommt, stößt seine prinzipielle Tierliebe an ihre Grenzen. Ein Vogel hat den Fahrersitz seines offenen VW als Toilette missbraucht. Fluchend säubert Martin ihn mit einem Glasreiniger, den er im Kofferraum hat, und legt ein ebenfalls dort verwahrtes Plastiksackerl darüber, auf das er sich dann setzt.

Während der kurzen Fahrt in die Etrichstraße überlegt er, dass man nicht unbedingt von Fremdverschulden ausgehen muss, wenn einer wie René Burgstaller eine Überdosis abbekommt. Sein Bauchgefühl schreit andererseits schon wieder »Mord!«. Allzu viele Leute hätten ja wohl ein Motiv, den erpresserischen Junkie ins Jenseits zu befördern.

 

***

 

In seiner Kindheit und Jugend hat Martin viele Sozialwohnungen von innen gesehen. Die meisten seiner Fußballfreunde haben in solchen Gemeindebauten gewohnt. Er konnte daran nie etwas Schlechtes oder Trostloses entdecken. Kleiner waren die Wohnungen halt und niedriger als die Altbauwohnung seiner Eltern. Lustiger war es dort sowieso. Denn in den meisten dieser Anlagen gab es große Wiesen und jede Menge Platz zum Kicken. Ein bisschen gefürchtet bei den Kindern war die jeweilige Hausmeisterin, der nichts entging und die streng darauf achtete, dass alles seine Ordnung hatte.

Dagegen sind viele der heutigen Gemeindebauten Monstersiedlungen ohne Fußballfelder und ohne Hausmeister. Die wurden von Reinigungsfirmen abgelöst. Jetzt gibt es dort vor allem billigen Wohnraum, dessen Vermietung allerdings auch von Beziehungen und vom Parteibüchel abhängt.

Als er das Haus in der Etrichstraße betritt, umfängt ihn gleich die Trostlosigkeit eines heruntergekommenen Gemeindebaus. Martin versucht, so rasch wie möglich, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, in den zweiten Stock zu gelangen und die Umgebung auszublenden. Aus einer Wohnung hört man einen Mann und eine Frau streiten, aus der nächsten die Klospülung. Rap-Musik hämmert bis ins Treppenhaus. Dünne Wände, Scheißakustik und Menschen, die auf Rasierklingen balancieren.

Von Stufe zu Stufe wächst Martins Mitleid mit René Burgstaller. Aufgewachsen auf der Seite Wiens, die nicht viele Chancen vergibt. Und wenn ein Batzen Geld als Fahrkarte in ein besseres Leben winkt … wer weiß schon, was einer dafür tun würde? Aber jetzt ist er selbst tot, der René. Unfall oder Mord?

»Chefinspektor Glück?«, fragt der Mann in Rettungsuniform, der ihm vor der Wohnungstür der Burgstallers entgegenkommt.

Martin nickt und zeigt seinen Ausweis.

»Ihr Kollege Fassbender hat Sie schon angekündigt. Der Tote liegt in der Küche. Wir wurden anonym verständigt, dass man hier die Rettung braucht. Aber da war nix mehr zu machen. Ziemlich klar eine Überdosis. Spritze liegt daneben, und die Einstichstelle ist gut erkennbar. Aber dafür ist ja Ihr Gerichtsmediziner zuständig. Ich hab unseren Teil protokolliert. Wenn’s recht ist, gehen wir jetzt.«

Martin hält den Mann, der es eilig hat, zurück: »Eine Frage noch: Wer hat den Anruf entgegengenommen?«

»Jemand von der Notrufzentrale. Soll ich nachfragen?«

»Ja, das könnte für uns ein wichtiger Hinweis sein. Fragen Sie bitte, wer angerufen hat – ein Mann oder eine Frau, ältere oder junge Stimme, Akzent, auffallendes Verhalten und so weiter.«

Während der Rettungshelfer telefoniert, betritt Martin die kleine verwahrloste Wohnküche. Geschirr, das sich in der Abwasch türmt und schon Schimmel angesetzt hat, eine alte Schreibmaschine auf dem Küchentisch, ein umgeworfener Sessel. Daneben liegt René gekrümmt auf dem Fußboden.

Martin beugt sich über den jungen Mann, den sie vor Kurzem noch als Verdächtigen verhört haben und den er pampig bis zornig in Erinnerung hat. Es passiert in seinem Job eher selten, dass man ein Opfer persönlich kennt. Der war kein wirklich schlechter Kerl, denkt er, halt einer, dem das Leben und die Umstände über den Kopf gewachsen sind. Es ist immer eine Tragödie, wenn ein junger Mensch stirbt. Daran wird er sich nie gewöhnen. Auch wenn René ganz friedlich aussieht, fast ist das ein Lächeln in seinem Gesicht.

Martin wendet sich von dem Toten ab und geht durch die kleine Wohnung. Vorzimmer, Wohnküche, Schlafnische, Bad und Klo. Das Ganze sicher nicht größer als fünfunddreißig Quadratmeter. Also etwa halb so groß wie Larissas Designer-Wohnzimmer.

Inzwischen hat der Rotkreuzmann sein Telefonat beendet. »Die in der Zentrale haben mir gesagt, es war ein Mann, der angerufen hat. Vor genau siebenundvierzig Minuten. Er hat ein bissel hochtrabend und geschwollen geredet und war ziemlich aufgeregt. So mittleres Alter, denken die. Seinen Namen wollte er nicht nennen. Die Nummer war unterdrückt.«

Martin bedankt sich, und die Rettungstruppe zieht ab. Er streift Handschuhe über, um eventuell vorhandene Fingerabdrücke nicht zu zerstören, und setzt seinen Kontrollgang durch die Wohnung fort. Auf dem Couchtisch ein Laptop und eine leere Wodkaflasche, daneben Reste weißen Pulvers – Koks vermutlich –, auf dem Fußboden ein Berg schmutziger Wäsche, am Fenstergriff hängt ein Missoni-Bademantel in leuchtenden Farben. Eine Hinterlassenschaft der Mutter?

Der Fernsehapparat ist riesig und offenbar neu. Daneben ein Videorecorder, auf dem ein kleiner Stapel von maschinenbeschriebenen Papieren liegt. Martin liest quer und erkennt Marias als Liebesromane getarnte Erpressungsgeschichten. Er rollt sie zusammen und steckt sie in die große Innentasche seiner Lederjacke. Vielleicht findet sich darin ein Hinweis auf Marias – und Renés? – Mörder. Andererseits: Wenn ein und dieselbe Person Maria und René auf dem Gewissen hat, warum hat er oder sie die belastenden Manuskripte nicht mitgenommen? Wurde der Täter gestört? Oder war es doch eine Überdosis?

Unter dem Papierstapel kommt eine Videokassette zum Vorschein. Ein Porno: Alma vögelt auf der Alm. Er beachtet sie zunächst kaum. Doch nach einer neuerlichen Runde durch die kleine Wohnung kehrt er zur Kassette zurück. Irgendetwas stimmt da nicht. Warum sollte René sich einen Porno auf einem uralten Video anschauen, wo das Internet in dieser Richtung doch wesentlich mehr zu bieten hat? Er nimmt die Kassette zur Hand, beäugt sie näher. Nichts Auffälliges, außer dass ihm die nackte Frau auf dem Cover vage bekannt vorkommt.

Da läutet es an der Tür. Fassl und seine Leute, denkt Martin, während er öffnet.

Vor ihm steht mit Kopftuch und Sonnenbrille die ältere Ausgabe jener Alma, die auf der Alm …

Hinter ihr der Adelsfuzzi in sommerlichem Leinenanzug. Der Abscheu vor dem Ambiente steht ihm ins Gesicht geschrieben.

Aus der Tasche seines Sakkos holt Edgar ein Fläschchen Handdesinfektion, aus dem er sich reichlich bedient. Im Gegensatz zu Alma, die Martin fragend ansieht, scheint die Adelmaus von dessen Anwesenheit wenig überrascht.

»Was machen Sie hier beim René, Herr Chefinspektor Glück?«, fragt Alma.

»Und Sie beide?«, gibt Martin die Frage zurück.

»Wir wollten nur schnell etwas abholen. Wir sind mit ihm verabredet.«

»Ich habe Frau Alma meine Begleitung angeboten. Eine Dame kann doch nicht ohne Schutz so ein Haus betreten«, wirft Edgar ein.

»Ist René da? Oder haben Sie ihn womöglich verhaftet?« Alma versucht, über Martins Schulter in die Wohnung zu schauen, ihr Blick bleibt schließlich an der Kassette in Martins Hand hängen.

»Suchen Sie vielleicht das?« Er kann sich eines wahrhaft schmutzigen Grinsens nicht enthalten.

Die Adelmaus tritt ein paar Schritte zurück, ganz Diskretion – oder Feigheit. Alma errötet, was Martin schon wieder putzig findet.

»Ja, also, ich meine, Sie dürfen von mir jetzt nicht denken, dass … also wenn man jung ist und als Schauspielerin Geld braucht, das machen ja die meisten.«

»Schon gut«, sagt Martin. »Ich bin ja kein Moralapostel. Sondern auf Mord spezialisiert«, fügt er mit Blick auf Edgar hinzu.

Der schaut auf Martin herab. Er ist größer, das auch. Arroganter, aber das ist teilweise Show. Hier und jetzt fühlt er sich höchst unwohl. Und der Bulle hat so einen starren, gemeinen Blick.

»Haben Sie René umgebracht, als Sie vor einer Dreiviertelstunde hier waren?«, setzt Martin einen überraschenden Schachzug.

Edgar sieht ihn verblüfft an und hustet dann in ein Taschentuch mit bestickten Initialen. Er wünscht sich weit weg – nach Monte Carlo zum Beispiel oder zur Not auch Ibiza.

In dem Moment hat Alma den Toten entdeckt, zumindest seine Füße, und schreit filmreif auf.

»Was ist denn hier los?«, poltert Franz Fassbender, der sich mit Kollegen von der Spurensicherung und dem Gerichtsmediziner in die Wohnung drängt. Edgar sieht seine Chance zum geordneten Rückzug übers Treppenhaus. Doch Martin folgt ihm.

»Er war schon tot, als ich kam! Das müssen Sie mir glauben«, flüstert Edgar plötzlich mit leicht zitternder Stimme. »Und dann lag da auch diese Spritze. Also ich hab nichts angegriffen, ehrlich nicht. Sondern rasch die Rettung gerufen.«

»Ich könnte Sie wegen Behinderung der Ermittlung in einem Todesfall verhaften lassen«, sagt Martin streng. Ist zwar Blödsinn, macht aber Spaß. Er steht nun eine Stufe über der Adelmaus und ist gleich groß. Fühlt sich größer. »Sie können jetzt gehen, aber morgen um zehn will ich Sie beide im Büro von Leutnant Fassbender sehen, Herr Siebers-Adelmauseder. Ach ja, die Kassette müssen wir vorerst als Beweisstück behalten.«

Alma hat das gehört. Sie schluckt, doch sie senkt züchtig die Augen und hakt sich bei ihrem Begleiter unter. Die Film­ohrfeige, die sie ihm im Kameel demonstrieren wollte, ist ein bisserl fest ausgefallen. Aber er hat ihr verziehen, weil er ein Gentleman ist.

Aus dem Stiegenhaus hört man bis in die Wohnung seine Stimme: »Man soll an dieses Milieu gar nicht anstreifen, liebe Alma. Wenn ich mir vorstelle, dass die Frau Maria hier gehaust hat … Nein! Wie schrecklich! Wer weiß, welche Keime sie zu uns getragen hat. Nicht auszudenken, dass sie womöglich auch noch das halbe Palais geerbt hätte. Da ist es schon gut, dass höhere Mächte sie auf ihren Platz verwiesen haben.«

Dann fällt unten die Haustür zu. Martin informiert Franz, die Kollegen sichern Spuren, der Gerichtsmediziner untersucht die Leiche. Franz kaut an einer mitgebrachten Extrawurstsemmel, nach der Wasserleiche ist diese hier geradezu appetitanregend.

Als Martin sich überflüssig fühlt und sich verabschiedet, trifft er im Erdgeschoß auf eine Frau Mitte fünfzig, die hinter einer halb geöffneten Wohnungstür hervorschaut. Sie hätte in früheren Zeiten eine klassische Hausmeisterin abgegeben, denkt er. Dem Klischee nach wäre diese tüchtig, goschat bis gemein, unerschrocken und extrem neugierig gewesen.

Martin grüßt, was sie ermutigt, herauszukommen und ein Gespräch anzufangen. »So tragisch!«

Martin bleibt stehen, lächelt einladend. »Was ist tragisch, gnä’ Frau?«

Sie zündet sich genüsslich eine Zigarette an und bläst ihm den Rauch ins Gesicht. Die klassische Hausmeisterin hat nicht einmal Angst vor den Kieberern. »Na des mit dem René. Hot er si totg’spritzt?« Angewidertes Seufzen.

»Wieso glauben Sie, dass dem Herrn Burgstaller was passiert ist?«

Die Frau schnaubt verächtlich. »I bin ja net auf der Nudelsuppn daherg’schwommen. Z’erst die Rettung, dann gehn die weg ohne wem, dann kummt die Polizei. Da kann i zwa und zwa z’sammzählen. Alles klar, Herr Kommissar?«

Falco lebt. »Haben Sie den Herrn Burgstaller gut gekannt?«

»Na sicher, und die arme Mama von ihm aa. Die jungen Leit von heut haben’s einfach zu guat, sonst kämen s’ net auf die Idee mit die Drogen. Sollten liaber arbeiten gehen. A Schand is des. Z’erst des Madl, und jetzt der René.«

Martin ist ganz Ohr: »Welches Mädchen?«

»Na, die Freundin von dem René. A fesches Madl. Schod drum. Die is doch erst vor a paar Monat in der Wohnung von der Burgstaller an aner Überdosis g’storben.«

Elektrisiert: »Wann denn genau? War die Polizei da?«

»Sowieso waren welche von euch Kieberer da. Haben eh ermittelt, so heißt des doch, oder?«

Martin nickt.

»Muass so vor Weihnachten g’wesen sein. Na ja, und dann vor Kurzem erst der U-Bahn-Bumserer von der Burgstaller, und jetzt der Bua. Alle san s’ tot.« Nach einem pietätvollen Seufzer: »Bin scho neugierig, wem die Wohnung jetzt zuateilt wird. Hoffentlich niemand mit klane Kinder.«

Das goldene Wiener Herz, denkt Martin nicht zum ersten Mal seit seiner Rückkehr aus der Provinz. »Sie wissen nicht zufällig, wie die Tote g’heißen hat?«

»Hat sich mir net vorg’stellt«, schnappt sie und schaut vorwurfsvoll auf den Tschick, der fast runtergebrannt ist. Die Audienz ist beendet, sie nickt abschließend und wirft ihre Wohnungstür vor ihm zu.

»Dank schön für das Gespräch«, sagt Martin zur geschlossenen Tür, bevor er pfeifend aus dem Haus geht. Irgendwas sagt ihm, dass sie eine heiße Spur haben. Was nach drei Toten aber auch an der Zeit ist.